Timur und sein Trupp: Interim 347/1995 [ zurück ]

Qwahlen

Landtagsqwahlen stehen in Bärlino vor der Tür und wir stehen vor der Entscheidung, ob wir nicht hingehen oder 'ins Jrüne fahrn'. Politik wird im Parlament ohnehin nicht gemacht, nur verkauft. Aber da (noch) Sonntags Ladenschluß ist, werden wir sie an diesem Tag auch nicht konsumieren. Darüber hinaus ist bekanntlich die politische Figur des Autonomen noch nie zu irgend einer Qwahl gegangen. Das ist gut und bleibt richtig so, und die Ausnahmen von dieser Regel sind erstens lediglich "privat" und bestätigen zweitens immer nur diese Regel.

Natürlich ist der Merksatz richtig, daß Qwahlen nix ändern, denn sonst wären sie ja verboten. Eine Mehrheit von 51 % im Parlament wird niemals per Abstimmungssieg den Sozialismus herbei stimmen. Die Institutionen des bürgerlichen Staates lassen sich niemals entgegen ihren in die Formen gegossenen Sinn benutzen. Sozialrevolutionäre Inhalte können sich niemals damit vertragen. Und doch ist unser kleiner Merksatz eben in einem schlechten Sinne abstrakt, und genau dadurch unpolitisch. Schließlich erinnern uns Qwahlen, die einmal als verstümmelte Folge der französischen Revolution hervorgegangen sind, an den epochalen Eintritt der Massen in die Politik. Und an diesen Gedanken wollen wir auch in einer Zeit, in der beschleunigt von ganz Oben zielgerichtet und präzise an neuen Formen des Ausschlusses der Massen aus der Politik gearbeitet wird, unbedingt festhalten. Natürlich ändern Qwahlen nichts, sie sind aber weltweit betrachtet, doch ein Privileg, auf das wir, wenn wir es für richtig befinden, grinsend verzichten können. Und das ganz im Unterschied zu Millionen von hier lebenden Leuten, die sich diese Frage als sogenannte "Ausländer" noch nicht einmal stellen können. Tatsächlich, wir leben schon über 2000 Jahre von der demokratischen Sklavenhaltergesellschaft des alten Athens entfernt.

Da sich die bürgerliche Macht gerade als öffentliche Herrschaft repräsentiert, ist es nicht unerheblich in welchen aktuellen Formen sich uns die Gestalt der pluralen Fassung der bürgerlichen Einheitspartei "zur Qwahl" stellt.

In dem Schwarz-Rot-Grün-Blauen Verfassungsbogen des etablierten Parteiensystems, scheint der jahrelang völlig unterschätzte reaktionäre Kleinbürgerdemokrat Khohl fester denn je im Sattel zu sitzen. Derweil zerfällt die traditionelle Sozialstaatspartei SPD mit dem allmählichen Verschwinden der sozial-demokratischen Gesellschaftsformation. Sie nimmt damit nur das vorweg, was die CDU in der Zeit nach Khohl noch vor sich haben wird. Das mögliche Verschwinden der Spekulantenpartei FDP wird ganz sicher durch die zwischenzeitlich weiter neoliberal werdenden Grünen kompensiert werden. Zumindestens haben die Funktionsträger der Gartenzwergpartei, auch als Ausdruck einer systemischen Intelligenz erkannt, daß für ein Fortexistieren des Kapitalismus eine Umwälzung der Technostruktur des heutigen "uneffizienten" Energie- und Verkehrssystems notwendig ist. Furios allein, wie sich der immer dicker werdende Fischer in atemberaubender Geschwindigkeit an den derzeit noch dickeren Kohl ranwanzt. Ob er irgendwann nicht doch endlich 'platzt?

Noch unklar ist, ob die PDS in den West-BRD-Verfassungsbogen aufgenommen werden wird, worum sie subjektiv nach Kräften bemüht ist. Aber in dem sich, nach dem Verschwinden der DDR, von einer Konsens- zu einer Abschiebemaschine wandelnden Parteiensystem der Berliner Republik, können "eben nicht mehr alle Platz" haben. Allein, die Beantwortung dieser Frage ist innerhalb der pluralen Fassung der Einheitspartei offen. Und so kann es kommen, daß ein Chefdenker der Deutschen Bank und der Rechtsextremist Lummer zu dem Schluß gelangen, daß da die PDS zunächst einmal zumindestens im Osten auf absehbare Zeit nicht verschwinden wird, man ihre unvermeidliche Existenz noch in der nächsten Zeit systemfunktional gebrauchen muß.

Das herrschende Parteiensystem wird aktuell weder durch eine mit Aussicht auf Erfolg operierende rechtsradikale Formation noch durch emanzipatorische soziale Bewegungen von unten unter Druck gesetzt. Die Nazis scheinen ihre Funktion als Stichwortgeber für das Wegputschen des Asylrechtes ausgespielt zu haben. Hinzu kommt, daß der antiinstitutionel operierende Naziflügel in der jüngsten Zeit massiv über die staatliche Repression vorläufig marginalisiert worden ist. Der Nazidreck hat zumindestens als politische Form seit '45 ausgespielt, sprich: historisch verloren. Solange das nach '45 eingerammte demokratische Parteigefüge noch nicht in etwas anderes transformiert worden ist, kann das Faschistenzeugs nicht gegen die Demokratie, sondern nur darin existieren. In diesem Sinne ist nicht nur die faschistische Visage des demokratischen Bundesinnverbrechers Ganters die mustergültige Verkörperung der teilweisen Übernahme von Nazi-Politik in die parlamentarisch-bürgerlichen Formen.

Kein Mißverständnis: Das derzeit noch bestehende Parteiengefüge in der BRD wird in absehbarer Zukunft von einem bislang noch frei vagabundierenden Rechtspopulismus aufgemischt werden. Ein Blick nach Italien und Österreich mag genügen, um zu wissen, was das heißt Dem Rechtspopulismus fehlt aber in der BRD bislang noch das intellektuelle Format vom Schlage eines Fini oder Haider, die sich zugleich als attraktiv-moderne Medienpuppen zu bewegen wissen.

Von den sozialen Bewegungen wissen wir mittlerweile, daß sie eher gehen als kommen. Und das ist aktuell in einer Gesellschaft schmerzlich zu erleiden,, die durch (Zwangs-) Migration und forcierten Sozialraub mehr denn je "bewegt" wird. Aber in dieser Form von "Bewegung" verschwinden zugleich auch die Hoffnungen auf etwas besseres, dessen permanente Enttäuschung allein nur der Spingquell für das Entstehen kollektiv-emanzipatorischer Lernprozesse sein könnte. An einen Wahlkampf gegen die Wahl ist derzeit von diesem gesellschaftspolitischen Ort nicht zu denken, von einer negativen Präsenz in den Institutionen ganz zu schweigen. Letzter Merksatz: Gegen die herrschenden Verhältnisse (nicht nur) in der Enthauptungsstadt Berlin kann eine "Politik ohne Perspektive" die bissige Auseinandersetzung um eine "politische Perspektive" nichtersetzen. Und darin kann man den Widerstand nicht "wählen", nur praktizieren.

Timur und sein Trupp

Interim 347/1995