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Kein Mensch ist illegal,
aber ist damit auch die Politik scheißegal?
"Reden, auch wenn wir nicht gefragt sind"
Titelslogan der Kampagnenzeitung "kein Mensch ist illegal", Nr. 2 vom Juni 1998
Ende Juli fand im Rahmen der überregionalen Kampagne "Kein Mensch ist illegal" für etwas über eine Woche ein antirassistisches Aktionscamp in Rothenburg an der Neiße-Grenze zu Polen statt. Daran nahmen zwischen 150-200 Leute teil: eine bunte Mischung von Pro-Asyl-MenschenrechtlerInnen, KampagnenaktivistInnen, Jung-, Alt- Ex-Autonomen und Ost-Antifas. Wir brauchen in diesem Beitrag auch deshalb keine Aktionschronologie zu schreiben, da sie weitgehend aus dem beigefügten - allerdings mit einem irreführenden Titel veröffentlichten - Artikel in der Jungle World (JuWo) hervorgeht. Darüber hinaus wollen wir uns bei den nicht sehr zahlreichen Camp-OrganisatorInen für das mühsame wie arbeitsreiche Hinstellen einer halbwegs funktionierenden Camp-Basis-Struktur, bestehend aus Dixi-Toiletten, Zelten, Wasserversorgung, Funken, Futterversorgung und noch einigem anderen mehr, bedanken. Ohne selbst einen Handschlag dafür selber zu tun, haben wir sie in aller Selbstverständlichkeit in Anspruch genommen und es uns darin so bequem als irgend möglich gemacht. Doch genug der höflichen Form; wir wollen uns gleich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auf ein paar uns tatsächlich politisch interessierenden Fragen konzentrieren.
1. Provokationseffekt eines aktivistischen Anti-Ra-Camps
"Geh’ doch nach Russland!"
Spontane Reaktion eines Görlitzers auf
die freundliche Aufforderung, sich an der
Anti-Ra-Demo zu beteiligen1
Von den KampagneninitiatorInnen wurde als ein Ziel des Sommercamps die Absicht formuliert, das Grenzregime am Rande der EU- und Schengenstaaten mit vielfältigen Aktivitäten, wenn nicht ins Wanken, so zumindest zur Sprache zu bringen."2 Es ging also in diesem provinziellen Raum darum, mit Hilfe von Protesten der unterschiedlichsten Art so etwas wie Öffentlichkeit herzustellen. Und zwar über die vom Bundesgrenzschutz (BGS) engagiert in einem "Denunziationsbündnis" mit Teilen der ansässigen Bevölkerung ausgeübte Menschenjagd-Praxis an derjenigen Grenze, die über die größte Polizeidichte in Europa verfügt.3
Das Ziel "Öffentlichkeit zu schaffen" stellte sich auch relativ schnell in Folge von ein paar, vermutlich von TeilnehmerInnen des vorangegangenen Frauen-Camps an einigen Görlitzer Häuserwänden angebrachten schönen Anti-Ra-Graffitis ein: Ortsansässige Rassisten machten darob ihrem Haß sofort Luft und verfaßten mit unbezweifelbar ehrlichem faschistischen Geifer Leserbriefe an die Lokalzeitung. Der in der Region spürbar gegen die Idee von "Kein Rassismus" ansteigende Hetzpegel sorgte dann auch dafür, daß lange Zeit unsicher war, ob das Camp stattfinden konnte, weil der Vermieter versuchte, den bereits angemieteten Campingplatz wieder zurückzuziehen. Schließlich mußte er unter Hinweis auf die Bestimmungen des bürgerlichen Vertragsrechtes zur Räson gebracht werden. Wie sehr die Existenz des Camps in der regionalen Bevölkerung die Runde machte wird auch an einer Äußerung des Bürgermeisters der Stadt Rothenburg deutlich, die dieser anläßlich der Eröffnung des alljährlich großen Rummels in der Stadt machte. Unter Hinweis auf das Camp warnte er die Bevölkerung vor den AktivistInnen von "Kein Mensch ist illegal", die möglicherweise kommen könnten "um zu diskutieren". Als Taktik gegen dieser schlimmen Gefahr schlug der Bürgermeister den Rummel-BesucherInnen vor, eventuelle Diskussionsattacken dann doch "einfach zu ignorieren". Kurz und gut: Allein die Absicht, ein antirassistisches Camp ausgerechnet in einer Region durchzuführen, in der praktizierter Rassismus so alltäglich geworden ist, daß er als das "Normalste von der Welt" erscheint, konnte auf ein großen Provokationseffekt rechnen, der dann mit einer Fülle von oftmals nicht polizeilich angemeldeten Happenings noch gesteigert wurde. Egal wie man die ohnehin begrenzten Wirkungen derartiger Aktivitäten einschätzen mag, allein die durch das Camp gegebene öffentliche Sichtbarkeit eines Widerspruches störte die in dieser Region mühsam vom BGS und seinen vielen ortsansässigen Freunden und Helfern hergestellte Normalität eines alltäglichen obszönen Tuns.
In dem Camp selber war es wirklich beeindruckend mitzubekommen, wie nicht nur in den Plenumsdiskussionen über "Schutz vor Faschos" das Bedürfnis nach "Sicherheit" bei manchen Camp-TeilnehmerInnen analog zu dem in der Bevölkerung unendlich zu sein schien, und wie sich irgendwie dennoch aus dem unübersichtlichen Camp-Chaos-Gewusel immer wieder Leute zusammenfanden, um etwas auf die Beine zu stellen. In diesem Sinne wäre dem JuWo-Artikel noch nachzutragen, daß das "Kein Mensch ist Illegal"-Fahrrad-Team mit Witz, Überraschung und ungedopter Aktionsphantasie an der 1. Etappe der 14. Sachsen-Tour `98 am Dienstag in Görlitz teilgenommen hat. Das Anti-Ra-Team überquerte zum sprachlosen Staunen der anwesenden ZuschauererInnen weit vor allen anderen 21 Teams siegreich die mit Sponsoren und öligen Moderatoren zugepflasterte Ziellinie. Es stimmt noch immer: Was unbezahlten Aktivismus und Aktionstechnologie angeht, kann Autonomen in dieser Gesellschaft niemand so schnell das Wasser reichen. Soweit so lustig. Doch damit fangen auch schon unsere ersten Probleme mit dem weitgehend durch Orga-Kram und Aktivismus dominierten Camps an. Und um die ungefähre Richtung unseres Unbehagens schon einmal anzugeben, zitieren wir einfach aus der zu diesem Camp mobilisierenden, u.a. via TAZ breit gestreuten Kampagnenzeitung. Dort wurde von zwei Gruppen aus Hanau und München u. a. der Anspruch formuliert, daß die Kampagne "nicht repräsentieren, sondern Auseinandersetzungen anzetteln" wolle. "Unmittelbarer Handlungsdruck (dürfe) nicht zum Ausblenden perspektivischer Fragestellungen führen. Weitergehende Fragen und zum Teil widersprüchliche Positionen wie beispielsweise zum illegalen Arbeitsmarkt wurden bislang nur wenig diskutiert."4 Das ist in mehr als vernünftiger Anspruch, finden wir. Wurde er aber durch das Camp auch eingelöst? Wir meinen `Nein’, und nicht nur das, sondern auch was es bedeutet, wollen wir anhand von ein paar Beispielen illustrieren.
2. Die Grenzen einer "offenen Abendveranstaltung" in Görlitz und auch anderswo
"Allen, die unsere schöne Stadt noch nicht kennen, wünsche ich, daß sie diese kennenlernen, sich in ihr wohlfühlen und auch in Zukunft oft ihre Besucher sein werden."
Der Görlitzer Bürgermeister Prof. Dr. R. Karbaum
Am Dienstag wurde in Görlitz eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema: "Menschenschmuggel? Fluchthilfe! Denunziation? Keine Kooperation mit den Behörden!" durchgeführt. Diese Veranstaltung sollte hauptsächlich dazu dienen, Einwohnern aus der Region einen einfachen Zugang zu dem mit dem Camp geltend gemachten politischen Anliegen zu eröffnen. Aus diesem Grunde hatten sich die VeranstalterInnen auch die Zusage des örtlichen SPD-Bürgermeisters erschlichen, dort bitte ein "Grußwort" zu sprechen. Doch weder der, noch sonstige Görlitzer mochten den Weg in den hübsch renovierten Bürgersaal finden. Das gibt doch eigentlich zu denken. So begann die Podiumsveranstaltung im Beisein der fast vollständig anwesenden knapp 200 Camp-TeilnehmerInnen. Als erstes wurde die VeranstaltungsteilnehmerInnen mit einem Film- und dem Dia-Referat einer "Soziologin" über die Praxis der Fluchthilfe aus Nazi-Deutschland und aus der DDR unterrichtet. Durch diesen Beitrag wurde neben vielen Informationen deutlich, daß "Fluchthelfer" eigentlich ganz o.k. sind und sogar in der früheren West-BRD als richtige "Freiheitshelden" gefeiert wurden, die man allerdings als Fluchtwilliger mit ca. 15.000 DM alimentieren mußte. Demhingegen werden die "Fluchthelfer" von heute vielleicht auch deshalb schlecht gemacht, weil sie oftmals nur noch 1.000 DM für die Hilfe bei der Überquerung der Ostgrenze Richtung BRD verlangen. Danach schilderte eine Frau aus Erfurt ihr Schicksal als kriminalisierte Fluchthelferin von in der BRD von Abschiebung bedrohten Exilanten, und erklärte am Schluß unter großem Beifall, daß sie sich auch in Zukunft von einem derartigen Tun nicht abhalten lassen werde. In dem darauf folgenden Beitrag stellte eine Aktivistin die Arbeit und die damit zusammenhängenden Probleme einer antirassistischen Gruppe in Zittau dar, worauf sich als letzter Beitrag der Bericht eines Pfarrers aus Hamburg-St. Pauli über das seit mehreren Monaten anhaltende Kirchenasyl einer Gruppe von kurdischen Flüchtlingen in seiner Kirche anschloß. Selbstverständlich erhielten auch diese Referate vom Publikum Beifall, und es wurde vielleicht auch deshalb nun von der Diskussionsleiterin zur "offenen Diskussion" aufgefordert. Doch was hätte man nun diskutieren sollen? Schließlich setzt ja allein der Begriff der "Diskussion" mindestens zwei voneinander abweichende Standpunkte voraus. Solche waren aber nun vom Podium herab nicht formuliert worden. Und auch im Publikum gab es niemanden, der zu den von den ReferentInnen dargestellten vielen praktischen Beispielen der ehrbaren Flüchtlingsunterstützung öffentlich einen Widerspruch formulieren wollte. Ob wohl die VeranstaltungsinitiatorInnen geglaubt haben, daß die Aufgabe des Widerspruches von den Görlitzern hätte wahrgenommen werden sollen, die ja nun bekanntlich gar nicht erst kamen? So war die Diskussion auf dieser Veranstaltung, die ja hinsichtlich der ReferentInnen fast gänzlich im alten Betroffenheits-Repräsentationsmodell der 70er Jahre angelegt war, im Grunde genommen auch schon zu ende, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Die Weigerung fast aller Anwesender (wohl nicht nur) im Saale, über das was sie wollen und tun gerade im Zusammenhang mit Politik zu sprechen, war körperlich spürbar. Doch mit den allseits bekundeten guten Absichten ist das Politische glücklicherweise noch lange nicht aus dem Raum. Um ein zu frühzeitiges Ende eben jener Veranstaltung zu vermeiden, wurde von einer Podiumsteilnehmerin an möglicherweise ja dennoch anwesende Leute ausgerechnet aus Görlitz eine Frage gestellt. Gleichsam als sei man selber zu dumm dafür, diese Frage zu reflektieren, ging es darum, nun von "den Görlitzern" in Erfahrung zu bringen, warum denn 70% aller Festnahmen von Flüchtlingen in der Region auf Denunziationen aus der Bevölkerung zurückgehen. Doch nicht nur die "Görlitzer" - wer immer das auch sei - waren klug genug, einfach die Antwort auf ihre Beteiligung an der Erzielung dieser vom BGS so stolz in der Öffentlichkeit präsentierte Menschenjagdzahl schuldig zu bleiben. Im Grunde genommen hätte spätestens mit Hilfe dieser eigentümlich diffusen Frage unter den Anwesenden eine Diskussion über die Grenzen ihres doch eigentlich politischen Handelns und dessen Verortung in der Region beginnen müssen, was aber letztlich nicht erfolgte. Stattdessen ergriff im Laufe der sich hinschleppenden Diskussion noch ein Camp-Organisator das Wort und legte sowohl in Gestus als auch Wortwahl doch glatt einen Staatspräsidenten-Talk hin. Darin beklagte er sich darüber, daß es in der Bevölkerung "in mir nicht verständlicher Weise" eine "Hetze gegen das Camp gegeben" habe, und doch tatsächlich - "in mir nicht verständlicher Weise" der Eindruck erweckt worden sei, hier würden "Linksterroristen" anreisen. Ob dieser Worte mußten sich einige schon seit Jahren in eben dieser "Linksterrorismuskartei" geführte GenossInen doch wundern. Daß es also nach Anti-Ra-Gaffittis an Görlitzer Häuserwänden doch tatsächlich zu einer "Hetze" durch Teile der Bevölkerung kommen konnte, nein, das konnte man als politischer Anti-Ra-Aktivist weder vorhersehen noch eigentlich verstehen, zumal doch gerade wir wegen unserer guten Absichten mit einer "Linksterrorismuskartei" nun wirklich nichts zu tun haben. Wie friedlich und schön könnte doch auch die Welt in Görlitz sein, wenn es nicht immer soviele Mißverständnisse geben würde. Ach, hätten doch die Görlitzer diese schönen Gedanken gehört, sie hätten sie bestimmt geglaubt, ganz ehrlich. Doch die waren - wir hatten es bereits gesagt - nicht da, und nachdem ausgerechnet die vielen anwesenden Camp-TeilnehmerInnen in einer Art Mimikry nun lang genug bürgerliche Öffentlichkeit gespielt hatten, plätscherte die Veranstaltung langsam aus.
3. Moralbande gegen Staatsbande?
Journalistin: "Wie finden sie die Grenze?"
Görlitzer Einwohnerin: "Ja, die Grenze
ist scheiße. Da kommen die ganzen
Kriminellen `rüber."
Dieser eher impressionistische Veranstaltungsbericht erhebt keinen Anspruch auf Genauigkeit oder gar Vollständigkeit. Er dient nur zur Illustration der These, daß sich die an der Veranstaltung teilnehmenden Leute wieder einmal um die Zuspitzung dessen herumgemogelt haben, was sie eigentlich wollen, und zur Reflexion darüber, mit welchen konkreten Grenzen sie dabei konfrontiert sind. Aber vielleicht ist es ja ein Mißverständnis anzunehmen, daß die Teilnahme an einem derartigen Aktionscamp etwas "Politisches" ist. Vielleicht geht den meisten TeilnehmerInnen nur darum, sich zu so etwas wie eine Moralbande zu konstituieren, der es nicht um die Veränderung der Gesellschaft, sondern ausschließlich darum geht, gegen die anwesende böse und hocharmierte Staatsbande die Rolle der Guten zu spielen. Entsprechend wurden dann die bei den Aktionen - aus welchen Gründen auch immer - absolut zurückhaltend agierenden BGS-Bullen schon einfach mal so als "Mörder, Mörder" bezeichnet. Und da es ja sowieso im Grunde egal ist, was man mit Parolen versucht politisch zu äußern, ließ sich auch die alte Parole: "Deutsche Polizisten üben fleißig für ein neues dreiunddreißig" recyceln. Da man ganz offensichtlich nicht weiß, was die Realität ist, und es ja so genau auch nicht wissen will, kann man wohl auch gleich mit einer beliebigen Projektion in die Zukunft die Vergangenheit bekämpfen, damit man sich nur in der Gegenwart nicht allzu genau fragen muß, was man da eigentlich tut und will. Doch mit Verlaub: Die Realität ist 1998 auch ohne "33" schon schlimm genug, sie braucht diese Verfälschung nicht. Und das gilt besonders, wenn man sich in ihr nicht mit Hilfe der Historie bloß amüsieren, sondern politisch handeln will.
Dabei geben wir gerne zu, daß auch aus unserer Sicht gerade in der Flüchtlingsfrage nichts gegen ein Handeln aus moralisch-humanitären Motiven spricht, wenn es um eben diese Grenzen weiß. Da, wo aber genau das nicht reflektiert wird, macht man sich selbst dümmer, als man es tatsächlich ist. Im schlimmsten Fall belügen die Leute mit ihrer unreflektierten öffentlichen Praxis nicht nur andere, sondern sogar sich selbst. Und wenn man nicht wissen will, was man tut, dann muß man damit rechnen, daß man dann früher oder später von anderen gesellschaftlichen Kräften politisch gespielt zu werden.
Unser Ärger rührt vor allem daher, daß wir selbst nicht so genau wissen, was die politischen Hintergründe und Konsequenzen der aus dem kirchlichen Milieu unterstützten Parole "Kein Mensch ist illegal" sind. Und wir meinen, daß in genau dieser und keiner anderen Perspektive allemal, das vom Zaun brechen eines Streites lohnt. Im Camp wurde ein solcher Streit aber leider von niemandem organisiert.
4. Die Flüchtlinge als Projektionsfläche für das Gute ...
Wir glauben, daß es nicht nur Zufall war, daß bei dem erwähnten Pro-Fluchthilfereferat den heute konkreten Flüchtlingen in der BRD-Staat keine besondere Aufmerksamkeit, geschweige denn eine Reflexion gewidmet wurde. In diesem Beitrag blieb völlig unerörtert, inwieweit sich die gleichfalls mythisierte Figur des exklusiv politischen, antifaschistischen und antikommunistischen Flüchtlings der 30er bis 80er Jahre dieses Jahrhunderts auf die heutige Situation übertragen läßt. Und dieser "blinde Fleck" hängt sicherlich nicht nur damit zusammen, daß ein jeder in die BRD migrierte Flüchtling immer auch eine mit Haut und Haaren verkörperte Demonstration für die Attraktivität eben dieses Gesellschaftsmodells ist; eines Gesellschaftsmodells, von dem wir doch denken, daß es nicht das "Ende der Geschichte" sein kann und auch nicht soll.
In der Mobilisierungszeitung für das Camp beschreiben die Kampagnen -Aktivisten Flüchtlinge als diejenigen, "die vor Hunger, Ausbeutung und Krieg fliehen, die in ihrem Herkunftsland keine Chancen mehr sehen, ihre Heimat verlassen müssen, die Mühen und Strapazen einer oft tausende von Kilometern langen Flucht auf sich nehmen". Unmittelbar nach dieser Beschreibung nehmen sie eine unmißverständliche Bewertung vor: "Wir bewundern den Mut, die Ausdauer und die Entschlossenheit dieser Menschen."5 Auch wenn schon im Begriff der Bewunderung sowohl identifikatorische Projektion als auch Distanz angelegt ist, so sind diese Aussagen insoweit richtig, daß niemand "nichts als bloß armer Teufel" ist, "der es über alle geographischen Entfernungen und administrativen Hürden bis zur deutschen Grenze schafft. Er hat Strapazen ausgehalten, unter denen wir zusammenbrechen würden, er hat sich durchgeschlagen, wo unsereiner resignieren und kapitulieren würde. Er hat erfolgreich ein Überlebenstraining absolviert, wie es bei manchen Firmen heute zum Selektionsverfahren für Führungskräfte zählt."6 Das klingt vielleicht beim ersten Lesen zynisch, ist es aber nicht, wenn man sich noch einmal an Erfahrungen aus der autonomen Flüchtlingsunterstützungarbeit der 80er Jahre erinnert. In ihnen wurde "offensichtlich (...), daß unter den in die BRD gelangten Flüchtlingen viele der Mittel- oder Oberschicht entstammen (meist sind nur in diesen Schichten die finanziellen Möglichkeiten für eine Flucht nach Europa gegeben) und somit die politischen Ziele und Interessen der Flüchtlinge und ihrer linken UnterstützerInnen - jenseits der Forderung nach Aufenthaltsrecht - weit auseinandergehen."7 Da wir glauben, daß diese Feststellung auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann, finden wir es politisch fehl am Platze, den "Mut, die Ausdauer und die Entschlossenheit" von Flüchtlingen bewundern zu sollen. Unseres Erachtens sollte die Frage, ob die Flüchtlinge mutig, gar mutiger als wir selbst sind, oder ähnliche Erwägungen über die 'Qualität' dieser Menschen nicht den Ausschlag für unser Engagement geben. Auch finden wir es absurd, "für die Flüchtlinge" zu sein, als könnten wir diesem Status irgend etwas Positives abgewinnen. Letztlich finden wir es politisch angebracht, für das freie Aufenthaltsrecht aller Menschen überall auf der Welt zu sein, so daß der Status "Flüchtling" endgültig in Vergessenheit geraten soll.
5. ...doch das freie Aufenthaltsrecht im öffentlichen Raum wird nicht nur Flüchtlingen entzogen
Es ist ein Mißverständnis zu glauben, von den Beschränkungen des Aufenthaltsrechtes hier wären nur und ausschließlich Flüchtlinge betroffen. Dieses Mißverständnis wird zwar noch eine Zeitlang aus durchsichtigen Interessen gerne von der herrschenden politischen Klasse erweckt werden, ist aber trotzdem eins. Erinnern wir uns nur daran, daß während der 96’er Chaos-Tage in Hannover kurzerhand und einfach so das Aufenthaltsrecht für "Punker" - wer immer das juristisch sei - suspendiert wurde. Der Kern der vom Bundesverfassungsgericht im Mai 1996 verkündeten Asylrechtsentscheidung besteht ganz offensichtlich darin, nicht nur Flüchtlingen die Rechtsstaatsgarantie zu entziehen, sondern auch darin, staatliches Handeln in Zukunft von jeder juristischen Kontrolle freizustellen. Diese Entscheidung begünstigt eine aktiv vorangetriebene gesellschaftspolitische Entwicklung des Ausschlusses der Massen nicht nur aus der Politik, sondern überhaupt aus jeder Form der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Und dabei ist die Politik der Kriminalisierung der Armut in den Metropolen - für die die Millionen zählende, im Gefängnisstaat USA eingekerkerte Knastbevölkerung gruseliges Anschauungsmaterial liefert8 - das Spiegelbild einer Entwicklung, in der gerade sogenannten "Fremden" Bürgerrechte hier gar nicht erst gewährt werden.
Deshalb ließe sich gerade im Zusammenhang des "Aufenthaltrechts" in Görlitz und anderswo über das ganz harte eigene Interesse öffentlich sprechen, im Angesicht des sukzessiven Entzuges von Rechtsstaatgarantien nicht selbst eines Tages ähnlich rechtlos gemacht, gesellschaftlich stigmatisiert, "denunziert" und danach vom Staatsapparat weggefischt, körperlich gequält und nach nirgendwohin abgeschoben zu werden. Und gerade vor dem Hintergrund des nackten Interesses, in diesen doch etwas bedrohlich gewordenen Verhältnissen die "eigene Haut zu retten" müßte unsere "Politik" neu durchbuchstabiert, d.h. immer auch aufgeklärt werden.
6. Friedlichkeit und Widerstand?
"Das ist hier eine friedliche Aktion!"
Lautsprecherdurchsage in Bad Muskau, als sich behelmte BGS-Bullen an Demonstranten vorbeidrängelten
Auch wenn es sich im Rahmen des Aktionscamps nicht um besonders "militante" Aktionen gehandelt hat, so bedeutet das noch lange nicht, daß sie damit auch in irgendeiner Weise "friedlich" waren. Daß es dennoch in jener Situation zu der Wahl dieses Begriffes kam, ist dem Umstand geschuldet, daß man meinte sich in einem kurzen Moment möglicher Konfrontation mit den BGS-Bullen auf die Position, "daß wir es doch gut meinen", zurückziehen zu müssen. Subjektiv ist da immer eine ganze Menge verständlich, aber nicht nur politisch ist gut gemeint immer das Gegenteil von gut. Es ist einfach nicht richtig, Happeningaktionen, die bewußt nicht gemeinsam mit den Bullen vorbereitet wurden, mit einem Begriff zu maskieren, der die doch angestrebte politische Konfrontation verschleiert, - die aus BGS-Sicht schlicht darin besteht, daß eben diese Aktionen "illegal" sind.
Wenn wir für die während des Camps laufenden Aktionen eher den Begriff "Happeningaktionen" verwenden und nicht bereit sind, den beispielsweise mehrfach in dem JuWo-Artikel verwendeten Begriff "Widerstand" zu benutzen, so bestimmt nicht deshalb, um sie in ihrer Bedeutung zu schmälern. Vielmehr geht es darum, nicht mit falschen Begriffen die faktischen Grenzen zu verwischen, denen die weitgehend öffentlich vorbereiteten Aktivitäten des Aktionscamps nun mal unterlagen. In einem politischen Sinne macht die Verwendung des Begriffes "Widerstand" nur dann Sinn, wenn darunter immer auch das Stellen der Machtfrage verstanden wird. Mit Verlaub: Hätten die TeilnehmerInnen des Aktionscamps gegenüber den zahlreich aufgefahrenen wie militärisch armierten BGS-Bullen die Machtfrage gestellt, es hätte für niemanden einen Zweifel daran geben können, wer als Sieger daraus hervorgegangen wäre. Das gleiche gilt übrigens für das in der Tat komplizierte Verhältnis zu einer gegenüber dem politischen Anliegen des Camps weitgehend passiven oder feindseligen Bevölkerung. Um es noch einmal zuzuspitzen: Aus unserer Sicht stellen sich weder in Rothenburg, Görlitz noch anderswo in dieser Gesellschaft derzeit politische Machtfragen, und an der Frage des Umganges mit Flüchtlingen schon gar nicht. Klar, daß gerade beim rassistisch motivierten staatlichen Umgang mit Flüchtlingen erheblich mehr protestiert, verhindert und blockiert werden müßte, als es derzeit der Fall ist. Wer aber meint, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsaktionen "Widerstand" nennen zu müssen, nimmt nicht nur sein Wünschen für die Realität, sondern stellt damit die Machtfrage auf dem Terrain des Gegners. Mit dieser gesellschaftspolitischen Blindheit kann man aber nur verlieren. Vielleicht mag diese Kritik auf den ersten Blick als Begriffsklauberei erscheinen. Doch wer meint, Begriffe einfach so auf`s geratewohl in den Raum schieben zu können, der gibt nicht nur ein gesellschaftspolitisches Kampfterrain auf, sondern stiftet zu den fremden Leuten, die doch mit Hilfe von Aktionen aufgefordert werden, sich politisch mit dem geltend gemachten Anliegen assoziieren zu sollen, nur Verwirrung. Aus diesem Grunde ist es keineswegs egal, in welchen Begriffen man politisch kämpft.
7. Erfolg, Lüge und aufgegebenes Kampfterrain
Auch wenn auch wir finden, daß es keinen Grund dafür gibt, über den Verlauf des Camps "in Sack und Asche" zu gehen, so müssen wir uns doch über eine Aussage wundern: "Als voller Erfolg wurde die Aktionswoche von den InitiatorInnen der Kampagne `Kein Mensch ist illegal!’ eingestuft." (JuWo) Was bitte ist der Maßstab für diesen "Erfolg"? Im Sinne einer im Vergleich zu Greenpeace-Ressourcen allemal als Low-Budget-Kampagne zu bezeichnenden Aktionsmanagements ist diese Aussage ja zweifellos richtig. Insofern es also um den bloßen Fortbestand der Kampagne und nicht um Politik geht, war das Camp sicher nützlich. Voraussetzung von "Erfolg" in einer derart eng geführten Form bleibt allerdings, daß sich auch in Zukunft genügend Leute nicht zu viele selbständige politische Gedanken machen, wenn sie ihre Körper als Kampagnen-Aktionsgefäße zur Verfügung stellen. Diese Form von Erfolg schafft auf jeden Fall keinen Grund zur Beunruhigung. Man kann es aber auch mehr als beunruhigend finden, daß nicht versucht wurde, die zwischen den CampteilnehmerInnen unbezweifelbar vorhandenen Differenzen in die organisierte Kommunikation und Auseinandersetzung zu bringen. Bitte schön: Welche politischen Perspektiven sind in die Parole "Kein Mensch ist illegal!" genau eingeschrieben, und wenn sie sich (noch) nicht formulieren lassen, was bedeutet das für das Handeln heute? Wer meint, das sei doch "eh’ alles schon klar", der belügt nicht nur andere, sondern sogar sich selbst. Nebenbei gibt er ein eminent politisches Kampfterrain auf, das darin besteht, daß wir uns gegenseitig die Karten darüber legen, was wir eigentlich gemeinsam politisch wollen. Wäre das im Verlauf des Camps geschehen, wären die Leute nach seinem Ende anders an ihre Wohnorte zurückgekehrt. Das Aktioncamp hat aber genau diesen - man verzeihe uns diesen altmodischen Begriff! - Politisierungsprozess für seine TeilnehmerInnen nicht geleistet, wovon die Münchener und Hanauer Gruppe mit ihrem in der Tat etwas undeutlichen Begriff der "weitergehenden Perspektiven" gesprochen haben. Was hat eigentlich das Camp mit den Camp-TeilnehmerInnen selber gemacht, außer in den Köpfen Aktionsanekdoten zu hinterlassen? Wir können das auch deshalb nicht beantworten, weil genau darüber im Camp nicht gemeinsam diskutiert wurde - vielleicht weil zu ahnen war, wie weit man dann tatsächlich voneinander entfernt ist. Wer nun spontan einwenden mag, daß dafür während des Camps "einfach die Zeit gefehlt" habe, der hat noch nicht begriffen, daß "Zeit" niemals einfach nur da ist, und dann auch einmal ganz plötzlich "fehlt", sondern selber zuvor durch mehr oder weniger bewußt gefällte Entscheidungen auf- und ausgefüllt ist. Wenn man sich in den Camp-Vorbereitungen zuvor darauf verständigt haben sollte, Politikverzicht zu üben, dann müssen wir das respektieren, auch wenn wir damit nicht einverstanden sind. In dieser Hinsicht war das Camp für uns jedenfalls kein Erfolg.
8. Kommt noch irgend etwas und wohin geht`s weiter?
Der kleinste Kontinent der Welt ist auch nach `89 immer noch geteilt. Und so wie die Mauer als Trennlinie zwischen Freedom, Democray und Kapitalismus auf der einen, und realem Sozialismus, Gerechtigkeit und Planwirtschaft auf der anderen Seite nach nicht einmal 30 jähriger Existenz zerbröckelt ist, so sicher ist es, daß irgendwann auch einmal die Oder-Neiße Grenze als räumliche Trennlinie zwischen den Reichen und den Armen auf der Welt fallen wird. In welcher Perspektive aber diese Mauer fallen wird, steht völlig dahin und ist in hohem Maße davon abhängig, wie heute politisch argumentiert und gehandelt wird. Genau diese Frage hat uns ja auch in diesem Artikel umgetrieben. Aber auch weil wir finden, daß "Politik" noch lange nicht alles ist und nach unserem Verständnis auch niemals sein soll und darf, können wir uns in diesem Sinne in der Zukunft vorbehaltlos dem anschließen, was in der bereits ausführlich zitierten Mobilisierungszeitung der Kampagne "Kein Mensch ist illegal" so ausgedrückt wurde: "Der Kampf gegen die Grenzen ist ein Kampf gegen Infrarotkameras, Plastikfesseln und Grenzschleier. Aber auch gegen Borniertheit, Ressentiment und Rassismus. Wir wissen, dieser Kampf ist niemals aussichtslos, und nichts kann schließlich Auskunft darüber geben, wie und wo sich die Menschen finden würden, wenn man sie nur ließe."
Lotte und Kurt Rotholz

Anmerkungen
1 Die richtige Antwort auf diesen Tip lautet: "Wieso, wir sind hier doch schon in Russland!"
2 Kampagnenzeitung "Kein Mensch ist illegal", Nr. 2, Juni `98, S. 3
3 Über die Bedeutung und den aktuellen Funktionswandel des BGS nicht nur an der `Ostgrenze’ hat Helmut Dietrich eine materialreiche Abhandlung unter dem Titel: "Feindbild ‘Illegale’. Eine Skizze zu Sozialtechnik und Grenzregime" in der Zeitschrift Mittelweg 36, Juni/Juli 1998, S. 4-25 verfaßt
4 Kampagnenzeitung a.a.O, S. 2.
5 Kampagnenzeitung a.a.O, S. 3
6 Mr. Pohrt in Konkret 8/1998, S. 23
7 Aus der von einer Redaktionsgruppe verfaßten Einleitung zu dem Kapitel XII über die "Flüchtlingspolitik" der Revolutionären Zellen (RZ) in: "Früchte des Zorns", Amsterdam 1993, Bd. 2, S. 527. Überhaupt scheinen die einmal sehr instruktiven Gedanken um die Rolle von Flüchtlingen in einer von den RZ Mitte der 80er-Jahre angefangenen "Freies Fluten-"Flüchtlingspolitik spätestens seit dem "freien Fluten" Westeuropas durch die osteuropäische Massenarmut zu Beginn der 90er Jahre irgendwie abgebrochen, und im nirgendwo stecken geblieben zu sein. Bei anderer Gelegenheit sollten noch einmal die bis in die vorläufige RZ-Abschlußdebatte 91/92 reichenden Positionierungen mit dem Ziel nachgezeichnet werden, die von den RZ-Analysen gemachten falschen Voraussetzungen, Naivitäten und unpolitischen Betrachtungsweisen herauszuarbeiten.
8 Loic Wacquant: "In den USA wird die Armut bekämpft, indem man sie kriminalisiert" in Le Monde Diplomatique, Juli 1998, S. 8/9


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