Timur und sein Trupp: Interim 333/1995 [ zurück ]

Der 8. Mai ist endlich vorbei

Am 8. Mai war mal wieder in Berlin, Reichshauptstadt, 'n "Staatsakt". Was auch sonst? Immerhin wurde an diesem Tag vor gerade mal 50 Jahren von der Anti-Hitler-Koalition endlich Schluß mit der Existenz eines aggressiven Staats-Faschismus in Europa gemacht. Nachdem man zunächst in der alten West-BRD diesem Datum bis in die 70er Jahre wg. der kontinuierlichsten Kontinuitäten nicht so recht gedenken konnte und wollte, und sich die DDR bereits in den 50er Jahre kurzerhand auf die Siegerseite der Geschichte mogelte, haben wir nun am diesjährigen 8. Mai allerorten Feiereien, Gedenkereien und dann auch noch zu allem Überdruß einen "Staatsakt" zugemutet bekommen. Und mittlerweile weiß man, daß die sich häufenden "Staatsakte" in Berlin immer auch die Stunde der beliebigen Demoverbote und der gewalttätig demonstrierenden Bullen sind.

Was ist nun aber mit den Inhalten? Muß man gerade als einfacher, gerade mal drei Jahrzehnte alter, Autonomer tatsächlich eine Antwort auf die zwischenzeitlich von Oben gestellte Frage geben, ob man den politischen Zusammenhang des 8. Mai nun in deutschen Landen nachträglich lieber eine "Befreiung" oder vielleicht doch eher eine "Niederlage" nennen möchte? Dabei ist doch diese Frage in einem staats- und machtpolitischen Zusammenhang sowohl schon beantwortet als zwischenzeitlich auch schon fast egal geworden: Am Ende Nazi-Deutschlands stand nicht irgendeine diplomatische Verabredung, sondern schlicht und ganz unmißverständlich die "bedingungslose Kapitulation". Und das alles so völlig "ohne jeden Schnick-Schnack", wie es ein uns lieb gewordenen älterer Genosse manchmal so wuchtig ausdrückt. Also: Was soll das ganze Gezappel? Der 8. Mai 1945 war gut so! Und das haben auch die heutigen Nazis und die neu eingekleideten smarten Rechten nicht vergessen. Deswegen müssen sie doch auch in ihren teuer zusammengekauften öffentlichen Manifestationen mit diesem Datum so kläglich lavieren und herumwinseln. Und immerhin entstand nach diesem denkwürdigen Datum, in Gestalt der aus einem antinazistischen Gründungskonsens erwachsenen UNO, und in der Form der beiden Staaten BRD und DDR, der noch nicht völlig mißlungene Versuch, etwas besseres (nicht nur) aus der deutschen Geschichte zu machen.

I. Fünfzig Jahre sind ein halbes Jahrhundert!

Das ist wirklich eine lange Zeit. Und das gilt sowohl für die Biographien eines jeden einzelnen, als auch für die Politik. Zwischenzeitlich hat sich ja doch so einiges getan. Klar, ein Satz für die Illustration dieses Gedankens ist etwas kurz. Und doch ist es uns wichtig an dieser Stelle zwei richtige Sachverhalte festzustellen: So gut wie alle Autonomen haben glücklicherweise keine Weltkrieg II-Erfahrungen mehr persönlich erleiden müssen und die DDR ist vor kurzem flöten gegangen. Was will uns das sagen?

Die von Autonomen zur bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands vorgenommene politische Positionierung muß - an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - eine andere sein, als die Positionen derjenigen politischen Kräfte und Strömungen, die das Glück hatten, den Nazismus direkt militärisch niederzukämpfen. Kräfte und Strömungen übrigens, die daraus unmittelbare tagespolitische Konsequenzen für einen gesellschaftlichen Neu- und Wiederaufbau (nicht nur) in den Landen der beiden Nachfolgestaaten des NS-Staates gezogen haben. Dieses Anliegen ist deshalb umso dringlicher geworden, weil die nach der Auflösung der DDR neu entstandene Berliner Republik als Staat faktisch aus den unmittelbarsten düsteren Schatten des III. Reiches herausgetreten ist. Für die Form der Geschichtsbetrachtung als auch für jede Form der aktuellen Politik ergeben sich damit, gegenüber dem Zeitraum von vor '89, scharf veränderte Perspektiven.

II. Was bloß nicht mehr tun?

Wir leben (manchmal auch gern) in einem Land in dem von Oben oft auf "viel große Geschichte" gemacht wird. Dann soll Unten das Gedächtnis kurz, die Kritik klein und die Gegen-Politik verschwunden sein: "Schnell, schnell, schnell, wer hat noch irgendwo was gelesen? Das Foto ist o.k. Ja, der "Schwur" von Buchenwald, die "Wurzeln des Nazismus vernichten", kommt gut. Der Kohl instrumentalisiert alles, pah Heuchler!"

"Schwur", "Wurzeln", Vernichten": Das sind doch tatsächlich von Autonomen zitierte Worte am Ende des 20. Jahrhunderts. Na, wenn die "Politik heute" zu erfordern scheint, "Große Geschichte" im Schnelldurchgang zusammenzuzramschen, dann kann schon ruhig auch mal die eigene Sprache verloren gehen. Und eh man und frau Autonom sich versieht, wird auch schon das Propagandafoto der beiden Rotarmisten mit der Sowjetfahne über den Reichstag als das Symbolfoto für die Niederschlagung des Nazismus ausgerechnet für eine eigene Manifestation benutzt. Da werden sich aber sowohl die Herausgeber einer 8. Mai-Gedenkbroschüre des Berliner Senats als auch Ex-Stasi-Chef Erich Mielke gefreut haben. Denn die verwenden ja auch kein anderes Foto. Stalinistische-Staats-Antifaschisten und Autonome gemeinsam gegen Adolf Hitler! Schön, das es soetwas noch gibt. Aber was hat soetwas mit einer aus der tätigen Gegenwart zu begründenden politischen Positionierung von Autonomen zu tun? Die richtige Antwort auf diese Frage lautet: Nichts.

Jeder Versuch aus dem, bekanntlich nicht immer glücklichen, Verlauf der "deutschen Nationalgeschichte" in diesem Jahrhundert, für das was für die Zukunft ja immer nur spekuliert werden kann, eine Barrikade gegen die Gegenwart aufzurichten, wird politisch zum Scheitern verurteilt sein. Das Errichten von moralischen Tabus ist immer eine defensive und autoritäre Angelegenheit, die zudem, aktuell-politisch betrachtet, ohnehin nur eine hilflose Geste bleibt. So what? In der "großen Politik" und "viel Geschichte" von Oben sollen die kleinen Leute, d.h. wir heute zum verschwinden gebracht werden. Dagegen hilft keine "Große", sondern nur eine andere Gegen-Politik, d.h. immmer auch auch: Andere "Kleine Geschichte(n)" von Unten.

Timur und sein Trupp

Interim 333/1995