Das Virtuelle Chaos

Oder: Wie die Medien mal wieder nichts von Pressefreiheit hören wollten

Achja, Weihnachtszeit. Harte Tage für die Medien, die ein redaktionelles Umfeld für ihre Anzeigenseiten schaffen müssen, ohne daß dem zahlenden Publikum die frierenden Füße auch noch einschlafen. Denn Konsumrauschzeiten bringen in der Regel nicht gerade spannende Nachrichtenlagen mit sich. Dieses Jahr war das etwas anders: Die Russinnen und Russen, dank Russenmafia, Illegalen und Tschetschenienkrieg, Lieblinge der Medienschaffenden, sollten wählen - die kommunistische Gefahr war wieder groß im Kommen. Und in Hamburgs Innenstadt sollte am verkaufoffenen Samstag davor demonstriert werden. Der Untergang des Abendlands in 24 Stunden - so mußte es auch den KäuferInnen von Hamburger Morgenpost und Abendblatt erscheinen. Die Vorab-Titel-Geschichten überboten sich mit apokalyptischen Beschreibungen von marodierenden schwarzen Horden, die "das Chaos" in die vom Mongolensturm bis dahin noch verschonte Hansestadt bringen würden. Die Polizei tat das Ihrige mit martialischem Aufgebot und gut lancierten Pressemitteilungen den Eindruck zu erwecken, für den 16. Dezember sei geplant, die Passagen in Schutt und Asche zu legen.

Der Anlaß der Demonstration war den lokalen bürgerlichen Medien, die im Vorfeld berichteten, keine besonderen Ausführungen wert. Daß die vierte Staatsgewalt an unabhängiger, staatsferner Berichterstattung bestenfalls gelegentlich Interesse hat ist zwar an sich bekannt, so außerordentlich beredt wie in diesen Tagen um die Demonstration wurde es in letzter Zeit aber doch nur selten vorgeführt. Dabei hätte es nach der Entlassung der Viererbande Anlaß genug gegeben, wenigstens die journalistischen Sorgfaltsregeln zu befolgen und z..B. bei der Pressekonferenz kurz vor der Demonstration mal vorbeizuschauen, um zu hören, was "die Chaoten" denn selbst so vorgeben vorzuhaben....

Die Ereignisse selbst mußten vor diesem Hintergrund enttäuschen: Ein paar zerdellte Stoßstangen, eine zerdepperte Schaufensterscheibe (ausgerechnet einer Buchhandlung!), ein paar Handvoll Steine gegen Wannen und das berüchtigte Polizeirevier 16. In der nach oben offenen Krawallskala reicht das noch nichtmal für Stufe 2. Selbst auf Demonstrationen, die wegen Friedlichkeit keiner besonderen Erwähnung wert befunden wurden, ist da schon mehr passiert. Aber G. Rücht, dem Schutzpatron der Medien, sei Dank, es gab ja noch 4000 Beamte im Einsatz. Und bewährte Kräfte wie die bayrischen USKs und die im Anti-Anti-Atomkraftkampf erprobten Niedersächsischen Greiftrupps schaffen sich ihre Gefahrenlage selbst, in der 100 Leute mal eben in Gewahrsam genommen werden - zur Not auch wenn nur Sprechchöre den friedlichen Weihnachtseinkauf stören. "Chaos in der City", "50 Millionen futsch!" - die "Morgenpost" war zufrieden. Wir leben schließlich im Zeitalter des Cyberspace - und wenn die Demo nicht so tut, wie sie soll, wird eben der virtuelle Schaden errechnet: Nicht die Schaufensterscheiben, die heile geblieben sind, und nicht die verletzten Polizisten, die es nicht gibt, der Verdienstausfall des Einzelhandels, den JournalistInnen und HändlerInnen pi mal Daumen ermitteln, zeigt, wie bedrohlich es sein kann, wenn Demonstrationen nicht von vornherein ganz verboten werden.

Auch die RadioreporterInnen konnten an diesem Abend ihrer Phantasie, wenn sie denn antiradikal genug war, freien Lauf lassen und ein gefährliches Szenario ausmalen, das nur dank des beherzten Einsatzes von Wasserwerfern, Bergungspanzern, Verwaltungsgericht und Hubschraubern verhindert werden konnte. Schwerer hatten es die Kollegen vom Fernsehen, die technisch nicht ganz auf der Höhe der Zeit keinerlei Tricksequenzen zur Illustrierung der potentiell möglich gewordenen Gefahr für die freiheitlich-demokratische Einkaufsordnung vorbereitet hatten. Die echten Bilder waren aber entweder langweilig - wer will schon sehen, wie sich fünftausende die Beine in den Bauch stehen und die Ohren abfrieren wie im ganz normalen Leben. Oder aber sie waren keineswegs geeignet über den Sender zu gehen - die Polizeitruppen hatten an diesem Samstag ja die Rolle der Ordnungshüter, was sollte man also zeigen, wie sie über Fotografen herfielen oder Leute wegen ihres Aussehens als unechte Einkäuferinnen identifizierten und recht ungemütlich in "Gewahrsam" nahmen. Also griff der NDR zur Notlösung: Statt der Bilder vom ereignisarmen Geschehen gab es den Polizeipräsidenten in einer live-Schaltung. Und weil niemand im ganzen großen Sender eine Frage und der Reporter längst vergessen hatte, wie ihm ungefähr eine Stunde zuvor die grünen Truppen noch ein Polizeistaatsaufgebot zu sein schienen, rettete man sich mit Grüßen über die Runden: Die Moderatorin grüßt den Reporter, der grüßt den Interviewgast, der grüßt seine Einsatzleiter, die tapferen Kollegen aus den anderen Bundesländern, ein Gruß noch an die Bürger, die so kooperativ....Pressefreiheit kann so freundlich sein.

Ach ja. Es gab natürlich auch noch anderes: Die "Morgenpost" hat auch Axel kennengelernt, 30 Jahre alt und so gar kein Chaot, sondern ein braver Jurist, der sich Sorgen um die Grundrechte macht. Der Gute. Ein Mann wie geschaffen zehn Zeilen Ausgewogenheit herzustellen ohne daß die eigentliche Botschaft verloren geht...

Zuguterschlecht: Dann haben auch noch die Russinnen und Russen die hochgesteckten Erwartungen an das Chaos herb enttäuscht. Brav haben sie sich an die Vorhersagen der Demoskopen gehalten - Jelzin bleibt gesund, Tschernomyrdin macht weiter und Kosyrew bleibt wieder mal im Amt. Die Chaosforscher in den deutschen Medien habens wirklich schwer....

Oliver Tolmein (Hamburg)