Timur und sein Trupp: Interim 554 Juli 2002 [ zurück ]

Solidarität mit allen Nationalstaaten auf der Welt?

Von der Redaktion der Interim-Ausgabe Nr. 550 wurde im Mai des Jahres 2002 ausgerechnet auf dem Titelblatt mit dem demonstrativen der Nationalstaatsflagge Israel ein publizistischer Coup gelandet. Dieser fand sogar in der keineswegs linksradikal gesinnten Frankfurter Allgemeinen Zeitung Beachtung. Und obgrund eben dieser Handlung möglicherweise noch "vor Kühnheit zitternd" (Walser in der Paulskirchenrede) versahen jene Redaktionäre auf der vorletzten Seite noch einen mit Lineal gezogenen Davidstem mit einer von unbeholfener Kinderhand gemalten "Lang lebe Israel" -Parole. Ein bei derartigen Bekenntnissen sonst übliches Ausrufezeichen fehlte allerdings. Zentrale Begründung für diese ungewöhnliche Operation war die Befürchtung einer "existentiellen Bedrohung Israels", die man wiederum glaubte irgendwie mit dem "Problem Antisemitismus" verquicken zu müssen. Von letzterem hörte man in dem donnernd vorgetragenen Pro-Israel-Plädoyer kaum substantielles. Und zu der eminent bedeutsamen Frage, wie denn dem hiesigen Antisemitismus mit welchen politischen Strategien bei zu kommen sei, vernahm man in dieser Stellungnahme nur ein tiefes Schweigen. Aber warum hätten sich auch jene Interim Nr. 550 Redakteure mit so wenig publicityträchtigem aufhalten sollen, scheint es doch um das Entwerfen des Designs einer neuen grand foreign policy strategy gegangen zu sein. Und wer vermag mit Sicherheit auszuschliessen, dass es sich bei einigen dieser Redaktionäre um profilierte außenpolitische Nah-Ost-Experten gehandelt haben könnte, die darüber hinaus über die notwendigen Kontakte in die einschlägigen außenpolitischen Think Tanks und Militärstäbe verfügen. Solche Nah-Ost-Experten wissen da natürlich immer um einiges mehr als einfache Autonome, die sich über die außenpolitischen Gegebenheiten in Sachen Israel-Palästina zumeist nur aus der Bild-Zeitung oder durch die Talkshow von Sabine Christiansen informieren.

Lang lebt politischer Unfug!

Mit der Inanspruchnahme einer Parole, mit der geglaubt wird "Solidarität" ausgerechnet für einen Nationalstaat auszudrücken, bewegt sich ein Teil des linksradikalistisch-aktivistischen Milieus in einem aktuellen Sinne gedankenlogisch an die Seite unserer lieben Bundesregierung. Und da wussten Ex-Linke als Reaktion auf den geheimnisvollen 11. September auch nur die Parole "uneingeschränkte Solidarität mit den USA" heraus zu lallen. Dabei ist die USA bloß der letzte einer ganzen Reihe von Nationalstaaten mit dem hiesige Linke in den letzten Jahrzehnten glaubten "solidarisch" sein zu müssen. Und die Liste ist länger als man es heute noch zu glauben vermag, sogar die - uns zwischenzeitlich aus anderen Gründen sympathische Parole -"Solidarität mit der DDR" findet sich darunter. Vor eineinhalb Jahrzehnten standen wir noch selbst vor der Hafenstraßenwand und durften dort in diesem Fall mit der anderen Nationalstaatsflagge unterlegt - u.a. die sinnige Parole "Palästina, dein Volk wird dich befreien" lesen. Gut, das dieser Unfug in der Folge in die - übrigens auch früh antideutsch motivierte - Kritik geriet und sich so auch nicht mehr wiederholte. Ob uns aber nun die Interim-Redaktion Nr. 550 mit ihrem Nationalstaatsflaggen-Coup nun einmal anders herum beweisen wollte, das Einfalt in der autonomen Szenerie leider noch lange nicht ausgestorben ist? Und die lässt sich ganz präzise damit beschreiben, dass Genossinnen - ganz ähnlich wie der 1991 im gleichen Zusammenhang mit Atombomben herum jonglierende Wolfgang Pohrt - in Sachen Israel / Palästina schon beim Auftreten geringer Gefahr und leichter Not anfangen, die Nerven zu verlieren, um darob umsichtig den eigenen Verstand und jegliches Relexionsvermögen abgeben. Hauptsache man realisiert instinktiv, wie man sich am raffiniertesten in den jeweilig hegemonialen Gezeitenstrom einzuordnen vermag. Aber warum muss in diesem Zusammenhang der nicht zufällig kaum entfaltete Kampf gegen Antisemitismus auch noch für die Rettung des eigenen Seelenheils instrumentalisiert werden, die in eigentümlicher Weise auch noch mit der Rettung jüdischer Menschen im besonderen Hand in Hand gehen soll? Das ist ja widerlich. Was mag jene Interim Nr. 550 Redakteure nur geritten haben, mit der ungefragten Solidaritätsadresse an irgend einen von über 150 Nationalstaaten auf der Welt - wie viele es genau gibt, weiß ohnehin kein Mensch - dem Programm einer antiautonomen intellektuellen Selbstabdankung zu frönen?

Die Problematik der "Einzigartigkeit"

Wenn sich das Delirium der antideutschen Politik derzeit durch ein Motiv auszeichnet, dann besteht es in der Wiederholung einer nur leicht veränderten, gar zu bekannten Kurzformel aus der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts: Und die besagt, dass auch heute noch die ganze Welt am nun negativen deutschen Wesen genesen soll. So findet dann auch hier der im Historikerstreit prominent angesiedelte zwielichtige Topos der "Einzigartigkeit" seine Anknüpfung. Der bedeutet aktuell auf den Judenmord angewendet, dass wenn die Deutschen ihre Nachbarn abschlachten, es nicht einfach nur schlimm und barbarisch ist, sondern ganz im Unterschied zu ähnlichen genozidalen Schlachtfesten anderer Nationen, allemal "einzigartig" sein soll. Darunter ist es nun mal nicht zu haben für die Erschlagenen auf der Welt, die das Glück genießen durften, von eben "diesen Deutschen" und niemanden anders umgelegt worden zu sein. Sich selbst ausgerechnet beim Massenmord an den Juden auch noch die "Einzigartigkeit" zu bescheinigen, ist eine nur irrwitzig zu nennende Imagination eines nationalstaatlich hergestellten Kollektivs. Von dort ist dann der Schritt nicht weit, das Verhältnis zu Menschen jüdischen Glaubens oder Personalausweisbesitzen des Staates Israels von den Formen der früher wenig schönen "Sonderbehandlungen" nun auf Formen einer Sonderbeziehung umzustellen. Und die galten in den Projektionen der "deutschen Einzigartigen" schon immer "dem auserwählten Volk Israel". Klar, dass dabei allein nur die Erinnerung an den ordinären Massenmord an den rund zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, der dem Judenmord unmittelbar voraus ging, immer so nach nirgendwohin durchrutscht. Der Philosemitismus hier war schon immer der Zwillingsbruder des Antisemitismus. Er ist natürlich in der Praxis bei weitem nicht so mörderisch wie sein Pendant, allein in Dummheit steht er diesem ganz sicher in nichts nach. Die führenden Antideutschen betreiben damit ihr billiges Geschäft und den Interim-Redakteuren Nr. 550 kann man zu ihren eigenen Gunsten nur unterstellen, das sie auf diese obwaltende Diskursmacht herein gefallen sind. Dabei stellt das Ausrollen einer Nationalstaatsflagge, wie besonders, einzigartig oder als was man einen derartigen Fetzen Stoff sonst noch zu halluzinieren vermag, nichts anderes dar, als eine freiwillig betriebene Einübung darin, sich in der Eindimensionalität der Welt dumm zu machen.

Keine Außenpolitik im Kampf gegen Antisemitismus hier

Es gibt für diejenigen Autonomen, die nicht in nächster Zeit vorhaben aus diesem Land in die Region zu exilieren, die man wahlweise Israel oder Palästina nennen kann, sowohl aus historischen wie ganz aktuell politischen Gründen auch nicht die aller geringste Notwendigkeit zu der dort stattfindenden Tragödie mehr als den Wunsch zu äußern, dass die beiden Konfliktparteien sich doch dazu entschließen mögen, diese doch bitte einfach zu beenden. So diese das nicht tun, wollen oder können, können Autonome daran aktuell auch deshalb nichts ändern, weil sie in eben jener Region machtpolitisch völlig bedeutungslos sind. Diese Tatsache ist erstens zur Kenntnis zu nehmen und angesichts der gerade für jüdische Menschen, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts gerade mit deutschen Staatsbürgern nun wahrlich keine ausschließlich glücklichen Erfahrungen machen konnten, im Grunde genommen auch gar nicht einmal so schlecht. Es ist doch mehr als gewiss, das alle in der Region Israel-Palästina lebenden Leute bereits jetzt schon wenigstens ein bisschen besser leben können, wenn sie nicht auch noch mit gar zu deutschen Einzigartigkeilsprojektionen belästigt werden. Und um als Konsequenz aus der Shoah hier gegen Antisemitismus kompromisslos in Stellung zu gehen, braucht es mitnichten eine Pro- noch eine Contra-Positionierung zu dem von der UNO anerkannten Nationalstaat Israel. Durch philosemitisch aufgeladene antideutsche Stereotypen in der Frage einer sowieso immer gewalttätig wie ungerecht hergestellten Nationalstaatsbildung, üben sich Personalausweisbesitzer dieses Staates nicht nur als zukünftige Außenpolitiker, sondern das auch noch auf den unheilvollen Spuren ihrer Großväter ausgerechnet am Objekt des Nationalstaates Israel ein. Ganz folgerichtig muss ihnen auch der Kampf gegen Antisemitismus hier zu einem bloßen Nebenwiderspruch im dreckigen Geschäft der ganz großen Staatspolitik werden. Für die hier, die ihren Traum von Glück, Gerechtigkeit, Frieden und Befreiung noch nicht an die Dummheit und der Barbarei der national-staatlich verfassten Verhältnisse in der Welt verraten, verkauft oder verloren haben, ist aber genau das kategorisch ausgeschlossen.

Timur und sein Trupp

Interim 554 Juli 2002