nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Wed Nov 25 00:49:22 1998
 

Postskriptum über die Kontrollgesellschaften
Gilles Deleuze

( I. historik / II. logik / III. programm )

 

I. Historik
 

Foucault hat die Disziplinargesellschaften dem 18. und 19. Jahrhundert zugeordnet; sie erreichen ihren Höhepunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nun werden die großen Einschließungs-Milieus organisiert. Das Individuum wechselt immer wieder von einem geschlossenen Milieu zum nächsten über, jedes mit eigenen Gesetzen: zuerst die Familie, dann die Schule ("du bist hier nicht zu Hause"), dann die Kaserne ("du bist hier nicht in der Schule"), dann die Fabrik, von Zeit zu Zeit die Klinik, möglicherweise das Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin. Das Gefängnis dient als Analogie: Wenn die Heldin in Europa 51 Arbeiter sieht, kann sie ausrufen: "Ich glaubte Verurteilte zu sehen ... "

Das ideale Projekt der Einschließungsmilieus, das in der Fabrik besonders deutlich sichtbar ist, wurde von Foucault sehr gut analysiert: konzentrieren; im Raum verteilen; in der Zeit anordnen; im Zeit-Raum eine Produktivkraft zusammensetzen, deren Wirkung größer sein muß als die Summe der Einzelkräfte. Foucault wußte jedoch ebenfalls um die kurze Dauer dieses Modells: es folgte auf die Souveränitätsgesellschaften, die ganz andere Ziele und Funktionen hatten (abschöpfen eher als die Produktion organisieren, über Leben und Tod entscheiden eher als das Leben verwalten); der Übergang vollzog sich schrittweise, und Napoleon hat anscheinend die endgültige Umwandlung der einen Gesellschaftsform in die andere bewerkstelligt. Aber die Disziplinierungen gerieten ihrerseits in eine Krise, zugunsten neuer Kräfte, die sich langsam formierten und sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasant entwickeln sollten: Die Disziplinargesellschaften, da gehörten wir schon nicht mehr dazu, wir waren schon dabei, sie zu verlassen.

Wir befinden uns in einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie. Die Familie ist ein "Heim", es ist in der Krise wie jedes andere Heim, ob schulisch, beruflich oder sonstwie. Eine Reform nach der anderen wird von den zuständigen Ministern für notwendig erklärt: Schulreform, Industriereform, Krankenhausreform, Armeereform, Gefängnisreform. Aber jeder weiß, daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben. Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen. "Kontrolle" ist der Name, den Burroughs vorschlägt, um das neue Monster zu bezeichnen, in dem Foucault unsere nahe Zukunft erkennt. Auch Paul Virilio analysiert permanent die ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die die alten - noch innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems operierenden - Disziplinierungen ersetzen. Es ist nicht nötig, die außergewöhnlichen Pharmaerzeugnisse anzuführen, die Nuklearformationen, Genmanipulationen, auch wenn sie dazu bestimmt sind, in den neuen Prozeß einzugreifen. Es ist nicht nötig zu fragen, welches das härtere Regime ist oder das erträglichere, denn in jedem von ihnen stehen Befreiungen und Unterwerfungen einander gegenüber. In der Krise des Krankenhauses als geschlossenem Milieu konnten zum Beispiel Sektorisierung, Tageskliniken oder häusliche Krankenpflege zunächst neue Freiheiten markieren, wurden dann aber Bestandteil neuer Kontrollmechanismen, die den härtesten Einschließungen in nichts nachstehen. Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.

 

II. Logik
 

Die verschiedenen Internate oder Einschließungsmilieus, die das Individuum durchläuft, sind unabhängige Variablen: dabei wird davon ausgegangen, daß man jedesmal wieder bei Null anfangen muß; zwar gibt es eine gemeinsame Sprache dieser verschiedenen Milieus, aber sie ist analogisch. Dagegen sind die verschiedenen Kontrollmechanismen untrennbare Variationen, die das System einer variablen Geometrie mit numerischer (das heißt nicht notwendigerweise binärer) Sprache bilden. Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gußformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gußform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum an deren variieren. Das zeigt sich an der Frage der Löhne: Die Fabrik war ein Körper, der seine inneren Kräfte an einen Punkt des Gleichgewichts brachte, mit einem möglichst hohen Niveau für die Produktion, einem möglichst tiefen für die Löhne; in einer Kontrollgesellschaft tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das Unternehmen, und dieses ist kein Körper, sondern eine Seele, ein Gas. Gewiß war auch in der Fabrik schon das System der Prämien bekannt, aber das Unternehmen setzt eine viel tiefergreifendere Modulation jedes Lohns durch, in Verhältnissen permanenter Metastabilität, zu denen äußerst komische Titelkämpfe, Ausleseverfahren und Unterredungen gehören. Die idiotischsten Spiele im Fernsehen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie die Unternehmenssituation adäquat zum Ausdruck bringen. Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen, zum zweifachen Vorteil des Patronats, das jedes Element in der Masse überwachte, und der Gewerkschaften, die eine Widerstandsmasse mobilisierten; das Unternehmen jedoch verbreitet ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet. Das modulatorische Prinzip des "Lohns nach Verdienst" verführt sogar die staatlichen Bildungseinrichtungen: Denn wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab, und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. Das ist der sicherste Weg, die Schule dem Unternehmen auszuliefern.

In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht. Kafka, der schon an der Nahtstelle der beiden Gesellschaftstypen stand, hat im Prozeß die fürchterlichsten juristischen Formen beschrieben: Der scheinbare Freispruch der Disziplinargesellschaften (zwischen zwei Einsperrungen) und der unbegrenzte Aufschub der Kontrollgesellschaften (in kontinuierlicher Variation) sind zwei sehr unterschiedliche juristische Lebensformen. Und wenn unser Recht schwankend ist und sich in der Krise befindet, so liegt das daran, daß wir die eine verlassen haben und in die andere eintreten. Die Disziplinargesellschaften haben zwei Pole: die Signatur, die das Individuum angibt, und die Zahl oder Registrierungsnummer, die seine Position in einer Masse angibt. Denn für die Disziplinierungen bestand nie eine Inkompatibilität zwischen beidem, die Macht ist gleichzeitig vermassend und individuierend, das heißt konstituiert die, über die sie ausgeübt wird, als Körper und modelt die Individualität jedes Glieds dieses Körpers (Foucault sah den Ursprung dieser doppelten Sorge in der pastoralen Macht des Priesters - die gesamte Herde und jedes einzelne Tier; die weltliche Macht sollte sich ihrerseits bald mit anderen Mitteln zum Laien-"Hirten" machen). In den Kontrollgesellschaften dagegen ist das Wesentliche nicht mehr eine Signatur oder eine Zahl, sondern eine Chiffre. Die Chiffre ist eine Losung, während die Disziplinargesellschaften durch Parolen geregelt werden (unter dem Gesichtspunkt der Integration, aber auch des Widerstands). Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind »dividuell« geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder »Banken«. Vielleicht kommt im Geld noch am besten der Unterschied der beiden Gesellschaften zum Ausdruck, weil die Disziplin immer im Zusammenhang mit geprägtem Geld stand, zu dem das Gold als Eichmaß gehört, während die Kontrolle auf schwankende Wechselkurse, auf Modulationen verweist, die einen Prozentsatz der verschiedenen Währungen als Eich-Chiffre einführen. Der alte Geldmaulwurf ist das Tier der Einschließungs-Milieus, während das der Kontrollgesellschaften die Schlange ist. Der Übergang von einem Tier zum anderen, vom Maulwurf zur Schlange, ist nicht nur ein Übergang im Regime, in dem wir leben, sondern auch in unserer Lebensweise und unseren Beziehungen zu anderen. Der Mensch der Disziplinierung war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn. Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst.


Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesellschaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen. Die alten Souveränitätsgesellschaften gingen mit einfachen Maschinen um: Hebel, Flaschenzüge, Uhren; die jüngsten Disziplinargesellschaften waren mit energetischen Maschinen ausgerüstet, welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage mit sich brachten; die Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden. Es ist nicht nur eine technologische Entwicklung, sondern eine tiefgreifende Mutation des Kapitalismus. Eine Mutation, die inzwischen gut bekannt ist und sich folgendermaßen zusammenfassen läßt: Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ist einer des Eigentums und, was die Produktion betrifft, der Konzentration. Er errichtet also die Fabrik im Milieu der Einschließung, wobei der Kapitalist Eigentümer der Produktionsmittel, aber eventuell auch Eigentümer anderer Milieus ist, die analog konzipiert sind (das Heim des Arbeiters, die Schule). Was den Markt angeht, so wird er manchmal durch Spezialisierung, manchmal durch Kolonisierung, manchmal durch Senkung der Produktionskosten erobert. In der aktuellen Situation ist der Kapitalismus jedoch nicht mehr an der Produktion orientiert, die er oft in die Peripherie der Dritten Welt auslagert, selbst in komplexen Produktionsformen wie Textil, Eisenverarbeitung, Öl. Es ist ein Kapitalismus der Überproduktion. Er kauft keine Rohstoffe und verkauft keine Fertigerzeugnisse mehr, sondern er kauft Fertigerzeugnisse oder montiert Einzelteile zusammen. Was er verkaufen will, sind Dienstleistungen, und was er kaufen will, sind Aktien. Dieser Kapitalismus ist nicht mehr für die Produktion da, sondern für das Produkt, das heißt für Verkauf oder Markt. Daher ist sein wesentliches Merkmal die Streuung, und die Fabrik hat dem Unternehmen Platz gemacht. Familie, Schule, Armee, Fabrik sind keine unterschiedlichen analogen Milieus mehr, die auf einen Eigentümer konvergieren, Staat oder private Macht, sondern sind chiffrierte, deformierbare und transformierbare Figuren ein und desselben Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt. Sogar die Kunst hat die geschlossenen Milieus verlassen und tritt in die offenen Kreisläufe der Bank ein. Die Eroberung des Marktes geschieht durch Kontrollergreifung und nicht mehr durch Disziplinierung, eher durch Kursfestsetzung als durch Kostensenkung, eher durch Transformation des Produkts als durch Spezialisierung der Produktion. Die Korruption gewinnt hier neue Macht. Zum Zentrum oder zur »Seele« des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckens-Meldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren. Die Kontrolle ist kurziristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch. Allerdings hat der Kapitalismus als Konstante beibehalten, daß drei Viertel der Menschheit in äußerstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung und zu zahlreich zur Einsperrung. Die Kontrolle wird also nicht nur mit der Auflösung der Grenzen konfrontiert sein, sondern auch mit dem Explodieren von Slums und Ghettos.

 

III. Programm
 

Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband). Félix Guattari malte sich eine Stadt aus, in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die - erlaubte oder unerlaubte - Position jedes einzelnen erfaßt und eine universelle Modulation durchführt.

Die sozio-technische Untersuchung der Kontrollrnechanismen, erfaßt bei ihrem Aufkommen, müßte kategorial sein und beschreiben, was schon jetzt anstelle der disziplinarischen Einschließungsmilieus, deren Krise alle Welt verkündet, aufgebaut wird. Es könnte sein, daß alte Mittel, die den früheren Souveränitätsgesellschaften entlehnt sind, wieder auf den Plan treten, wenn auch mit den nötigen Anpassungen. Entscheidend ist, daß wir am Beginn von etwas Neuem stehen. Im Gefängnis-Regime: die Suche nach »Ersatz«-Strafen, zumindest für die kleinen Delikte, und der Einsatz elektronischer Halsbänder, die dem Verurteilten auferlegen, zu bestimmten Zeiten zu Hause zu bleiben. Im Schul-Regime: die Formen kontinuierlicher Kontrolle und die Einwirkung der permanenten Weiterbildung auf die Schule, dementsprechend die Preisgabe jeglicher Forschung an der Universität, die Einführung des "Unternehmens" auf allen Ebenen des Bildungs- und Ausbildungswesens. Im Krankenhaus-Regime: die neue Medizin "ohne Arzt und Kranken", die potentielle Kranke und Risiko-Gruppen erfaßt, was keineswegs von einem Fortschritt hin zur Individuierung zeugt, wie man sagt, sondern den individuellen oder numerischen Körper durch die Chiffre eines "dividuellen" Kontroll-Materials ersetzt. Im Unternehmens-Regime: neuer Umgang mit Geld, Produkten und Menschen, die nicht mehr die alte Fabrikform durchlaufen. Das sind ziemlich winzige Beispiele, die jedoch verdeutlichen können, was unter Krise der Institutionen zu verstehen ist, nämlich der fortschreitende und gestreute Aufbau einer neuen Herrschaftsform. Eine der wichtigsten Fragen dürfte die Untauglichkeit der Gewerkschaften betreffen: In ihrer ganzen Geschichte waren sie gebunden an den Kampf in den Einschließungsmilieus oder gegen die Disziplinierungen. Können sie sich der neuen Situation anpassen oder machen sie neuen Widerstandsformen gegen die Kontrollgesellschaften Platz? Lassen sich schon Ansätze dieser künftigen Formen sehen, die in der Lage wären, die Freuden des Marketings anzugreifen? Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, »motiviert« zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung; an ihnen ist es zu entdecken, wozu man sie einsetzt, wie ihre Vorgänger nicht ohne Mühe die Zweckbestimmung der Disziplinierungen entdeckt haben. Die Windungen einer Schlange sind noch viel komplizierter als die Gänge eines, Maulwurfbaus.

L'autre journal, Nr. I, Mai 1990.

 

( textanfang / I. historik / II. logik / III. programm )