TATblatt


Euthanasie heute

Digitalisierte Zuweisungen von Überlebenschancen

 
Softwareprogramme berechnen auf Intensivstationen etlicher Spitäler die Überlebenschancen der PatientInnen und wiegen die Kosten ihrer Behandlung dagegen auf

C. Ubensis

Das Leben an sich, v.a. das von Behinderten und Kranken, wird zunehmend einer (angeblich objektiven) Bewertung unterzogen. Die BioethikerInnen, die immer wieder betonen müssen, daß es ihnen nur um das Wohl der Menschen gehe, da dies bei ihren eiskalten Überlegungen nicht bemerkbar ist, unterwerfen das Leben einem Abwägunsprozeß und einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Existenzberechtigungen und Wertigkeiten werden von ihnen zugeordnet oder verweigert; eine voraussetzungslose Akzeptanz des Menschen und der individuellen Existenz gibt es in dieser Logik nicht.

Eines der zentralen Themen dabei ist der Abbruch bzw. die Verweigerung einer notwendigen ärztlichen Therapie, also die Tötung der/des Kranken. Bei der Entscheidung darüber stützt sich mensch im klinischen Alltag auf Intensivstationen auf die Berechnungen von Computerprogrammen, den sogenannten Score-Systemen.

Die Krankengeschichten von PatientInnen auf Intensivstationen sind üblicherweise schon seit Jahren digitalisiert. Das Neue an den Score-Systemen ist, daß die erhobenen Daten (medizinische Parameter wie Herz-Kreislauf-Werte, ärztliche und pflegerische Handlungen und die Diagnose) mit Punkten bewertet und verknüpft werden. Der momentane Status der/des PatientIn wird versucht zu objektivieren und in ein Punkteschema gepreßt. Das Ergebnis kann dann mit statistischen Stammdaten verglichen werden. So will mensch die Überlebenschance der/des Kranken errechnet haben.

In der Diskussion über "Euthanasie" oder "Sterbehilfe", wie es meist euphemistisch genannt wird, ist das Tabu der Tötung vielerorts schon durchbrochen. Jetzt wird an der Legalisierung und an Rechtfertigungsstrategien gearbeitet. Die Score-Systeme sind ein Beitrag dazu. Die Entscheidung über die Tötung wird von MedizinerInnen an den Computer delegiert, der durch seine binären Berechnungen eine unanfechtbare Objektivität vermitteln soll. Welches Ergebnis die dahinjagenden elektronischen Impulse auch präsentieren, der Computer kann dafür nicht belangt werden. Die ÄrztInnen und PflegerInnen aber scheinbar auch nicht, denn sie haben ihre Verantwortung an die Statistik, die "Objektivität", ans Nichts delegiert. Sie entziehen sich ihr einfach.

Mittlerweile sind bereits 15 Softwareprogramme dieser Art am Markt. Eines der weitverbreitesten ist APACHE (Acute Physiology and Chronic Health Evaluation Programme). Bereits vor 4 Jahren verwendeten dieses 400 Kliniken in den USA und in der BRD kommt es auch schon in mehreren Städten zum Einsatz. (Für Österreich liegen mir leider keine Zahlen vor.)

Eine weitere (zumindest implizite) Verwendung dieses Score-Systems ist die Abwägung der hohen Kosten einer Intensivbehandlung mit der errechneten Überlebenschance. Wird die Wahrscheinlichkeit zu Überleben gering eingeschätzt, sinkt die Bereitschaft therapeutisches Bemühen und Kosten für die/den KrankeN aufzuwenden.

Besonders deutlich macht dies das Score-Programm "Riyadh" (benannt nach der saudi-arabischen Stadt, wo die statistischen Stammdaten dafür aufgenommen wurden). Dieses Programm erzeugte 1997 in Deutschland einen moderaten Medienwirbel, als es in Köln, Berlin und Bremen erprobt wurde. Es prognostiziert nicht nur die Überlebenschancen, sondern listet auch die Kosten der Therapie auf, damit eine Kosten-Nutzen-Analyse erstellt werden kann. Der Nutzen wird in dieser Rechnung utilitaristisch definiert, d.h. es geht um ein angenommenes Gemeinwohl, dem besonderes Gewicht verliehen wird. So ist das Geld eher für PatientInnen aufzuwenden, die mehr Überlebenschancen zuerkannt bekommen, als für jene, denen diese abgesprochen werden. So werden einzelne PatientInnen oder ganze Gruppen mit bestimmten Punktewerten von der notwendigen Therapie ausgeschlossen. Verstärkt wird diese mörderische Logik durch die bewußte Begrenzung der (v.a. finanziellen) Ressourcen im Gesundheitswesen. Durch den leidigen und dominanten Diskurs über das Sparen, die Konsolidierung des Staatshaushaltes, hat sich die wirre Überzeugung breit gemacht, daß "wir uns den Luxus der letzten Jahre nicht mehr leisten können", ohne dabei die ungerechte innergesellschaftliche Verteilung der Ressourcen zu beachten. Dies beeinflußt auch das Verhältnis der ÄrztInnenschaft zu den PatientInnen und wandelt ihre Berufsmoral. Die Medizin wird zur Gesundheitsökonomie.

Es wird noch eine Erweiterung dieser Score-Systeme angestrebt. Neben der Überlebenschance und der Kosten soll auch die "Lebensqualität" (siehe zu diesem Begriff Tb +93) im Falle eines Überlebens Beachtung finden. Damit wird die Bereitschaft eineN Intensivpatientin/-en zu behandeln weiter gemindert. Denn wenn das Leben nach der Krankheit mit zu vielen Einschränkungen verbunden ist, wird es nicht mehr als "lebenswert" definiert und der Mensch zur Tötung freigegeben.

Neben Überlegungen, die auf einer grundsätzlich Ablehnung des ärztlichen Tötens basieren, ist es auch interessant, sich die rechnerische Treffsicherheit dieser Score-Systeme anzusehen. Schließlich handelt es sich nur um statistische Wahrscheinlichkeiten, die im Einzelnen nicht zutreffen müssen. An der Berliner Charité-Klinik wurden die Überlebenschancen von PatientInnen mittels des "Riyadh"-Programmes errechnet, nachdem sie bereits therapiert worden waren. Der Computer prophezeite 53 PatientInnen  mit 99,9-prozentiger Sicherheit den Tod. Allerdings hatten 16 von ihnen die Station bereits lebend verlassen. Hätte mensch sich an den Computerberechnungen orientiert, würden diese 16 Menschen heute nicht mehr leben. Das Wort `Mord wäre dafür angebracht.
 

Quellen:

Dr.med. Mabuse Nr.107/1997
BioSkop Nr.2/1998
 

aus: TATblatt Nr. +101 (13/98) vom 3. Juli 1998
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