Timur und sein Trupp: Interim 537 Dezember 2001 [ zurück ]

Nicht nervös werden

Am Nachmittag des 11. September konnte man in der Glotze sehen, wie das World Trade Center an der Südspitze Manhattans von Passagiermaschinen angegriffen wurde Das sah aus wie in einem Untergangsfilm aus Hollywood. Sterbende oder Tote sah man insgesamt so gut wie gar nicht — dafür sorgte die schnell konzertierte Regie. Wenn die wegretuschierten Toten nicht wären, könnte man fast fragen, ob mit der Zerstörung der Twin Towers nicht eine alte Phantasie der globalen Linken in Erfüllung gegangen ist: das Jerusalem des Kapitalismus ins Herz getroffen - man denke nur an die Fotografien eines John Heartfield, der die Wolkenkratzerskyline in gigantischen Fluten untergehen ließ?

Demgegenüber blieben jedenfalls die Bilder vom Flugzeuganschlag auf das Pentagon in Washington eigentümlich blaß und wenig instruktiv. Dennoch ist es nicht ohne Ironie, daß man so einfach und ungestört mit dem Düsenflieger dort hineinrasen kann. Auf eine derartig originelle Idee muß man erstmal kommen, auf diese Weise ein Gebäude zu zerstören, von dem aus seit über 20 Jahren mit Akribie der Weltraumkrieg geplant wird. Und daß sich ein Herr George Dabbeljubusch unmittelbar nach den Anschlägen sichtbar als der christlich-fundamentalistische Trottel enthüllt, der er nun mal ist, und zudem als eigentlich "mächtigster Mann der Welt" zwei Tage lang versteckt gehalten werden muß, nötigt jedem einfachen Antiimperialisten auf der Welt doch ein Schmunzeln ab.

In den Tagen danach konnten wir dann Zeuge werden, wie die Machtapparate in den Zentralen der westlichen Großmächte im Wechselspiel mit ihren Medienmaschinen dafür sorgten, die irritierte Weltöffentlichkeit auf einen "Krieg der Zivilisation gegen das Böse" zu formatieren. Klar, daß dafür die Trauer derjenigen, die mit einem der 6.000 Toten des World Trade Center bekannt waren, entsprechend funktionalisiert wurde. Unter dem wirklich obszönen Motto "Solidarität mit Amerika", d.h. Solidarität der Schwachen mit dem Starken, fand in Berlin nach dem 9. November 2000 erneut ein vom Staat einberufener Massenaufmarsch von 200.000 Leuten statt. Große Politik ist einfach - und da hat der Volksmund recht - ein schmutziges Geschäft.

Als ähnlich schmutzig in einem politischen Sinne müssen allerdings auch die Anschläge betrachtet werden, so raffiniert sie auch geplant und durchgeführt wurden. Die TäterInnen haben ganz augenscheinlich jeden Bezug zur Welt, wie wir sie kennen, aufgegeben. Denn sie hielten es nicht einmal für nötig, irgendeine Erklärung z. B. in Form eines Bekennerbriefs abzugeben. Mit ihren Angriffen haben sie auch nicht den Hauch einer Unterscheidung im Hinblick auf die Menschen gemacht, die im World Trade Center waren. Ob es sich nun um total dicke Bonzen, Banker, Broker, sportliche Angestellte, neugierige Studis, interessierte Touristen, dünne Putzfrauen oder hungrige Illegale handelte, es war den Angreifern offensichtlich egal. So handelte es sich bei diesen Aktionen schlicht um einen formvollendeten Massenmord. Das Neue für uns hieran ist allerdings, das wir uns mit den Betroffenen direkt identifizieren können, weil sie, wie wir in der Metropole und im Westen lebten. Insofern stimmt es einfach, daß es "uns alle hätte treffen" können. Hinzu kommt, das diese Anschläge mit ihren global bislang unbekannten Dimensionen auch noch die Erinnerung an das Grauen des Faschismus wecken

Carpe diem!

In krisenhaft zugespitzten Situationen oder bei Kriegen gilt immer für eine Vielzahl von Beteiligten: Carpe diem oder: Nutze die Gelegenheit! Diesen Grundsatz hat die durch einen ganz offensichtlichen Wahlbetrug an die Regierung gekommene regierende Clique in Washington nicht vergessen. Diese wesentlich von der US-Ölindustrie gesponserte Regierung realisiert nun ohne auch nur das geringste Lippenbekenntnis zu "globaler Gerechtigkeit" die günstige Gelegenheit, mit dem Krieg in Afghanistan ganz schnöde imperialistische Yankeeölpreisinteressen klar zu machen. Insofern schreiben sich mit den aktuellen Entwicklungen lediglich die bereits während des zweiten Golfkrieges im Jahre 1991 fest gezurrten Koordinaten fort. Im Grunde gilt das globale Kriegsregime, das nun offiziell und allgemein wurde, schon seit über zehn Jahren. Immerhin bombardieren die USA immer wieder ohne größere Öffentlichkeit den Irak. In einer zugegeben sehr groben Analogie könnte man sogar sagen, dass der Krieg der USA und Großbritanniens gegen Afghanistan wie die Globalisierung der israelisch-palestinensischen Terror-Gegenterror-Tragödie wirkt. Selbstverständlich wird diese dann entsprechend antiaufklärerisch und ideologisch als Krieg von "Gut gegen Böse" bezeichnet.

Kaum verwunderlich ist es da, daß die derzeit noch nicht ganz global kriegsfähige Schröder-Fischer-Bande, die kurz zuvor noch nach ihren Angriffskriegs-Betrügereien in Sachen Kosovo einige Mühe darauf verwenden mußte, überhaupt nur 500 Soldaten nach Mazedeonien zu verschicken, sich beeilt, um den Anschluß nicht zu verlieren. Schließlich steht seit Beginn der 90er Jahre "die Sicherung des ungehinderten Zuganges zu den Rohstoffquellen zwecks Sicherung des freien Welthandels" in den ganz offiziellen Bundeswehrrichtlinien. Und die rasante Geschwindigkeit, mit der die Bundesinnenministeriumsmaschine nach dem 11. September einen ganzen Stapel alter Sicherheitspakete aus den frühen 90er Jahren auszuschütten vermochte, drängt einem schon fast den Eindruck auf, das sie bei der Vorbereitung der für ihre Politik so außerordentlich nützlichen Anschläge eine gewisse Rolle gespielt haben könnte. Großmeister Schily weiß jedenfalls nun die günstige Gelegenheit zu ergreifen, um mit den endgültigen Aufgabe jeglicher Trennung der Befugnisse von Militär- Geheimdiensten sowie der Polizei eine Art Reichssicherheitshauptamt einzurichten. Diese in durchaus eleganten Formen betriebene "Sieg Heil, Otto!" Politik jener von oben ausgerufenen "Allianz gegen den Terror" soll so noch existierenden Freiheiten in der individuellen Privatsphäre, im Internet und in den globalen Migrationsbewegungen den Garaus machen. Daß diese Abschaffung von Bewegungsfreiheiten und Persönlichkeitsrechten in Zukunft weitere Anschläge wie den vom 11. September nicht verhindern wird, ist klar; der einzige Effekt werden trostlose, totalitäre gesellschaftliche Verhältnisse sein. In dramatischer Umkehr seiner Bedeutung ist ein Slogan der Kritiker kapitalistischer Turboglobalisierung nach dem 11. September wahr geworden: "Eine andere Welt ist möglich". Der mittlere Osten wird im Handumdrehen in ein riesiges Schlachthaus verwandelt, und das bißchen Rechtsstaat und die paar bürgerlichen Freiheiten im Westen werden einfach suspendiert. Und nun? Was bedeutet das alles für das Handeln? Zumal die ganz "große Politik" und ihre "großen Schlachtfelder" um die "Sicherung der Rohstoffquellen" noch nie ein Terrain waren, auf dem Autonome gern und überzeugend gehandelt hätten?.

Was kann man so (nicht) tun?

Wir hatten sie schon fast ganz vergessen: Die immerhin ein paar Brocken sehr deutscher Dialektik bramabasierenden Antideutschen. Sie haben ihr halluzinatorisches Anti-Antisemitismus-Ticket genutzt, um nach dem 11. September in ganz ordinäre Kriegsbegeisterung zu verfallen — eine gruslige Erinnerung an 1914. Im Verein mit ihrer Bundesregierung greifen sie nach den Gelegenheiten, die der schöne Zivilisationskrieg nun bietet. Historisch ist es keine ganz neue Erscheinung, daß wer bereits kategorisch jeden Mehrheitsbezug auf die in abhängigen Lebensverhältnissen gehaltene Weltbevölkerung ausschließt, zum politischen Rechten und zum Metropolenchauvinisten wird. So ist die sich elitär vorkommende Lumpenintelligenz mit ihrer jahrelang eingeübten "Kritik an der Linken" zu ihrem eigenen außerordentlich vulgären Klassenbewusstsein gekommen. Und das ist historisch ebenfalls so neu nicht, dass solche Distinktionsintellektuellen in einer Zeit, in der die Orientierung nach "politisch Links" ohne Zweifel eine Verliererstrecke ist, begierig auf Gelegenheiten warten, sich der Macht anzudienen. Allerdings werden die Antideutschen um so mehr in ihrem Selbsthass gären, als es auch in Zukunft Leute geben wird, die ihren Anspruch auf ein schönes, glückliches und besseres Leben politisch als "Links" definieren werden. Und darüber hinaus geht jetzt mit ihrer unbefangenen Zivilisationskriegsbegeisterung endlich eine rund zehn Jahre anhaltende schlechte Komödie in linker Verkleidung ihrem Ende entgegen.

Doch die Antideutschen und ihre Bundesregierung sind beleibe nicht die einzigen, die uns in dieser neuen Situation Vorschläge dazu unterbreiten, was man tun oder denken kann. Fangen wir mit dem letzteren an: Ein außerordentlich verdienter Alt-Genosse schlug uns in einer Veranstaltung in Frankfurt vor, weder der NATO noch dem CIA auch nur irgend etwas zu glauben, und den "Antiimperialismus" wieder zu entstauben. Und über die andere Seite des kriegerischen Geschehens - in diesem Fall ein paar in der einschlägigen bürgerlichen Öffentlichkeit beschriebene politische Kräfte - "brauchen wir nicht zu reden", denn da stehen ja uns nur die gefälschten Informationen eben der NATO und des CIA zur Verfügung. "Ach so einfach ist das!" sollen wir uns da. wohl denken. Demgegenüber empfahl uns der Alt ML-er Robert Kurz in einem sofort nach den Anschlägen verfaßten Text, nun endlich die "emanzipatorische Kritik der totalitären Weltökonomie" zu betreiben. Und auch die Materialien für einen neuen Anti-Imperialismus geben uns den Hinweis, jetzt "die Grenzen unserer in "Ein-Punkt-Bewegungen eingehegten Denkgewohnheiten und politischen Praxisansätze zu durchbrechen." Selbstredend konnten bislang alle diese Forderungen und Anregungen von denen, die sie aussprachen, nicht mit einem der historischen Aktualität vermittelten Aktionsvorschlag auf der Straße verbunden werden, was man allerdings nicht vorschnell zum Vorwurf machen sollte. Aber auch das mag zunächst seinen Teil dazu beitragen, daß diese sicher nicht ganz falschen Einfälle uns nicht recht beunruhigen, - mit Ausnahme allerdings des Vorschlages, über irgend etwas in diesem Zusammenhang "nicht reden zu sollen." Aber wer wollte schon bezweifeln, daß fast jeder Widerspruch gegen die Militärreaktion der US-Regierung nach dem 11.9. irgend etwas auch mit "Antiimperialismus" zu tun haben könnte. Und die "emanzipatorische Kritik der totalitären Weltökonomie" wird auch dann nicht ganz falsch, wenn man leider in diesem Fall davon ausgehen muß, daß für die in diesem Zusammenhang so energischen Kritiker, die Anschläge des 11.9 nur eine weitere Gelegenheit unter anderen sind, ihre Theorien — übrigens nicht immer preiswert - zu Markte zu tragen. Und sofern die Materialien-Genossen noch irgendwo substantielle "Ein-Punkt-Bewegungen" kennen, dann gibt es auch nicht den geringsten Grund sie daran zu hindern, denen zu sagen, daß sie das doch bitte "durchbrechen" sollten.

Nicht ganz vergessen zu erwähnen sollten wir die von den Toten wiederauferstandene Friedensbewegung in diesem Land. Sie gruppiert sich in ihrem organisatorischen Kern um eine Generations- und Alterskohorte der Entspannungsära aus der Zeit Willy Brandts und Erich Honnecker. Auch wenn es eigentümlich ist, daß sie während des NATO-Angrifsskrieges im Kosovo den Arsch nicht hoch bekam, so ist es nie zu spät, wenigstens gegen den nächsten Krieg zu protestieren. Sie besitzt sicher ein paar Anschlußflächen zum Anti-Amerikanismus , aber das ist von absolut sekundärer Bedeutung. Aber schon allein die in diesem Zusammenhang geklebten Plakate, auf denen ausschließlich die beiden Parolen "Kein Krieg" und "Keine Vergeltung" ohne weitere Hinweise zu lesen waren, zeigen, dass dieser Protest bisher noch keinen vibrierenden Ort in der Welt gefunden hat. So kann es wenig überraschen, daß diese Bewegung derzeit lediglich in großer Liebenswürdigkeit im Kreis herum zu laufen vermag. Mit ihrer Verkörperung eines abstrakten Humanismus beunruhigt sie niemanden, und scheint auch so im formaldemokratisch organisierten Leben in dieser Gesellschaft ihren vorgesehenen Part zu spielen.

Bombardiert Hamburg-Harburg!

Frei nach Teddy A. ist es jedenfalls schon mühsam genug, sich weder durch die Macht noch durch die eigene (vorläufige) Ohnmacht dumm machen zu lassen. Das soll man wirklich nicht unterschätzen. Es gibt historische Konstellationen, da kann man im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße wenig tun. Nicht nur weil die aktuelle globale Anordnung eine sehr kriegerisch-terroristische ist, schließt sich jeder auch nur geringste politische Bezug auf die machtvoll agierenden politischen Subjekte in der Welt aus. Es ist absolut richtig und notwendig, sich von nichts und niemanden in dieser Situation für was auch immer in die Pflicht nehmen zu lassen. Autonom heißt nicht nur, bescheuerte politische Positionen von wem auch immer zurückzuweisen, oder bis auf den eigenen Nerv herunter zu analysieren, warum die bislang angeboten Handlungs- wie Denkvorschläge aus der Friedensbewegung oder der Linken bestenfalls hilflos sind. Autonom heißt immer auch, dass man sich nicht zum reflexhaften Reagieren oder zum hinter der Macht herhecheln zwingen läßt, sondern sich sein eigenes Urteil zu Dingen bildet, von denen man zugleich weiß, dass man sie auch nur ansatzweise ändern kann.

Vielleicht könnten in der derzeitigen Situation Elemente einer Taktik und Praxis von Diskursguerilla wenigstens mittelfristig etwas in den vor Angst und/oder Dummheit zugenagelten Köpfen der hiesigen Bevölkerung, deren untrennbarer Teil man ja selber ist, in Bewegung bringen. Dabei steht aus unserer Sicht der in dieser Auseinandersetzung geltend gemachte Begriff der Zivilisation im Auge des Taifuns. An ihm hängt sich fast alles in dieser Konstellation auf: Gut-Böse; (US-)Zivilisation - Barbarei; "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", sprich, wer sich nicht wortlos an die "Zivilisation" angleicht, muß ein Terrorist sein usw. Er ließe sich wunderbar im Rahmen einer Aufklärungs- und Zielmarkierungsralley durch den Stadtteil Hamburg-Harburg mit einem anschließenden Teach-In in der dortigen Universität konkretisieren. Spätestens seit der Dialektik der Aufklärung kann hier doch jeder wissen, daß die Barbarei der Zivilisation keineswegs in Irgendwoweitwegafghanistan äußerlich ist, sondern ihren prominenten Platz noch immer in ihrer eigenen Mitte zu behaupten weiß. So sollte im Zentrum einer derartigen Aktion die Reflexion der ganz offensichtlichen Ungerechtigkeit stehen, warum denn nicht mit Hamburg-Harburg diese - so kann man es sich doch aus den offiziell von den herrschenden Apparaten zur Verfügung gestellten Informationen zusammen reimen - ganz offenkundige "Brutstätte des internationalen Terrorismus" bombardiert wird. In diesem unvorhergesehen Rahmen könnten bislang aus welchen Gründen auch immer noch gar nicht gestellte Fragen thematisiert werden. Auch wenn es noch unwahrscheinlich klingt und man mit Verschwörungstheorien natürlich immer sehr vorsichtig sein muß: Hat nicht wohlmöglich der RAF-Schläfer Otto Schily selbst Herrn Mohammad Atta in Hamburg-Harburg jenes Teppichmesser überreicht? Seine unmittelbar nach dem 11. September eigentümlicherweise ohne irgend eine Irritation eingeleitete Politik spricht jedenfalls sehr dafür. Diese Hypothese - und kaum etwas anderes kann man derzeit anstellen - könnte jedenfalls wirklich einmal eine erfolgversprechende und spannende Spur in der Terrorismusbekämpfung sein, die ihren Namen auch verdient. Und darüber hinaus wäre an einem engagierten Kontakt zu den öffentlich vor sich hin stammelnden Studenten der dortigen Uni zu denken. Denn manche von ihnen glaubten sich nach dem 11.9. völlig entsetzt darüber zeigen sie müssen, mit solchen Studenten an ihrer Uni studiert zu haben, ohne auch nur "irgendwas zu merken". Da wäre es dann allemal richtig, sie von uns aus an den Erfahrungsschatz ihrer eigenen sowohl anständig wie unauffällig studierenden Großväter zu erinnern, die vor 60 Jahren in durchaus zivilen wie global überraschenden Formen sechs Millionen Juden und drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene umzulegen wußten. Und es bleibt einfach unsere Aufgabe dafür zu sorgen, das man das in diesem Land für alles was man sowohl hier als auch noch in der großen Welt in der Zukunft zu tun beabsichtigt, nun wirklich nicht vergißt.

Timur und sein Trupp

Interim 537 Dezember 2001