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Der gelbe Fleck

hobo

Am 16. April 1421 wurde die vormalige Mesnerin der Stadt Enns auf einem Wiener Scheiterhaufen verbrannt. Zur Last wurde ihr gelegt, dass sie einer Jüdin und deren Mann Hostien verkauft hätte. Die Juden und Jüdinnen hätten sodann die Hostien mit Messern durchbohrt bis das Blut Christi aus ihnen geflossen wäre, und sie derart geschändet.

In den beiden Ländern Ober- und Niederösterreich hatten am Beginn des 15. Jahrhunderts zwischen 1000 und 2000 Menschen jüdischen Glaubens gelebt. Doch 1420/21 wurden sie allesamt verhaftet. Sie mussten ihrem Glauben abschwören und zum Christentum konvertieren oder mit dem Leben bezahlen. 400 blieben standhaft und büßten dies auf dem Scheiterhaufen, an die 800 sollen außer Landes gejagt worden sein. Bevor sich in den beiden Ländern wieder Juden und Jüdinnen ansiedeln konnten sollten Jahrhunderte vergehen.

In Enns hatten die Menschen in der Judenstraße gewohnt. Sonst ist über sie wenig in Erinnerung geblieben, denn aus dem ansonsten penibel geführten Vermögensverzeichnis der Stadt Enns wurde ausgerechnet und ausschließlich das Blatt 68 über die BewohnerInnen der Judengasse herausgerissen. Das nächste erhalten gebliebene Verzeichnis Ennser Häuser stammt erst aus dem Jahre 1429, eine Judenstraße kommt darin aber nicht mehr vor. Dafür ist bekannt, dass alle Besitzungen der Ennser Juden und Jüdinnen 1420/21 beschlagnahmt wurden. Sie flossen zum größten Teil in Herzog Albrechts V. Kasse.

Gelebt hatten die BewohnerInnen der Judenstraße, von Berufsverboten und anderen Diskriminierungen drangsaliert, unter anderem vom Geldverleih. Jedoch war ihnen nicht gestattet, die versetzten Güter über ein Jahr zu behalten, da sie als "Ungläubige" nicht Herren über Christen sein konnten. So gesehen kann ihr Gewinn nicht allzu hoch gewesen sein. Die besseren Geschäfte beim Geldverleih machten sich trotz kanonischen Zinsverbotes noch allemal die Christen unter sich aus. Wenn es diesen aber nicht mehr reichte, beschuldigten sie die jüdischen Menschen zum Beispiel des Hostienfrevels und drangen wie im Jahre 1421 generalstabsmäßig geplant in deren Häuser ein. Konsequenterweise, berichtet die Geschichte von Enns (1996), wurden die Juden und Jüdinnen bei den folgenden Verhören auch nicht nach dem Verbleib der Hostien befragt, sondern nach dem Verbleib ihres Geldes ...

Damit lässt die Ennser Stadtgeschichte kaum Zweifel an den wahren Motiven der Verfolgung von Juden und Jüdinnen, doch soll es an dieser Stelle nicht nur um das Elend der Juden und Jüdinnen in der ältesten Stadt Österreichs gehen. Verwiesen sei vielmehr auf ein Buch ganz anderer Art, das sich der Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte (Untertitel) annimmt.

Die Anfänge der Arbeiten dazu reichen bis in das Jahr 1935 zurück. Rudolf Hirsch, als Jude und Kommunist von den Nazis verfolgt, war noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt um sich der Widerstandsgruppe Neu Beginnen in Berlin anzuschließen. In dieser Zeit begann er mit seinen Untersuchungen zum Hass gegen Juden und Jüdinnen in der deutschen Geschichte. Nach dem Krieg wurde Hirsch als Gerichtsberichterstatter u.a. von den Frankfurter Auschwitzprozessen bekannt. 1982 schließlich begann die Arbeit zum Projekt Der gelbe Fleck gemeinsam mit der Autorin Rosemarie Schuder, die sich bis dahin einen Namen mit historischen Romanen gemacht hatte. Als das Buch schließlich 1988 in der DDR erschien wurde es ein großer Erfolg. Einer der ersten Rezensenten in Westdeutschland fand in Hirsch und Schuders Der gelbe Fleck "die exakteste Formulierung für das Unsagbare, ein Werk, das uns alle angeht und uns mehr zu sagen hat als das meiste, was über zweitausend Jahre Unmenschlichkeit geschrieben wurde".

Denn geschrieben wurden die über 700 Seiten mit "Verachtung für die gedankenlosen Helfer, die vielen ‘kleinen Leute’, ohne die dieses barbarische Schlachten (der Holocaust; Anm.) nicht möglich gewesen wäre. Aber kein Verzeihen für die Mörder", wie es im Vorwort von 1988 heißt. Im Mittelpunkt aller Untersuchungen zu den Verbrechen gegen Menschen jüdischen Glaubens stand dabei immer die Frage: Cui bono. Wem nützte es?

Zu diesem Zweck wird weit ausgeholt. Über die Besiedelungsgeschichte Palästinas, dem Eingottglauben und einer Einführung in die Geisteswelt der Tora, der fünf Bücher Moses’, sowie dem Wesen des Hebräischen und des Jiddischen wird die soziale Struktur und die Bedeutung des Talmud für diese ausgeleuchtet. Von besonderem Interesse erscheint dabei der Vergleich des Umgangs mit der Kreditgewährung in dieser Sammlung von Gesetzten und Überlieferungen und dem christlich-kirchlichen Zinsverbot, der Erfindung vom "jüdischen Wucher" und der Bereicherung christlicher Hoheiten durch diesen Mythos.

Bei aller Verfangenheit im Detail gerät Der gelbe Fleck dabei nie in den Verdacht einer spröden wissenschaftlichen Abhandlung. Vielmehr schrieben Hirsch/Schuder eine ergreifende Geschichte der "Banalität" des Antisemitismus. Auf ihre sehr eigene Art und Weise haben sie den alten Gerichtsakten, die soviel über das Sterben berichten, Leben eingehaucht. Dafür verlangen sie von ihren LeserInnen, tief in die Geschichte der Verfolgung der Menschen einzutauchen, sich beim Lesen in Zeiten und an Orte versetzen zu lassen, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so bedeutend erscheinen mögen, die in ihrer Abfolge aber den Blick auf das Wesen der antijüdischen Diskriminierungen und Progrome über die Jahhunderte richten.

Ob es Kreuzzüge waren, die christliches Heil in der Plünderung jüdischer Gemeinden fanden, Blutbeschuldigungen wie Hostienfrevel, Ritualmorde oder der Vorwurf der Brunnenvergiftung in Zeiten der Pest, sie führten nicht nur zur Vertreibung und Ermordung der jüdischen Menschen, sondern immer auch zur Bereicherung der christlichen.

Besonders deutlich wird dieser Umstand in Hirsch und Schuders Buch an der Situation der jüdischen Gemeinde in Regensburg dargestellt, und auch die lange Geschichte von Diskriminierung und Vertreibung in Nürnberg erfährt eingehende Betrachtung. Diese reicht von den Anfängen der jüdischen Gemeinde in der Stadt der späteren NS-Parteitage bis zum Progrom 1938. Beleuchtet wird auch der Weg durch die Frankfurter Judengasse bis nach Auschwitz. Stationen auf heute österreichischem Gebiet wären zum Beispiel das tirolerische "Anderl von Rinn", und das "gnadenlose Kreuz" zu Thörl/Kärnten. Nur der Blick auf Wien nimmt leider nur wenig Raum ein.

Das Buch ist so voller informationsbehafteter Details, und mit so viel Hingabe an das Thema geschrieben, dass es sich einer Rezension, die seine inhaltliche Bandbreite widerspiegeln soll, praktisch entzieht. Über die Jahrhunderte hinweg verfolgt es die Diskriminierung jüdischer Menschen mit mehr Anteilnahme, als sich auf den ersten Blick mit historischen Gerichtsakten - sie stellen eine wesentliche und oft beklemmende Quelle dar - in Verbindung bringen lassen würde. Und doch dauert es bis zu einer Seite im letzten Teil des Buches, dass der Autor/die Autorin ein einziges Mal die Ich-Form in den Text einfließen lässt. Da steht er/sie in Auschwitz vor riesigen Bergen von zerrissenen Schuhen, zerschlagenen Brillen, Rasierpinseln, Zahnbürsten, Haarkämmen, Spielzeug und Gliedmaßen, die sich nicht verbrennen ließen. Berge von erbärmlichen und zerschlissenen Koffern. Die Namen der Besitzer sind mit großen Buchstaben daraufgeschrieben. Sie hatten gehofft, man würde ihnen die Koffer wieder aushändigen.
Mit Herzklopfen lese ich die Namen und fürchte, einen bekannten Namen zu finden. Nein, kein bekannter.
Es sind zu viele. Hier liegt aufgebahrt, was zu erbärmlich war, um ins "Reich" geschickt zu werden, was die Herren von I.G. Farben und die Herren von Krupp nicht mehr brauchbar fanden, um es an ihre "freien Gefolgschaftsmitglieder" zu verkaufen.

"Essays" seien die Abhandlungen über Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte, "Versuche", bedeutet bescheiden das Vorwort, und keine vollständige Analyse des Faschismus in seiner deutschen Erscheinungsform, noch eine vollständige Beschreibung der Judenverfolgung. Ohne jeden Zweifel aber ist das Buch ein unübersehbarer Richtungsweiser zum Verständnis derselben und eine berührende Erzählung zugleich.
 

Rudolf Hirsch / Rosemarie Schuder
Der gelbe Fleck
Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte
PapyRossa Verlag, Neuauflage 1999
760 Seiten; ca. öS 210.-
 
 

aus TATblatt Nr. +167/168 vom 15. Juni 2001
 
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