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cross the border
nachdenkliche Grenzgänge auf engstem Raum

Erst einmal möchte ich sagen, was ich nicht kann und will, nämlich kurz und bündig die Geschichte des radikalen Antirassismus in der alten und neuen Bundesrepublik nachzuzeichnen. Versuchen werde ich, entlang einschneidender Ereignisse der letzten zehn Jahre unsere Erfahrungen und Überlegungen zu diesem Thema zusammenzutragen. Denn unser eigenes Handeln und Tun läßt sich eher als Prozeß, als ein sich langsam zusammenfügendes Puzzle beschreiben denn als Standpunkt, den wir bereits vor 1989 klar gehabt hätten. Weder die Autonomen noch die Antifa-Gruppen waren zu diesem Zeitpunkt in der Lage, sich auf ein erfahrbares und in Grundsätzen übereinstimmendes Selbstverständnis von Rassismus und Nationalismus zu beziehen.
Zwar existierten aus den 60er und 70er Jahren Auseinandersetzungen mit dem deutschen Faschismus und dem Nachfolgestaat BRD, doch weder wurden die Erfahrungen der Kämpfe gegen die Notstandsgesetze 1968 noch die Erfahrungen mit dem "Modell Deutschland" aus der Schmidt- und Krisenstab-Ära 1976 aufgearbeitet.
Das spiegelte sich auch in der theoretischen Auseinandersetzung wider, die zumindest in dieser Zeit heftig geführt wurde. Bei allen Unterschieden stimmte man doch darin überein, daß eine Faschisierungstendenz in dieser BRD auszumachen ist, wobei man sich eher über den Grad stritt (der bis zur Behauptung einer faschistischen Kontinuität reichte) als über die These selbst. Gestritten wurde vor allem darüber, von wo diese Gefahr droht, aus dem (Staats-)Inneren oder über den wachsenden Einfluß neonazistischer Parteien wie die NPD etc.
Abgesehen davon, daß wir die Faschisierungsthese für sehr fragwürdig halten, blieb jedoch bei allen Ausdeutungen ein ganz wesentlicher Punkt blind sowohl in historischer als auch in aktueller Hinsicht: das Leugnen einer aktiven Massenbasis des Nationalsozialismus und die Virulenz deutsch-nationaler, antisemitischer Weltbilder in der Mitte dieser Nachkriegsgesellschaft. Historisch wie aktuell überwog die Einschätzung, daß es sich bei der "Masse" um verführte, von oben gelenkte Menschen handelt, deren an sich berechtigter Protest gegen die bürgerliche Gesellschaft nur in falsche Bahnen gelenkt wurde. In diesem Sinne kamen auch die Materialien für einen neuen Antiimperialismus zu dem Schluß: "In der Gewalt der Zukurzgekommenen sehen wir eine Form der proletarischen Selbstfindung unter schlechten Emblemen."(Nr.5, S. 24) Diese linken Entschuldigungen, der theoretische Versuch, sie für eine revolutionäre Veränderung bereitzuhalten, anstatt sich dieser Konfrontation zu stellen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des deutschen Antifaschismus. Doch das war nicht nur ein theoretisches Problem, sondern auch und vor allem ein ganz praktisches. Nationalsozialismus und deutscher Antifaschismus standen sich zwar ideologisch und lebensgeschichtlich unversöhnlich gegenüber, aber sie haben auch viel miteinander geteilt: (Partei-)Soldatentum und Führerkult, autoritäre und patriarchale Lebensauffassungen, Arbeitsethos und (männliche) Arbeitermythen, antisemitische Feindbilder und nationalistische Selbstfindungen. Das war ein ganz wesentlicher Grund für die Niederlage der antifaschistischen Volksfront der 30er Jahre, und daran hat sich bis heute nicht all zu viel geändert.
Sowohl die Faschisierungsthese als auch die Verharmlosung einer Massenbasis für deutsch-nationale, antisemitische Weltbilder erklären zum Teil die geradezu erschreckende Hilflosigkeit gegenüber dem, was nach 1989 folgte. Denn wenn man zum Beispiel die Faschisierungsthese der 70er Jahre ernst nimmt, bleibt die Frage mehr als unbeantwortet, wie man diese noch steigern kann, wenn man die Asyl"mißbrauchs"kampagne oder die Abschaffung des Asylrechts systematisch werten will, ohne beim Faschismus zu landen.
Vorauszuschicken ist gleichfalls, daß die sozialen und militanten Bewegungen der 80er Jahre an die Grenzen ihres Lebensgefühls ("lebe wild und gefährlich") gestoßen sind. Es war nicht nur die Repression, der sie nicht standhalten konnten. Und es war nicht nur die enorme Integrationskraft dieses Systems, die Bruchstücke der Bewegung legalisierte, "Mißstände" vereinnahmen und ihre staatliche Bekämpfung zur Dynamisierung des Systems nutzen konnte. Es war eben auch das Ende eines Lebensgefühls, das sich manchmal geradezu großkotzig "außerhalb" dieses Systems wähnte und daran mehr leise und kleinlaut als streitbar kaputt ging, als es darum gegangen wäre, die eigene Teilnahme an diesem System zu thematisieren und zum existentiellen Ausgangspunkt für militante Kämpfe zu machen.

Das große Ende der Systemkonkurrenz- die Wiedervereinigung eines ganz "normalen" Rassismus mit einem völlig "gesunden" Nationalismus
Diejenigen, die sich vor 1989 mit der DDR beschäftigt haben, sind an einer Hand abzuzählen. Den meisten von uns lag Nicaragua oder El Salvador schlichtweg näher. Kein Wunder also, daß uns alle die Implosion der DDR überraschte und die Folgen, die diese auf die Gesamt-BRD haben würde, völlig unklar waren. Ich kann mich noch daran erinnern, daß einige von uns die sich anbahnende Entwicklung mit scheinbar souveränem Desinteresse verfolgten. Da sich unsere Kämpfe eh nicht um Grenzen und Nationen scheren, so ihre These, spielt der mögliche Zusammenbruch der DDR lediglich eine ideologische Rolle, deren unsinnige Bedeutung nur davon ablenkt, daß der eigentliche Kampf zwischen Oben und Unten stattfindet. Mit oder ohne DDR. Basta.
In den folgenden Jahren mußten wir alle — recht schmerzhaft — lernen, daß Rassismus und Nationalismus keine Hirngespinste sind, die an der sozialen Realität, am Wa(h)ren Gegensatz von Reich und Arm, zerplatzen werden. Es ging und geht um die mühsame erarbeitete Erkenntnis, daß Rassismus und Nationalismus ideologische Konstrukte und gesellschaftliche Realität sind, Schein und Wirklichkeit, erfunden und vorfindbar. Und sicherlich waren für viele von uns erst die Ereignisse von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, die breite Zustimmung zur Abschaffung des Asylrechts Anstoß dafür, Rassismus nicht nur als eine Herrschaftsideologie von oben zu begreifen, sondern eben auch als die Ideologie privilegierter Teilhabe von unten.
Die spezifische Geschichte des Rassismus und Antisemitismus in Deutschland, das als Unterwerfung gelebte Nationalbewußtsein erklären für uns ganz wesentlich, warum in Deutschland Revolutionen nur als Vor- und Selbsttäuschung Erfolg haben konnten: zum einen die nationalsozialistische der 30er Jahre und zum anderen die "friedliche" von 1989. Abgesehen vom Trennenden, nicht Vergleichbaren, tauchen in beiden zwei sehr ähnliche Motive auf: am Anfang das Erleben, Opfer zu sein, und am Ende das mörderische Privileg, deutsch zu sein. Wenn wir ehrlich sind, hatte niemand von uns eine klare Vorstellung davon, welche Auswirkungen die friedliche Übergabe dieses Sozialismus an die "Erzfeinde" haben sollte.
Auch wenn die DDR keine reale Alternative zum westdeutschen Kapitalismus war (wer wollte von uns wirklich "rüber"), hielt alleine deren staatliche Existenz die Erinnerung an die militärische Kapitulation des "1000jährigen Reiches" wach. Denn die DDR war vor allem eine Folge des verlorenen Krieges, am allerwenigsten das Ergebnis eines massenhaften Wunsches nach Systemüberwindung. Auch wenn die SED Rassismus und Antisemitimus mit der Aufhebung privatkapitalistischer Produktionsweisen beseitigt sah und deren Aktualität in den kapitalistischen Westen exportierte, so belegt das enorme und wirklich beängstigende Potential an neonazistischen Gruppen und deutsch-nationalen Sympathien in der Ex-DDR eines ganz eindringlich: Es ist gerade nicht damit getan, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen und stillschweigend davon auszugehen, daß damit die Wurzeln des Rassismus und Antisemitismus beseitigt seien. Die breite Verankerung neonazistischer Gruppen im Osten ist für uns ein erschreckendes Beispiel dafür, daß Rassismus und Antisemitismus Gewaltverhältnisse darstellen, die sich nicht umstandslos aus dem Kapitalismus ableiten lassen — schon gar nicht, wenn man Kapitalismus auf den Besitz von Privateigentum reduziert.
Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks und des "Ablegers" DDR verlor ein über Jahrzehnte geformtes Feindbild seine Wirkungskraft, und wir alle hatten keine Vorstellung davon, was die Neubestimmung eines Feindbilds für Folgen haben könnte. Heute sind es in vergemeinschafteter Form die "verbrecherischen Wanderbewegungen" à la Kanther, heute ist es der als Flüchtling verkleidete "Wirtschaftsasylant".
Die von der CDU bis zur SPD getragene "Asylflut"-Kampagne hatte gerade Anfang der 90er Jahre nicht nur zum Ziel, dieses "neue" Feindbild zu versinnlichen — wobei genauer von einer Zentrierung eines bereits existierenden Feindbilds gesprochen werden muß. Mit dem "Mauerfall", mit dem Wegfall zweier deutscher Staaten, war zugleich realpolitisch der Weg frei, am Mythos eines gemeinsamen Volkswillens, am rassistischen Wahn eines homogenen Ganzen anzuknüpfen. Die Wiedervereinigungs-Rhetorik bediente sich dieser stillen und stillgelegten Reserven.
Angesichts des offen propagierten Nationalbewußtseins, des mörderischen "Stolzes, ein Deutscher zu sein", warnten einige von uns vor einem neuen alten Faschismus. Wir widersprachen. Unser Kampf gegen Rassismus braucht nicht den Faschismus vor Augen, uns reicht der Kapitalismus, der endlich so normal sein will wie der amerikanische oder französische, mit allen ganz normalen imperialen Ansprüchen, die sich daraus ergeben. Es reicht uns, wenn diese BRD alles daran setzt, die auferlegte, historisch begründete Zurückhaltung abzuschütteln, wenn sie alles daran setzt, die Verbrechen der Nazidiktatur anderen Staatsverbrechen ähnlich zu machen. Denn es ist klar, worum es geht. Ist dieser besondere "Makel", die Einzigartigkeit des Holocaust, erst einmal beiseite geräumt, ist Platz für einen "gesunden" Nationalismus, dessen einzige Moral darin besteht, nicht schlimmer zu sein als der anderer Nachbarstaaten.

Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mannheim-Schönau... Pogrome der Straße unter der Schirmherrschaft einer großen Koalition
Es war die Zeit des Entsetzens und die Zeit einer kaum erträglichen Ohnmacht. Kaum ein Tag verging ohne eine Zeitungsmeldung, ohne einen Fernsehbericht, in dem von neuen rassistischen Angriffen berichtet wurde. Hätte mir vor fünf Jahren jemand erzählt, daß es wieder zu solchen "Volksstürmen" kommt — diesmal ohne eine zentrale Führung —, ich hätte ihn/sie für bekloppt gehalten. Und das nicht, um der Volmerschen These von der "grundlegenden Zivilisierung dieser Gesellschaft" Glauben zu schenken, sondern aufgrund der realpolitischen Einschätzung, daß dieser Staat das Monopol auf Rassismus nicht aus der Hand geben wird, daß er nicht einmal den Eindruck aufkommen lassen will, dem "Druck der Straße" zu weichen oder gar zu gehorchen.
Zum ersten Mal in der Geschichte der BRD wurden zur Abschaffung eines Grundrechtartikels nicht nur die Abgeordneten fast aller Parteien mobilisiert, sondern auch der rassistische Terror der Straße. Immer wieder griff derselbe blutige Mechanismus: Die "Asylflut"-Kampagne von Regierung und Nicht-Regierung markierte und lokalisierte die Opfer, während sie gleichzeitig die potentiellen Täter/innen argumentativ ausrüstete und mit der moralischen Legitimation eines "übergesetzlichen Notstandes" ausstattete. Diese handelten de facto im Auftrag des Staates, der sich so lange "Handlungsunfähigkeit" bescheinigte, bis das Grundrecht auf Asyl abgeschafft war. Dann passierte geradezu erwartungs- und wunschgemäß ein rassistischer Anschlag. Dieser wurde je nach mörderischem Erfolg heuchlerisch bedauert, um im selben Atemzug wirkliches Verständnis für die "berechtigten Sorgen und Ängste der deutschen MitbürgerInnen" zu bekunden. Dem folgte die Aufforderung fast aller Parteien, schleunigst das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen, mit dem unausgesprochenen Versprechen, den Terror der Straße in ein geregeltes und geordnetes Verfahren überzuleiten.
Selten habe ich unseren Widerstand so hilflos erlebt, selten kamen mir unsere Reaktionen so symbolisch und wirkungslos vor. Wir konnten die Angriffe auf Flüchtlingsheime nicht verhindern, und die meisten Gegendemonstrationen, Tage oder Wochen später, hatten etwas Gespenstisches und lächerlich Drohendes.
Wir haben mehrere Demonstrationen in Mannheim-Schönau mitorganisiert, wo ein Flüchtlingsheim mehrere Tage belagert wurde. Die Antifa- und antirassistischen Gruppen vor Ort sahen sich nicht in der Lage, eigenständig zu agieren. Es wurde regional mobilisiert, um überhaupt das Zutrauen zu stärken, dort zu intervenieren. Das Gefühl jedoch, sich auf feindlichem Terrain zu bewegen, blieb, und die Erfahrung, eigentlich alle und alles gegen sich zu haben, begleitete einen auf Schritt und Tritt: von der dort regierenden SPD angefangen, über die Mehrheit der Bevölkerung in der angrenzenden Arbeitersiedlung bis hin zur Polizei.
Die letzte große Demonstration, für die wir bundesweit mobilisierten, hatte das Ziel, die Bevölkerung in Mannheim-Schönau nicht als verführte und fehlgeleitete Opfer anzusprechen, sondern als aktiv und passiv Teilhabende zu konfrontieren. Der Mannheimer Bürgermeister kam dieser Absicht zuvor, stellte sich abermals vor seine lieben MitbürgerInnen auf der Schönau, garantierte Schutz vor all den "auswärtigen Unruhestiftern" und erließ ein Demonstrationsverbot für ganz Mannheim-Schönau. Dennoch gelang es einem Teil von uns, über Schleichwege zumindest den angrenzenden Nachbarort zu erreichen. Von dort aus wollten wir zu Fuß nach Mannheim-Schönau. Die zumindest in dieser Situation überraschte Polizei blockierte in aller Eile den Weiterweg, bis sie eine Demonstration in diesem Nachbarort zuließ. Sicherlich war es überhaupt ein Erfolg, das erlassene Demonstrationsverbot zu durchbrechen. Doch eine Demonstration durch menschenleere Gassen hinterläßt schlichtweg das Gefühl, mehr etwas für sich selbst getan zu haben als gegen die Verhältnisse.
Die geradezu täglichen Angriffe auf Flüchtlinge, MigrantInnen, Behinderte, Langhaarige und alles, was nicht "deutsch" aussieht, die offene Sympathie der Schaulustigen und die Gleichgültigkeit derer, die zu Hause blieben, ließen bestenfalls punktuelles Handeln zu. Wir zogen uns im wahrsten Sinne des Wortes zusammen.
Es gibt sicherlich viele Fragen, die gerade in dieser Zeit aufgeworfen wurden und Ratlosigkeit und Zerwürfnisse zurückließen. Die für uns wichtigsten Fragen waren und bleiben: Warum haben die meisten von uns mit Flüchtlingen und MigrantInnen erst etwas zu tun bekommen, als sie Opfer rassistischer Angriffe wurden? Warum hatten, warum haben wir so wenig mit ihnen zu tun, als Handelnde, als Subjekte? Und birgt nicht das Fehlen eines alltäglichen Umgangs mit ihnen die Gefahr in sich, daß wir sie dann, in der Theorie zumindest, mit einer Subjekthaftigkeit umgeben, die ihren realen Lebensbedingungen und -vorstellungen nicht entspricht? Ich denke da nur an das positiv überladene Bild vom ortsungebundenen, nomadisierenden Leben, das sich mit Entschlossenheit und "irrsinniger Energie" auf den Weg in die Metropolen macht, um sich den geraubten Reichtum zurückzuholen...

Der rechte Zeitpunkt für Lichterketten oder Die Ökonomie des Rassismus
Zum Marketing der Lichterketten gehört — wie im ganzen Wirtschaftsleben — der richtige Riecher. Als Flüchtlingsheime brannten, als Flüchtlingsheime belagert wurden, als die Polizei gerade Schichtwechsel hatte, war von den Lichterketten, den "anständigen Deutschen" weit und breit nichts zu sehen. Erst als der sogenannte Asylkompromiß in greifbare Nähe rückte, als der legale Verfassungsbruch parteiübergreifend zum Konsens heranreifte, war der rechte Zeitpunkt gekommen, sich auch öffentlich vom rassistischen Terror abzuwenden und staatliche Übernahme, sprich ein geregeltes, kalkulierbares Verfahren, einzufordern. Mit Macht, Geld und riesigen Plakatwerbungen meldete sich die Wirtschaft zu Wort, um den "überschüssigen" Rassismus als eine Gefahr für den Standort Deutschland zu brandmarken. Auf einmal entdeckte man die Mehrzahl ausländischer MitbürgerInnen, die viele Steuern, viele Sozialabgaben und viel zu viel Rentenbeiträge bezahlen. Es war die Zeit der Statistiker, die uns laut vorrechneten, was "wir" an den ausländischen MitbürgerInnen alles verdienen. Es war die Zeit der André Hellers und der Genießer, die uns vorführten, welche kulturelle und kulinarische Bereicherung wir aus deren Anwesenheit ziehen. Es war an der Zeit, die nützlichen Ausländer zu entdecken, die für wenig Geld viel arbeiten, alles geben. Wie sagte doch Daniel Cohn-Bendit, Chef des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt, so treffend: "Menschen, die um ihr Überleben kämpfen, haben eine irrsinnige Energie...", und es wäre doch blöd, verehrte Unternehmer und Kleinbürger, diese nicht zu nutzen. Das sagte er nicht, es sollte aber genau so verstanden werden.
Die Ökonomie des Rassismus machte also gegen das Primat der Ideologie mobil, propagierte die Spannung statt die Erlösung, beschwor die energetische Mischung statt die statische Reinheit, betonte das kapitalistische Kalkül, den Wert eines Menschen zuallererst nach seinem Nutzen zu bestimmen und nicht nach seiner Hautfarbe oder Herkunft. Es ging darum, die Produktivkraft rassistischer Verhältnisse gegen die in ihr angelegte Vernichtungsbereitschaft zu verteidigen.
Das Erschreckende an dieser Lichterketten-Argumentation ist, daß den "anständigen" Deutschen vom "häßlichen" Deutschen nur noch eines trennt: die unterschiedliche Berechnung des Nutzwertes eines Menschen und die unterschiedliche Erfahrbarkeit des unbestrittenen Privilegs, "deutsch" zu sein. Auch der Zeitpunkt des Verlöschens der Lichterketten sagt viel über das Ansinnen ihrer Initiatoren und TeilnehmerInnen aus. Mit der Abschaffung des Asylrechts per Zweidrittelmehrheit im Mai 1993 war der mehrheitliche Wunsch nach einer staatlichen Lösung vollauf befriedigt. Die BRD umgab sich per Definition mit lauter "sicheren Drittstaaten" und exportierte so die mörderische Last, die "überflüssigen Esser" loszuwerden, außer Landes, außer Sichtweite.
Das überwältigende Motiv der Lichterketten, von der Unmittelbarkeit rassistischer Gewalt verschont zu werden, ist die eine Seite. Die Kehrseite davon war und ist, daß der antirassistische und antifaschistische Widerstand ganz wesentlich gerade diese Unmittelbarkeit zur Mobilisierung brauchte. Der staatlich organisierte Rassismus, der unspektakuläre, scheinbar unblutige Rechtsweg stand nie im Mittelpunkt unserer gemeinsamen Kämpfe. Lübeck ist dafür ein erschreckendes Beispiel. Es reichte, dem sich formierenden Widerstand die Opfer streitig zu machen, diese — medial und staatsanwaltschaftlich — zu Tätern zu machen, um den Protest in sich zusammenbrechen zu lassen. Die Existenz eines Flüchtlingsheims, die alltägliche Diskriminierung gegenüber Flüchtlingen, die Alltäglichkeit der Abschiebepraxis, die Wahrscheinlichkeit eines rassistischen Mordanschlags reichten nicht aus — sie beunruhigen auch uns kaum noch.

Der legale Verfassungsbruch 1993 — "Die Brandstifter sitzen in Bonn"
Die Fixierung auf spektakuläre Opfer rassistischer Gewalt wiederholte sich in der Mobilisierung zur Bundestagsblockade anläßlich der parlamentarischen Absegnung der Verfassungsänderung. In Rostock-Lichtenhagen waren es noch 10000, die sich an der Gegendemonstration beteiligten, am Tag der Abstimmung in Bonn waren wir 4-5000. Und selbst das war für uns eher überraschend als enttäuschend. Denn in den Monaten davor gingen wir ganz nüchtern von 1000-1500 TeilnehmerInnen unseres Blockadekonzepts aus. Diese Zahl war Ausgangspunkt unserer Überlegungen, an vier Stellen den Zugang zum Bundestag zu blockieren, in der Hoffnung, zumindest die Reibungslosigkeit dieser Abstimmungsmaschinerie zu stören. Und tatsächlich gelang es uns, den meisten Parlamentariern für diesen Tag das Gefühl mitzugeben, wie es ist, wenn der "Landweg" ausgeschlossen ist. Die Mehrheit der Abgeordneten mußte sich mit dem Schiffsweg begnügen und empfand diesen Schleichweg doch tatsächlich als demütigend und unwürdig. Sie hätten sich statt dessen einen harten Polizeieinsatz für ihr so selbstverständlich empfundenes Recht auf Freizügigkeit gewünscht. Doch dieser blieb aus kosmetischen Gründen aus. Die "Festung Bonn" sollte nicht noch durch zusätzliche Bilder prügelnder Polizisten untermalt werden. Diese Zurückhaltung galt am allerwenigsten einer beunruhigten Bevölkerung — sie hatte ihren wesentlichen Grund in der massiven Medienpräsenz ausländischer Sender.
An diesem Tag wurde nicht nur ein bereits reichlich zerfleddertes Grundrecht abgeschafft, an diesem Tag hat sich zugleich die "kritische, liberale Öffentlichkeit" verabschiedet. Es war ja schon paradox: Wir als Autonome verteidigten die Grundrechte, einen wesentlichen Bestandteil dieser Verfassung, während die, die sich zu ihrer Verteidigung berufen fühlen, entweder als Verfassungsfeinde agierten oder zu Hause blieben. Dieser Tag machte noch einmal deutlich, daß die "liberale Öffentlichkeit", die sich über Jahrzehnte als Vermittler zwischen Staat und System-Opposition begriff, endgültig weggebrochen ist. Auch wenn wir auf deren Integrationsfunktion liebend gerne verzichteten, so waren wir doch — ab und an — über deren Schutzfunktion dankbar. Diese wird es — für uns jedenfalls — nicht mehr geben.
So werden wir uns in Zukunft — also viel zu spät — die Frage stellen, ob wir Grundrechte, verstanden als Schutzrechte gegen den Staat, verteidigen müssen wenn wir tatsächlich noch die Bedingungen für zukünftige Kämpfe im Augen behalten wollen. So steht ein weiteres Grundrecht auf der Abschußliste verbeamteter Verfassungsfeinde, das Grundrecht auf "Unverletzlichkeit der Wohnung" (Art.13). Ein institutionelles Hindernis auf dem weiteren Weg hin zur Doktrin einer Staats-Sicherheit, die die hier so gepflegten Horrorszenarien über die Stasi der Ex-DDR mühelos in den Schatten stellt.

"Keine Verbindung e.V." oder Wie Unterbrechungen Verbindungen herstellen können
Mit der Abschaffung des Asylrechts ging ein massiveres polizeiliches und juristisches Vorgehen gegen neonazistische Gruppen einher. Auf einmal verzeichnete die Polizei Erfolge gegen "rechtsradikale" Personen und Organisationen. Nun konnte sogar ein "fremdenfeindlicher" Hintergrund von Straftaten ermittelt werden, und die Fahnder und Richter (ent)deckten nicht nur verstörte Einzeltäter, sondern ab und an sogar organisierte Strukturen (auf). Es kam vermehrt zu Anklagen und Haftstrafen. Der rassistische Terror der Straße hatte zur Mehrheitsbeschaffung für eine Verfassungsänderung beigetragen — sollte aber keinesfalls zur politischen Konkurrenz für die etablierten Parteien heranwachsen. Um rassistische, nationalistische Positionen im Parteienspektrum zu vertreten, brauchte es in der Tat keine neue (Volks-)Partei.
Im gleichen Maße wie der Staat gegen neonazistische Gruppen vorging, spektakuläre Anschläge zurückgingen, neonazistische Auftritte, soweit opportun, unterbunden wurden, nahm die Mobilisierungsfähigkeit im antirassistischen und antifaschistischen Spektrum ab. Initiativen, Gruppen und Vernetzungsversuche schmolzen zusammen, und die politischen Unterschiede zwischen klassischer Anti-Nazi-Politik, antirassistischen und anti-deutschen Positionen nahmen zu und trugen mit zur Zersplitterung der eh bescheidenen radikalen Opposition bei.
Am 1.2.1995 durchtrennte die Gruppe "Keine Verbindung e.V." an mehreren Stellen rund um den Rhein/Main-Flughafen Glasfaserkabel. Die Computer am Flughafen "zum Tor der Welt" brachen zusammen, der Buchungscomputer der Lufthansa versagte seine Dienste, das Einchecken der Fluggäste mußte manuell vorgenommen werden, Geldautomaten spuckten kein Geld mehr aus, und in manchen Stadtteilen waren die Telefone richtig "tot". Der Spiegel sprach von einem "Anschlag auf die Kommunikationsgesellschaft", die Telekom beschwor die "kriminelle Energie", mit der man "fast alles oder gar alles machen kann". Keine Verbindung e.V. sprach von einem Internierungslager für Flüchtlinge auf dem Gelände des Flughafens, forderte dessen Auflösung und in aller gebotenen Bescheidenheit "Grenzen auf" und "Bleiberecht für alle".
Am 9.7.1996 durchtrennte eine andere Gruppe namens K.A.B.E.L.S.C.H.N.I.T.T. abermals im Bereich des Frankfurter Flughafens Glasfaserkabel, die ähnliche Störungen im Daten- und Telefonverkehr verursachten. Auch sie bezieht sich auf die besondere Rolle des Flughafens im Rahmen der Abschiebepraxis, auf das BVG-Urteil desselben Jahres, in dem die "Flughafenregelung" höchstrichterlich für rechtens erklärt wird. Es werden keine weitergehenden Forderungen gestellt. Ich möchte hier nicht länger auf die Repression eingehen, die im Zusammenhang mit der Vorführung des Filmes How to come through losgetreten wurde. In Frankfurt wurden am 27.9.1996 die Filmvorführung von der Polizei gestürmt, 72 BesucherInnen festgenommen, in Gewahrsam genommen und erkennungsdienstlich "behandelt". Legaler Vorwand dieses Überfalls war ein gefälliger Beschluß des BGH vom selben Tag, der im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung die Durchsuchung der Räume, der darin festgestellten Personen sowie die Beschlagnahmung des als "Lehr- und Dokumentarfilm" bezeichneten Filmstreifens "Gefahr für das Datennetz" und anderer "beweiserheblicher Gegenstände" anordnete. Mich interessiert die unterbrochene und zugleich herstellte Verbindung zwischen staatlichem Rassismus und neuen Informationstechnologien, und ich möchte dabei den Bogen zu der Veranstaltungswoche hier schlagen, wo ja — zumindest für unsere Verhältnisse — ungewöhnlich viele neue Informationstechnologien im Einsatz sind.
Ich denke, ich brauche hier nur kurz anzureißen, was das eine mit dem anderen zu tun hat, in welchem Ausmaß die Markierung des "Verdächtigen", das immer enger werdende Netzwerk der Erfassung und Verfolgung durch die neuen Informationstechnologien unterstützt und verfeinert werden kann: die geradezu grenzenlose Speicherung von Merkmalprofilen, der in Sekundenschnelle erfolgende Austausch und Abgleich von Datenbeständen verschiedenster Behörden und Einrichtungen, die Erstellung von Stimmbildern, die zur Identifizierung von Flüchtlingen eingesetzt werden sollen, die automatische Speicherung von Verbindungsdaten zur Erstellung von Kommunikationsprofilen, der geradezu kinderleichte polizeiliche Zugriff auf alle Daten im neuen ISDN-Netz bis zur Speicherung der Funkzellen in Mobilfunknetzen, die Bewegungsbilder liefern, die die bisher mehr oder weniger auffälligen und aufwendigen Observierungs- und Beschattungsmethoden weitgehend überflüssig machen.
Einige werden wahrscheinlich gelangweilt nicken. Wissen wir ja alles. Und? Auffallend für mich ist nicht, daß wir diese technischen Möglichkeiten trotzdem auch zu nutzen versuchen, wenn auch wie immer verspätet und anfangs noch von ein wenig Peinlichkeit begleitet. Was mich stutzig macht, ist das weitgehende Schweigen darüber, was dieses Wissen für die Praxis, den eigenen Umgang damit heißt. Und völlig stutzig macht mich die geradezu euphorische Beschreibung von linken NetzwerkbetreiberInnen, was mann und frau dort alles machen kann. Wie ganz plötzlich in dieser virtuellen Welt die sozialen Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden: Mit einemmal existiert eine Gemeinschaft, in der Herkunft, Klasse, Geschlecht und Nation egal sind oder werden, zu der alle egalitär und geradezu herrschaftsfrei Zugang haben. Natürlich ist es zum Schmunzeln, wenn man die vergeblichen Versuche der Staatsschutzbehörden mitgekriegt hat, die Internet-Seiten der Zeitschrift Radikal aus dem Netz zu verbannen, weil immer wieder "Unbekannte" diese Seiten spiegelten und damit zur weiteren Verbreitung beitrugen. Von diesem Räuber-und-Gendarm-Spiel auf ein anarchisches Netz zu schließen, das nicht kontrollierbar ist, weil diese große Gemeinschaft der NutzerInnen wie Pech und Schwefel zusammenhält, ist aber doch schlichtweg Quatsch. Damit wird eine Welt vorgespiegelt, in der Herrschaftsinteressen und oppositionelle Lebensinteressen friedlich aneinander vorbeisurfen.
Da ich zur Zeit für ein versöhnliches, optimistisches Ende nicht zu haben bin, verlege ich mich auf eine Vision, zumal in der Veranstaltungsankündigung das nahende Jahr 2000 angesprochen wurde: Plötzlich, am Ende meines Vortrags, fallen alle Monitore, Videokameras und -installationen aus, der Video-Terminal zum "La Maison des ensembles" bricht zusammen, alles Hybride verfällt dem Schwarzton. Ich unterbreche, im Saal kommt Unruhe auf. Die Techniker, wahrscheinlich immer noch eher Männer, suchen vergeblich nach einem technischen Defekt. Irgendwann kann man sich diese "Bildstörung" einfach nicht erklären. Wie es der Zufall in einer solchen Geschichte will, hört jemand im Saal Radio, stellt laut, und folgende Meldung ist zu hören: "Gegen 20 Uhr meldete die Polizei einen Anschlag auf die Ausländerbehörde. Wie erste Ermittlungen ergaben, durchtrennten noch unbekannte Täter an zwei Stellen in unmittelbarer Nähe der Ausländerbehörde Glasfaserkabel. Betroffen davon ist nicht nur der Zentralcomputer, sondern auch angrenzende Wohngebiete, insbesondere das Schlachthofviertel. Die Polizei geht von einem politischen Hintergrund aus, kann jedoch zum augenblicklichen Zeitpunkt keine näheren Angaben machen. Mit der Behebung des Schadens ist nicht vor morgen zu rechnen..." Soweit diese phantastische Geschichte. Das Ende kenne ich auch nicht.
l.u.p.u.s.


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