Die Würde des Hauptbahnhofes ist unantastbar

Über die Verschandelung des Stadtbildes durch überflüssige Menschen - und das Vorgehen der Polizei für porentiefe Reinheit


Seit einigen Jahren kommt altes kaiserliches Polizeirecht wieder zu neuen Ehren: Platzverweise, Gebietsverbote und Ingewahrsamnahmen. Wurden im Hohenzollernreich noch Roma und Sinti vermittels Stadtverboten ganz legal von einer Stadt zur nächsten vertrieben, so gelten die Blankochecks zur polizeilichen Repression heute anderen mißliebigen Menschengruppen, die des Verschandelns von Straßenbildern verdächtigt werden. Spektakuläre Fälle wie die Chaos-Tage in Hannover, wo jede Bunthaarige als potentielle Ruhestörerin der Stadt verwiesen wurde, demonstrieren nur, was für andere Gruppen, insbesondere Junkies und Dealer, alltägliche Realität ist. Denn die polizeiliche "Gefahrenabwehr" ist eine hervorragende Ermächtigung, Strafen zu verhängen, die nicht nur von keiner RichterIn bestätigt werden müssen, sondern denen nicht ein-mal ein Tatbestand vorausgehen muß. Zur Vollstreckung reicht der Verdacht, und zum Verdacht reicht die Zugehörigkeit zur ausgemachten Risikogruppe. Und weil es ja im Auge auch des liberalen Bürgers irgendwie den Richtigen trifft und dazu nicht wirklich schwer, regt sich gegen die schleichende Aufhebung des Rechtsstaats auf seiner eigenen Grundlage kaum nennenswerter Widerstand. Wie modern diese Tradition ist, läßt sich am Beispiel der Hamburger Politik zur Zerschlagung offener Drogenszenen beispielhaft belegen.

Junkiejogging: Vom Hansaplatz zum Hauptbahnhof

Anfang der 90`er entdeckten Hamburgs Presse und Politiker ein Problem: die offene Drogenszene am Hansaplatz in St. Georg. Dort hielten sich Junkies auf, die Heroin konsumierten und auch beschafften. Und wenn eine Menschengruppe zum Problem erklärt wird, liegt die Lösung meist auf der Hand: Medial eindrucksvoll löste die Polizei die Szene auf, vertrieb die Szene und gebahr das Hamburger Credo, der " Verfestigung offener Szenen" Einhalt zu gebieten. In der Folge dezentralisierten sich die Junkies mal und hielten sich in Hauseingängen auf, mal eroberten sie sich einen neuen Platz und wurden wieder vertrieben, bis sie schließlich dort angekommen waren, wo der Hamburger Senat sie erst recht nicht haben wollte: direkt vor der gerade neueröffneten ästhetischen Zumutung "Wandelhalle" des Hamburger Hauptbahnhofes. Die Berufung auf die Interessen der AnwohnerInnen St. Georgs bei dieser Vertreibungsorgie war und ist bis heute dabei recht pikant. Im Gegensatz zu den NormalbürgerInnen oder auch, wie im Bremer Ostertor, den Alternativviertel- AnrainerInnen spendeten sie der Zerschlagung keinesfalls den erhofften Beifall. Zwar hatte es die üblichen Beschwerden wegen aggressiven Dealens und der Okkupation öffentlicher Räume gegeben, doch zielten diese Proteste zumeist auf einen Interessenausgleich zwischen Junkies und BewohnerInnen, sowie auf Fixerräume und eine vernünftge Drogenpolitik. Doch was dem Hamburger Senat zu schaffen machte, war weniger der ohnehin sozial abgeschriebene Stadtteil gewesen, denn die Befürchtung, daß auch ungebetene Gäste, nämlich DrogengebraucherInnen aus dem Hamburger Umland über den nahegelegenen Hamburger Hauptbahnhof einströmen könnten.

Mit Sicherheit und Ordnung gegen die Szene

Nach dem eklatanten Scheitern der bisherigen Szenevertreibungspolitik wurde die Strategie geändert. 1991 wurde die Revierwache am Hauptbahnhof um die berüchtigte E-Schicht aufgestockt. Zeitgleich trat das neue Hamburger Sicherheits-und Ordnungsgesetz (SOG) in Kraft, das seinem reaktionärem Namen alle Ehre macht. Es gab der Polizei die Instrumente der Platzverweisungen und Ingewahrsamnahmen in die Hand, die formal zur Abwehr unmittelbarer Gefahren bzw. Straftaten (bei Inbgewahrsamnahmen) dienen, real aber dem Prinzip der chinesischen Wasserfolter gleichen: Mit vielen kleinen Maßnahmen sollte die Szene effektiver bekämpft werden als mit großen Razzien und strafrechtlicher Verfolgung (die aufgrund der in Frage stehenden geringen Mengen an Heroin sich ohnehin kaum mehr durchsetzen ließe). Denn Platzverweise und Ingewahrsamnahmen, zeitlich auf vier bis zwölf Stunden befristet, lassen sich in polizeilicher Souveranität vollstrecken, gegen die zumeist nur nachträglich gerichtlicher Widerspruch erwirkt werden kann, und Verdachtsmomente auf unmittelbar bevorstehende Gefahren oder Straftaten lassen sich im polizeilichen Blick aus dem Äußeren des Verdächtigen und seines Verhaltens unmittelbar ableiten. Daß auch in St. Georg gemeldete Junkies vom Platzverweisen betroffen und damit praktisch unter Hausarrest gestellt werden; daß Junkies daran gehindert werden, ÄrtztInnen, Apotheken, Sozial- und Arbeitsämter und Be-ratungsstellen aufzusuchen; daß in Gewahrsam genommene Junkies in Haft einen kalten Entzug erleiden - das alles gehört zu den billigend in Kauf genommenen Abschreckungsmaßnahmen. Und das diese Maßnahmen in erster Linie Dunkelhäutige treffen - je dunkler die Hautfarbe, desto häufiger - überrascht dabei nicht. Und genauso gehören zur gesetzlichen Ermächtigung der polizeilichen Willkür die kleinen Gesetzesbrüche. Rassistische Beschimpfungen und Mißhandlungen bis hin zur Folter von als "dealenden Asylanten" Verdächtigten sind aktenkundig und führten zwar zum Sturz des Polizeisenators Hackmann, nicht aber zur endgültigen Suspendierung der Bullen. Schließlich hatten diese dem Geist des Gesetzes gegenüber durchaus konform gehandelt.

Legalize Platzverweis

Einige Hamburger Richter mochten sich der Generalermächtigung der Polizei nicht recht anschließen und hoben mehrere Maßnahmen wieder auf mit der Begründung, weder sei die Teilhabe an der Drogenszene eine Gefahr im Sinne des SOG (das vielmehr für Fälle wie Abschirmung Schaulustiger bei Katastrophen u.ä. zugeschnitten sei) noch die Maßnahmen geeignet zur Gefahrenabwehr - zur Abwehr der Straftat "dealen" sei es z.B. hinreichend, die Drogen anzunehmen. Auf diese Schlappen reagierte der neue Polizeisebnator Wrocklage auf zweierlei Weise: Zum einen wurde die Praxis des Ingewahrsamnehmens fast vollständig auf "Durchsetzung von Platzverweisen" beschränkt. Dafür wurde die Platzverweispolitik heftig ausgeweitet: Nach der Verkündung des "Handlungskonzeptes St. Georg" im Juli 1995 wurden bis heute über 53.000 Platzverweise ausgesprochen, darüberhinaus 17 "Gebietsverbote", d.h. mehrere Monate lang gültige Aufenthaltsverbote im Gebiet um den Hauptbahnhof, die rechtlich kaum gedeckt sind. 232 Menschen wurden darüber hinaus wegen Drogenhandels abgeschoben, wie die SPD stolz auf ihren Wahlplakaten verkündet. Die staatliche Politik hatte nämlich einen neuen Feind ausgemacht, den "Intensivdealer". Dieser meist Minderjährige, selbst angeblich nicht User, soll, so will es das verbreitete rassistische Imago, gezielt zum Zwecke des dealens in die BRD gekommen sein; real handelt es sich um geflohene Jugendliche , die, auf sich selbst zurückgeworfen, die gefährlichen Kleindeals auf der Straße durchziehen. So verkündete Wrocklage einige Zeit später stolz, das Straßenbild werde nicht mehr nicht von den störend agierenden Gruppen minderjähriger schwarzafrikanischer und kurdischer Dealer beherscht; der Feld-, Wald- und Wiesenrassist hätte seine Wünsche wohl nur nicht so elegant formuliert.

Zum zweiten soll aber eine Novellierung des SOG die bisherige illegale Praxis der Ingewahrsamnahmen legalisieren: Wenn eine betroffene Person bereits früher auffällig geworden ist und nach den Umständen eine Straftat (nicht mehr unmittelbar !) bevorsteht, soll sie zukünftig von der Polizei mitgenommen werden können. Damit wird zum einen der reine Strafcharakter der vorgeblichen Maßnahme zur Gefahrenabwehr expliziter formuliert, zum anderen aber auch die von den Nazis geschätzte Rechtsauffassung des Wesens des Verbrechers angewandt. Denn wer einmal eine Straftat beging, hat damit seine charackterliche Veranlagung zur Wiederhohlung hinreichend unter Beweis gestellt. Zusammen mit der Generalermächtigung, daß Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zukünftig auch dann gerechtfertigt sein sollen, sollte die Maßnahme die Gefahr nur "vermindern", wird der Straßenverschönerung mit dem Knüppel Tür und Tor geöffnet. Die praktische Hinwendung zur Polizeiwillkür gegen mißliebige Einzelne wird aus der Grauzone der Halblegalität in die strahlende Sonne der gesetzlichen Absicherng erhoben, und nur zu passend ist es da, daß ein Mitarbeiter der Grünen, der die von den Repressalien Betroffenen per Flugblatt auf ihre Rechte hinwies, von allen anderen Parteien und der Presse mit dem härtesten Verdikt belegt wird, daß Deutschland derzeit zu bieten hat - "Dealerfreund", dem das Handwerk gelegt werden muß (Christier, MdBü der SPD).

Der Rechtsstaat als Modernisierungshemmnis

Natürlich trifft die ständige Szenezerschlagung die Junkies und DealerInnen am heftigsten und unmittelbarsten. Neben der beschissenen sozialen und gesundheitlichen Lage jener, wie sie durch das Heroinverbot erst produziert wird, leben die Betroffenen auch in ständiger Unsicherheit, ob und was die Staatsmacht mit ihnen vorhat. Werden sie aus ihrer Szene vertrieben, steigt nicht nur der Beschaffungsstreß unerträglich, sondern sie werden auch aus den letzten ihnen verbliebenden sozialen Zusammenhang gerissen. Und natürlich trifft es die, die rassistischen Feindbildern genügen, am schlimmsten - ihr bloßer Aufenthalt an bestimmten Orten stellt sie unter Generalverdacht und der rassistischen Polizei zur Verfügung. Nicht zuletzt droht jeden Moment ihr Traum eines besseren Lebens, so sie ihn durch Versorgung der Junkies mit ihrem notwendigen Konsumgut zu erfüllen trachteten, in der Abschiebung unwiderruflich zu zerplatzen. Aber auch die Lex St. Georg hat auch Folgen für die, die mit Drogen nichts am Hut haben.

Die Veränderung des SOG steht im Zusammenhang jenes Konzeptes "vorbeugender Verbrechensbekämpfung", welches die Bundesregierung seit geraumer Zeit verfolgt. Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht nach der Verabschiedung der Gesetze gegen die "Organisierte Kriminalität" und des "Verbrechensbekämpfungsgesetzes", nach der Installierung europaweiter Computersysteme zur massenhaften Datensammelei und mit der geplanten Verabschiedung des "großen Lauschangriffs" nicht mehr die aufzuklärende Straftat, sondern der potentielle Straftäter. Gegen diesen darf ermittelt werden, ohne daß überhaupt ein Anfangsverdacht vorliegt. Vielmehr sollen aufgrund ihres Verhaltens, Umgang etc. suspekte Personen darauf überprüft werden, ob sie vielleicht einmal eine Straftat begangen haben - oder erst begehen werden. Mit dem Herzstück liberaler Rechtsstaatlichkeit, der Unschuldsvermutung bis zum Nachweis der Schuld, ist es nicht mehr weit her. Vielmehr gilt den Herschenden: "No one is innocent", alle sind potentielle Schuldige, die der Staatsmacht ihre Unschuld unter Beweis zu stellen haben.

Im Falle des SOG ist es sogar noch einfacher, da die Schuldfrage gar nicht mehr gestellt werden muß. Wer dem polizeilichen Blick ausgesetzt wird, ist in ihrer Hand. Die bloße Teilnahme an der Junkie-Szene, zulanges Verweilen dort oder Gespräche mit den falschen Personen, können den Vollzug auslösen. Der oder die einzelne haftet individuell für das, was seinem (vermeintlichem oder realem) Kollektiv angelastet wird. Denn nur dadurch, daß eineR zur falschen Gruppe gehört, wird er verdächtig. Nur dadurch, daß eine einzelne Handlung wie Schnorren oder Spritzen Wegwerfen im Zusammenhang mit einer Gruppe, der diese Handlungen als für sie konstitutiv zugeschrieben werden, vollführt wird, wird sie von einer Lapalie zu einer "Störung der öffentlichen Ordnung". Und nur dadurch, daß ein bereits einmal aktenkundig gewordener Mensch sich dieser Gruppe nähert, wird er zum natural-born-criminal, der vorläufig aus dem Verkehr zu ziehen ist. Zwar trifft das polizeiliche Vorgehen gegen das als Störung ausgemachte Kollektiv immer noch den vereinzelten Einzelnen, doch nicht mehr als berechenbare Ursache eines individuellen Verhaltens, sondern mit der unvergleichlichen Macht der Willkür. Um ihr nicht ausgeliefert zu sein, muß der Bürger das, was einstmals Privatsphäre hieß - nämlich die Art sich zu kleiden, die Entscheidung, wo man sich aufhält und mit wem man sich trifft - der Staatsmacht offen als Faustpfand seiner Unschuld zur Schau stellen.

Einher mit der Veröffentlichung der Privatsphäre geht auch eine seltsame Privatisierung einstmals öffentlichen Raums. Straßen und Bahnhöfe, Symbole der Zirkulation von Menschen, die ungeachtet der sozialen Stellung jeder beanspruchte, werden bestimmten Menschengruppen verwehrt, die die anderen in ihrem Wohlbefinden stören könnten - oder wie in den USA die Slums ihnen ganz und gar überlassen. Die Straßen, wo Warenaustausch stattfindet werden mehr und mehr von Einkaufszentren substituiert, über die das Hausrecht des Privatbesitzers wacht. Per Bahn das Recht auf Mobilität wahrnehmen dürfen nur noch jene, die auch in der Schlemmermeile der "Wandelhalle" nicht unangenehm auffallen, genauso, wie Stillstand in diesen Räumen gleichgeschalteter Geschwindigkeit suspekt ist. Folgerichtig wird das öffentliche Gewaltmonopol um die "privaten Sicherheitsdienste" genannten Schlägerbanden ergänzt, die keinerlei Kontrolle mehr unterstehen. Ganz in diesemSinne schlug DB-Chef Gütt unlängst vor, den Bahnhoftsvorplatz dort, wo die Szene sich aufhält, doch einfach an die Deutsche Bahn zu übertragen - damit deren hauseigene Büttel dort ungestört aufräumen können.

Dem Bürger allerdings ist's recht so. Unterm Diktat der Kapitalverwertung sind die Individuen schon länst austauschbare Anhängsel der Maschinerie geworden, in der ihre Lebenszeichen, so sie nicht unmittelbar verwertbar sind, Verdacht erregen. Seit geraumer Zeit steht das Menetekel der Austauschbarkeit und Überflüssigkeit nicht mehr bloß in den hungernden Ländern der Dritten Welt sondern direkt vor des Bürgers Haustür: Der menschliche Ausschuß, den das Kapital in Zeiten struktureller Massenarbeitslosigkeit nicht mehr integrieren kann. So ist er froh, von der Herrschaft, von der er auf Gedeih und Verderb abhängig ist, bestätigt zu bekommen, daß seine Zeit noch nicht gekommen ist, daß noch er es nicht ist, der das ganze stört, sondern die anderen - Junkies, Punks usw. Als besonderes Bonbon aber überkommt es ihn, wenn aus den überflüssigen anderen auch noch die Feinde werden. Dann kann er zum Kampf gegen die Störer der öffentlichen Odnung und ihren perfiden Hintermännern den aus aller Welt zum Schaden des deutschen Volkes eingeschlichenen Dealern rüsten, und das bewährte Bündnis von Mob und Elite, das in Deutschland Volksgemeinschaft heißt, schmieden. Und diesem Bündnis gilt es das Handwerk zu legen.

Gruppe Ratio Rausch und Revolution & Bundesarbeitskrei Drogen der JungdemokratInnen/Jungen Linken


Zeck vom September 1997