Timur und sein Trupp: Interim 459/1998 [ zurück ]

Eine Scheibe Schinken ?

Im Unterschied zu Millionen hier lebender sogenannter "Ausländer" haben wir als Inhaber deutscher Personalausweise eine Wahlbenachrichtigung erhalten. Darin werden wir aufgefordert am 27. September für ganze zehn Stunden, für einen kurzen Moment in einer nicht besonders großen Wahlkabine eingepfercht, die "Macht" mit einem Stimmzettel auszuüben. Danach soll sie dann wieder für die nächsten vier Jahre futsch sein. Schönen Dank auch. Aber immerhin: Nach der bürgerlichen Revolution haben wir wenigstens ein Wahlrecht, und so können wir uns überlegen, was wir damit machen können. Mittendrin sind wir dann in den schönsten Spekulationen, wie der Bundestag im Oktober `98 aussieht, bei denen man allzuleicht vergißt, wie zynisch die Geschäftsgrundlage dieser sind. Denn auch bei dieser Wahl stimmen wir nicht über die Frage von Herrschaft oder Befreiung ab, sondern über die Postenverteilung verschiedener oligarchischer Gruppen der pluralen Fassung der bürgerlichen Einheitspartei.

Kanzler?

Das hatte man sich im Oktober des Jahres 1982 auch nicht träumen lassen, daß einem die damalige Witzfigur Kohl im Angesicht der trostlosen personellen Alternativen am Ende dieses Jahrhunderts irgendwie noch einmal sympathisch werden würde. Dabei illustriert der wesentlich von der Bild-Zeitung gehypte Aufstieg Schröders erstens, daß sich in der SPD seit Helmut Schmidt nicht viel geändert hat, und das zweitens gegen das Medienkapital der ach´ so freien Monopolpresse in diesem Land niemand Kanzler werden kann.

Dabei ist eine bestimmte Postenverteilung innerhalb der pluralen Fassung der Einheitspartei nicht völlig bedeutungslos. Es macht für die Leute unten sehr wohl einen Unterschied, ob ein Kanzler, der bekanntlich laut Verfassung in diesem Land "die Richtlinien der Politik bestimmt", und an deren Umsetzung tagein tagaus, tausende von Charaktermasken arbeiten, sich gezwungen sieht, "mehr Demokratie wagen" zu formulieren, oder wie Schäuble das Gegenteil davon: "Weniger Demokratie wagen." Klar ist heute nur, daß egal welcher Kanzler nach Kohl folgen wird, ob nun Schröder, Schäuble oder Rühe, er in Habitus und Praxis, analog zu den Verhältnissen in der BRD politisch rechts von diesem stehen wird. Und mit Verlaub: Die an den Mob ergangene Aufforderung "kriminelle Ausländer an den Kragen zu packen, und dann `raus!" hat Schröder gesagt, nicht Kohl.

Doch abgesehen davon, werden sowohl Kohl als auch Schröder eine Politik betreiben, die den Leuten unten weiter das Geld aus den Taschen ziehen wird - sofern sie sich nicht kollektiv zusammenschließen, um sich zu wehren. Allerdings, und das ist das beunruhigende an Schröder, legt dieser in Sachen Sozialkürzungen nicht nur erheblich mehr Aggressivität an den Tag als Kohl, sondern verfügt auch durch das Netz von Gewerkschaften und Sozialbürokratie über einen erheblich besseren Einblick in die noch vorhandenen Möglichkeiten derjenigen, die über kein hohes Einkommen verfügen. In den USA und Großbritannien sind es ja gerade die "linken" Systemkandidaten, die durch gravierende Verschärfungen des Zwanges zur Arbeit auf dem Arbeitsmarkt das zuende brachten, worin sich die politische Kraft der neoliberalen Derregulierungsideologie erschöpft hatte.

Störgrößen?

Mit Ausnahme einer rechtsradikalen Basisbewegung und ihres klaren terroristischen Barbarisierungsprogramm existiert aktuell keine andere politische Größe in diesem Land, die ein heraus aus dem Verkehrs- und Organisationsformen der bürgerlichen Gesellschaft formuliert. Zeitweise haben die Grünen in den 80er Jahren auf der Bühne des formalen politischen Systems soetwas wie eine nicht genau zu berechnende Störgröße dargestellt. Doch nun haben sie sich einen Platz in den Institutionen staatlicher Herrschaft gesichert. So repräsentiert diese Partei als Form nur noch so etwas wie eine negativ-abstrakte "systemische Intelligenz" des Metropolenkapitalismus, die als eine Art ideelles Gesamtinteresse, sowohl um die Knappheit von Ressourcen, als auch um die Notwendigkeit neuer Formen ihres Managements kreist. Im Klartext: Eine radikale Umwälzung der Technostruktur gerade im "Energie- oder Verkehrsbereich" in der Metropole ist keine lediglich exklusive "politische" Angelegenheit zwischen "Links" oder "Rechts", sondern im Selbsterhaltungsinteresse des Kapitalismus notwendig. Doch dabei ist es fast völlig egal, wer diesen Umstrukturierungsprozeß politisch organisiert, da das Kapital aus sich selbst heraus dazu nicht in der Lage ist, und einer politischen Moderierung bedarf. Ob das allerdings ausgerechnet von Grünen tatsächlich geleistet werden kann, ist deshalb fraglich, weil diese Partei zugleich mit den Wirkungen der von ihr erreichten wahlpolitischen "Erfolge" konfrontiert ist, die zugleich ihre Entsubjektivierung besorgen. Und die hat Folgen nicht nur am Beispiel des Korruptionskandals in Hessen, wo unter der von dieser Partei programmatisch hochgehaltenen Fahne von "Entstaatlichung" und "ziviler Gesellschaft" öffentliche Staatstöpfe schlicht für die eigene Klientel privatisiert wurden. Dabei droht die Entsubjektivierung die Grünen als eine politische Formation selbst aufzufressen, wie es an dem eigentümlichen Gebrauch staatlicher Macht durch den von den von dieser Partei gestellten Ahaus-Bullenpräsidenten Schlimber deutlich wurde. Der meinte sich doch tatsächlich vor "Gorlebener Verhältnissen" fürchten zu müssen, um danach ganz praktisch nicht nur den potentiellen Grünen-Nachwuchs, rechtsstaatlich zusammenzuprügeln, wie auch zugleich die "Castor-Transport-Kosten" deutlich zu senken. Diese Beispiele illustrieren, daß die Grünen auch öffentlich sichtbar ohne eigene innere Uhr und ohne ein eigenes Prinzip agieren. Kein Wunder, das mittlerweile ein Großteil der grünen Bundestagsfraktion öffentlich mit CDU-Kriegsminister Rühe gegen ihren eigenen Parteivorsitzenden geht. Die Grünen verfolgen kein Projekt mehr über die Reproduktion des bestehenden Systems hinaus.

Was ist nun mit der PDS? Das was diese Partei nach der Vereinigung der Deutschländer trotz allen subjektiven Anpassungswillens war, eben eine objektive Störgröße im BRD-Verfassungsbogen darzustellen, hat sie nun zwischenzeitlich selbst, unter der Wahlkampfleitung ausgerechnet eines ehemaligen Stasi-IM`s in einer Geschwindigkeit, die uns doch etwas überrascht hat, eleminiert. Gregor, dieser wirklich liebenswürdige Clown ,stellt sich allen Ernstes hin und verkündet öffentlich, daß die PDS doch im Unterschied zu allen anderen, die Partei der Einheit und des Grundgesetzes sei. So stehen nun auch in Kürze Regierungsbeteiligungen in einigen Ost-Bundesländern offiziell an. Und so schreibt die oberste Parteileitung Entschuldigungsbriefe an einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier und das Hausblatt "Neues Deutschland" arbeitet monatelang daran, einen Schreibtischfaschisten nicht etwa darüber berichten zu lassen, warum er nur ein dummes Schwein ist, sondern um diesen die absurde Frage: "Wie national muß die Linke sein?" diskutieren zu lassen. "Tschüß und löst euch endlich auf!" sagt man da nur noch.

Tänze des Zynismus

Jede Konstellation als Ergebnis des Wahlabends ist möglich. Für eine große Koalition könnte sprechen, daß darin die Kräfte des alten Bonner Sozialkompromisses eher zur Wirkung kommen, anstatt in Regierung und Opposition gespalten zu sein. Darüber hinaus ist es überhaupt noch nicht ausgemacht, ob den drei kleinen Parteien überhaupt der Einzug in den Bundestag gelingt. Und dann gibt es ja immer noch ein Wählerpotential von rund 10% in diesem Land, die ein trübes Nazigebräu in der Birne haben, und das zuweilen eine entsprechende Ganovenfraktion in die Parlamente kegelt. Das wäre wirklich eine aparte Anordnung: Die beiden großen Parteien allein mit einer Faschistenfraktion im Bundestag. Die nicht unberechtigte Befürchtung, daß sich die Nazis dann mit einem dicken Geldtopf alimentieren können, würde gegen das Argument stehen, das SPD und CDU dann tatsächlich etwas gegen die Nazis machen müßten, anstatt einfach, wie in manchen Bereichen jetzt, deren Politik zu betreiben. Ei, ei: Große Politik ist zynisch.

Jagdwurst !

Einen Teufel werden wir tun, und zur Wahl irgend einer Partei aufrufen. Wer damit nicht ganz konkret einen Posten in Aussicht hat, muß schon sehr bescheuert sein, seine Stimme an diese abzugeben. Richtig ist es aber an der Wahl teilzunehmen, um sich erstens von denen abzugrenzen, die deshalb nicht wählen gehen, weil sie gegen jede Form von Demokratie sind und sich stattdessen ein "starkes Arschloch" als Kanzler wünschen; zweitens ist es richtig die Wahlbeteiligung hochzutreiben, weil das auf jeden Fall den kleinen Parteien schadet. Und dann, und das ist das wichtigste, ist es richtig gegen eine Wahl zu protestieren, die uns keine läßt. Agnoli erzählte letztens, daß Italiener in diesem Sinne einfach eine Scheibe Schinken in den Wahlzettel legen. "Wir sind hier doch nicht in Italien!" ist uns da sofort eingefallen. Aber in der BRD tut es auch Jagdwurst.

Timur und sein Trupp

Interim Nr. 459 / September 1998