Timur und sein Trupp: Interim 561 Dezember 2002 [ zurück ]

Protest der Heinzelmännchen

In der ersten Novemberhälfte ist es der Polizei mal wieder gelungen einen Castor-Transport in den euphemistisch Zwischenlager genannten Kartoffelagerschuppen Gorleben zu bringen. Es war insgesamt der sechste seit Bestehen dieses Standortes. Dabei trugen die Widerstände gegen die ersten drei Castortransporte in der zweiten Hälfte der 90er Jahre nicht unwesentlich zu dem Ende des Kohl-Regimes bei. Im Frühjahr 1998 musste sogar aufgrund eines Radiaktivitätsskandals das weitere herumkutschieren hochradiaktiver Brennelemente in der gesamten BRD ausgesetzt werden. Erst der neu ins Amt gewählten rot-grünen Regierung gelang es nach rund drei Jahren, die blockierten Castor-Transporte im März 2001 wieder flott zu machen und erneut auf den Weg nach Gorleben zu schicken. Das wurde mit der schlichten Lüge verbunden, dass nun eben diese Atomtransporte für den Ausstieg und nicht mehr für den Weiterbetrieb rollen würden. Damit ist ein Atomausstieg gemeint, den alle heute lebenden Jugendlichen und Erwachsenen erst dann werden genießen dürfen, wenn sie schon biologisch tot sind.

Noch während der rund zwei Jahre dauernden staatlich organisierten Atomkonsensverhandlungen glänzte die Anti-Atom-Bewegung vorhersehbar weitgehend durch demonstrative Abwesenheit. Dennoch fand anlässlich des Castor-Transportes im März 2001 zwischen der rot-grünen Bundesregierung und allen Fraktionen der Anti-Atom-Bewegung die exemplarische politische Auseinandersetzung um den Fortbestand des nationalen Atomprogramms statt. Zusätzlich aufgeladen war diese noch durch die von der Grünen Partei zuvor überzeugend durchgeführte Zerstörung bislang propagandistisch in Anspruch genommener pazifischer Grundhaltungen anlässlich des von ihr mitzuverantwortenden NATO-Angriffskrieges im Kosovo. Die nun wieder von der grünen Parteispitze in Bewegung gesetzten Castor-Transporte stellten gerade für das grünen-nahe Milieu die zweite große politische Zumutung dar. Dabei gehört es zu der Einfalt der herrschenden Verhältnisse, dass der spontane Widerspruch zu dem wieder aufgenommenen Atommülltourismus hier größer war, als zum schönen Kosovo-Menschenrechtskrieg, mit dem Außenminister Fischer nicht nur erfolgreich ein zweites Auschwitz verhinderte, sondern auch den ersten deutschen Militärerfolg nach 1870/71 besorgte.

Das Wiederaufflammen der Anti-Castor-Widerstände im März 2001 sorgte zwar dafür, dass erstmals ein Castor für einen Tag wieder zurück rollen musste. Allerdings handelte es dabei um einen durchaus zweifelhaften "Aktionserfolg", da er weder mit einer massenmilitanten Blockade noch mit einer unfassbar-gewieften Sabotageaktion errungen wurde. Er wurde schlicht mit Hilfe einer etwas religiös-appellativen Gleiseinbetonierungsaktion einer jungen Schülerin erreicht. Dafür musste sie bei den Bullen auf eine halbwegs humane Praxis vertrauen und lag damit in diesem Fall als Heinzelfrau - dialektisch verstanden - auch gar nicht einmal so falsch für ungezählte Stunden auf den eiskalten Schienen. Immerhin: Beide Seiten konnten nach dem März 01 Castor ihren politischen Erfolg verbuchen: Die Grünen haben ihre Fiktion von Atomausstieg durch eine gegenteilige Praxis beglaubigt, und der Anti-Atom-Bewegung war es gelungen, trotzdem irgendwie auch unangenehm zu stören.

Zur De-Moralisierung des Protestes

Aus der Sicht der Bullen musste es bei der Wiederaufnahme der Castor-Transporte darum gehen, auf absehbare Zeit zu einem erfolgreichen Vollzug einer Kräfte-Optimierungsstrategie zu gelangen. Sprich: Man steigt mit etwa 16.000 Bullen und BGS´lern ein bis zweimal in den Ring, und demoralisiert durch die Macht-Assymetrie der Konfliktkontrahenten den Gegner so, dass er weitere störende Bemühungen zunehmend einstellt. Nach dieser technokratisch-einfältigen Logik kann dann auch im Zeitverlauf der immense Bullenaufwand auf etwas zurück gefahren werden, was im Apparat derzeit als Normalmaß gilt. Zu diesem Zweck suchte ein von den Bullen zugleich aufgebauter Medien-Betreuungs-Apparat nicht ganz ohne Erfolg zunehmend alle Momente von Gegen-Öffentlichkeit der Bewegung aus dem Zentrum des Interesses abzudrängen. Während des Herbst-01-Castors besetzten dann die Bullen einfach alle Ecken, Wege und Zugänge, von denen während des Frühjahr-01-Castors witzige Aktionen ausgegangen waren. Zudem wurde von ihnen noch einmal die Gangart durch Knüppel- und Hundebißeinsätze, sowie durch wahllose Massenfestnahmen verschärft. So kam der Castor erheblich reibungsloser an seinen Bestimmungsort, als noch sechs Monate zuvor. Damit wurde evident, dass nur noch notorische Narrenreiter aus der BI-Lüchow-Dannenberg und ihrem Anhang von einem "Protesterfolg" schwadronieren konnten. Begründete Ernüchterung machte sich hier und da bei AktivistInnen nach dem November-01-Castor breit. Die nicht originelle gleichwohl überwältigende Polizeistrategie drohte erste Früchte zu tragen.

Nach dem Ende der Politik kommt manchmal die nächste Praxis

Ein deprimierendes Jahr in dem nach dem 11. September 01 installierten globalen Kriegsregime, rief ein ungewöhnliches Plakat dazu auf: "Seid bereit! Heraus zum VI. Castor­transport". Wir waren selbst überrascht davon: Wenn alles in grauer Komplexität und schleichender Barbarisierung zu versinken droht, können die schlichten aber zuweilen wahren Weisheiten des Maoismus wieder als aktivistische Einstiegsdroge funktionieren. Und so machten wir uns einfach auf den Weg in den Landkreis. Allerdings fordert der Verzicht auf eine explizite zuvor auch öffentlich gemachte politische Begründung seinen Tribut. Selbst die bei den letzten beiden Castortransporten propagandistisch rührige Stiftung Unruhe verbreitete diesesmal Schweigen. Aktiviert man sich trotzdem, ändert auch das nichts daran, dass man ohne argumentativen Bezug zur Welt nur ein Heinzelmännchen sein kann. So ist es diesen oder jenem Genossen nicht zu verdenken, wenn sie zwar auf entsprechenden Veranstaltungen oder auch privat die "Wichtigkeit" des Engagements gegen den "VI. Castor­transport" betonten, allein, wie es der Zufall will, zugleich erklärten, leider keine Zeit dafür zu haben, nun auch noch dorthin zu fahren. So sieht die beliebige Individualisierung aus, über die es nicht lohnt irgendeinen moralischen Zeigefinger zu erheben. Aber auf jeden Fall haben diese Genossinnen durch ihre Abwesenheit diesmal im Wendland, sagen wir, etwas verpasst. Zu verpassen war diesmal nicht nur das gewisse romantische Element, das die Anti-Atom-Aktivitäten in der landschaftlich reizvollen Lage des Wendlandes schon immer begleitet hat. Zu besichtigen war auch erneut das enorme Ausmaß der scheinbar aus dem Nichts im ganzen Landkreis und in Lüneburg herbei gezauberten Infrastruktur für Anti-Castor-Aktivitäten aller Art. Und letztere gab es zuhauf und im Haufen. Auch das schlägt so seine lichten Schneisen in die alternativlos scheinende graue Normalität des auf unabsehbare Zeit festgeschriebenen Atomprogramms. Begünstigt wurden die Widerstände aller Art auch dadurch, dass die Polizeistrategie - vermutlich auch in Reaktion auf die von der Bi Lü-Da angeschobene Grundrechtskampagne, sowie das anhaltend hohe Maß an Sympathie der Anti-Atom-Proteste in der Bevölkerung - nicht mehr auf so exorbitant hohe Festnahmezahlen wie noch im November-01 setzte. Nachdem die Bullen zuvor noch angekündigt hatten in dem Sinne "moderat und geschmeidig" gegen den Protest vorgehen zu wollen, um ihren Kräfteeinsatz zu minimieren, mussten sie am Schluss doch wieder wie gehabt 16.000 Bullen antreten lassen, um 2.000 Protestierer in Schach zu halten. "Die Qualität des Protestes lasse es nicht zu, diese Einsatzzahl zu unterschreiten" ließ sich ein Oberbulle öffentlich vernehmen. Wenn das so bleibt, dann sind das gegen die in den nächsten Jahren geplanten weiteren 140 Castor-Transporte außerordentlich günstige Aktionsperspektiven. So gräbt sich der Totengräber seine eigne' Grube.

Unklar ist aber welche politischen Perspektiven der durchaus wirksame Anti-Atom-Protest der Heinzelmännchen dabei wird noch einnehmen können. Es ist schon bitter manchmal den öffentlich verkündeten politischen Infantilismus der Bi Lüchow-Dannenberg zugemutet zu bekommen. Ihm fällt als Wurmfortsatz des rot-grünen Milieus außer stammeln zu seiner eigenen Bundesregierung nichts ein. Auch der Genuß eines politisch völlig entleerten Bewegungspopulismus kann die Zukunft nicht sein. Er verschaffte sich diesmal prägnanten Ausdruck in einer formal ganz vorzüglichen Rede eines etwas bekannteren Sprechers von X-tausendmal-Quer. Unter grossem Beifall wusste dieser den halbwegs beweglichen Protest implizit in der hinterrücks sich geltend machenden Perspektive einer auch noch lokal grundierten Zustimmungs-Gemeinschaft einzugrenzen. Und zu der gehören dann konstitutiv die als "Auswärtige" bezeichneten Atomkraftgegner, von denen man denkt, das man sie freundlich grüssen sollte. So bleibt das ganz Andere nach wie vor das einfache das schwer zu machen ist und das hier fast sprachlos bleibt.

Timur und sein Trupp

Interim 561 Dezember 2002