Die Regierung sagt, daß jede Forderung nach Demokratie, die das Volk erhebt, terroristisch ist

Interview mit Jaime Ortiz L. - Herausgeber der mexikanischen Zeitschrift La Guillotina

La Guillotina entstand vor 13 Jahren. Damals war die mexikanische Linke nach einer Bewegung von bewaffneten Aufständen in einer Krise. Der Staat hatte auf die Bewegung mit Entführungen, Verschwindenlassen und Mord reagiert. In der Krise entstanden innerhalb der Linken verschiedene Strömungen und Gruppen, eine davon ist die Guillotina, die sich als "Antwort auf die alten dogmatischen Vorstellungen der Linken" versteht. Das Interview wurde am 7.12.95 in Stuttgart am Rande einer Veranstaltung geführt.

Welchen Stellenwert hat die Guillotina für die mexikanische Linke?

Die Guillotina hat für die Diskussionen der Linken eine große Bedeutung, da sie von der Basis der linken Gruppen gelesen wird. Wir haben zum Beispiel Diskussionen initiiert über reformistische und nationalistische Politik. Die Guillotina hat auch darin eine wichtige Bedeutung, daß sie innerhalb der Linken das einzige Sprachrohr der Schwulen- und Lesbenbewegung ist; die Stimme der Forderungen der Jugendbewegung, der Frauenbewegung, und der Bürgerrechtsbewegungen. Sie entwickelt Themen aus dem Alltagsleben , wie Feminismus, Ökologie oder eine Bewegung gegen Bürokratie. Wir sehen alle Bereiche des menschlichen Lebens als politische Bereiche. Zur Zeit beschäftigen wir uns ausschließlich mit der zapatistischen Bewegung und innerhalb dieser vorallem mit den indigenen Ausdrücken.

Schreibt ihr für diese verschiedenen Gruppen oder diskutieren diese miteinander in der Zeitung?
Die Gruppen haben die Freiheit, ihre Forderungen darin zu veröffentlichen und sie haben innerhalb der Zeitung eine Debattte über ihre politischen Ideen eröffnet. z.B wird das Demokratiekonzept zur Diskussion gestellt, das politische Konzept, Diskussionen über Nationalismus etc. Es ist auch ein Raum, wo über das Alltagsleben gesprochen werden kann. Es wird über die Frauen gesprochen, über ihre Rechte, über ihre Lebensverhältnisse zu Hause und bei der Arbeit und die Stellung der Frau auf dem Land. Es wird a uch über die Rechte der Kinder geredet, Recht auf Bildung, das Recht auf eine gesunde Ernährunfg und gegen die familiäre Gewalt. Über politische Themen, über Homosexuelle, über Lesben. Wir finden es absurd, Männer und Frauen als rein produzierende Wesen zu sehen.
Kritisiert ihr damit den dogmatischen Marxismus?
Unser Kollektiv übernimmt die Beschlüsse der 1. Internationalen, was die Anerkennung des gemeinsamen Daseins von Kommunisten und Marxisten bedeutet. Die Zeitung wurde am 100. Todestag von Marx gegründet, stellt sich aber mit schwarzen Fahnen dar. Die Stalinisten beförderten uns mit Fußtritten aus dem Kunstpalast.
Wie ist die Zeitung praktisch organisiert?
Die Zeitung wird von einem Kollektiv mit 40-70 Leuten organisiert; alle schreiben, alle layouten. Da sie sich vorallem unter den Jugendlichen in den Armenvierteln verbreitet hat, arbeiten wir mit diesen zusammen. Sie machen innerhalb der Guillotina eine eigene Zeitung. Auch die Frauen bei uns machen eine eigene Zeitung; sie haben spezielle Schwerpunkte, und setzen sich beispielsweise mit Dienstmädchen auseinander oder treten für die Rechte der Prostituierten ein. Die Zeitung wird per Handverauf vertrieben, da sie illegal ist. Sie kann nicht in der Öffentlichkeit verkauft werden in Kiosken beispielsweise, sondern muß unter der Hand verauft werden - in Universitäten, in den Vierteln, auf der Straße.
Aber es gibt doch offiziell Verantwortliche für die Zeitung?
Nein, die gibt es nicht. Es gibt offiziell niemand, weil die Zeitung illegal ist. Aber die Regierung hat die Leute, die die Zeitung produzieren und vertreiben, schon identifiziert, aber es gibt keine Polizeiakten darüber. Die Informationen, die die Polizei über die Zeitung hat, sind geheim. Wenn die Regierung gegen eine bestimmte Grup pe vorgeht, macht sie es geheim. Es wird geduldet, daß so eine Zeitschrift erscheint, Demos werden auch erlaubt, trotzdem weiß die Regierung wer sie organisiert. Wenn sie es für notwendig erachtet, kann sie einfach alle festnehmen und des Terrorismus beschuldigen.
Ist die Zeitung also illegal, weil die Regierung sagt, sie seien Terroristen?
Die Regierung sagt, daß jede Forderung nach Demokratie, die das Volk erhebt, terroristisch ist. Die Regierung nennt Arbeiter Terroristen, Intellektuelle, jeden. Aber die Art und Weise, wie die Regierung die Organisationen angreift, ist einfach, ihre wirts chaftliche Grundlage zu zerstören. Das ist eine andere Form, wie linke Zeitungen hier verfolgt werden, anders als bei der radikal zum Beispiel. Die Preise für das Papier und die Herstellung der Zeitung werden von der Regierung so in die Höhe getrieben, daß sie sich niemand außer ihnen selbst mehr leisten kann. So hören viele linke Zeitschriften auf zu exisitieren.
Aber wenn die Zeitung illegal ist, wieso tretet ihr dann hier so offen als die MacherInnen der Zeitung auf? Ist das nicht gefährlich?
Die Regierung weiß sowieso, wer die Zeitung macht. Es ist nicht wie in Europa. In Mexiko besteht die angebliche Freiheit, sich auszudrücken. Die Regierung stellt einfach den linken Zeitschriften sehr viele Hindernisse in den Weg, bevor sie erscheinen könn en. Unsere Zeitung berichtet beispielsweise auch nicht über bewaffnete Gruppen.
Ich glaube, daß das nicht der Punkt ist. Die radikal wird zwar offiziell verfolgt, weil die über und von bewaffneten Gruppen schreibt. ImPrinzip geht es aber darum, daß sie diesen Staat nicht anerkennt und eine Struktur schafft, in der linksradikale, revolutionäre Gruppen in ganz Deutschland diskutieren können. Insofern sind die beiden Zeitungen schon vergleichbar.
Die Guillotina ist auch deshalb illegal, weil sie den Staat nicht anerkennt und ihn bekämpft, klar.
Wird sie deshalb offiziell verfolgt?
Gegen die MacherInnen der Guillotina gab und gibt es Attentate, die zwar offensichtlich von Regierungsseite kommen, was diese aber leugnen. Sie behaupten, das seien rechtsgerichtete Gruppen. Es ist das gleiche, wie wenn mexikanische Politiker ermordet wer den, da weiß auch immer niemand, wer das war. Einerseits erkennen sie offiziell/öffentlich die Zeitung an und andererseits arbeiten sie verdeckt dagegen. Solche Angriffe gelten aber nicht nur der Guillotina., sondern allen linken Gruppen im Land. Ein Mitarbeiter der Guillotina wurde verhaftet, weil er Studentenführer ist und an der Besetzung der Uni beteiligt war. Einem unserer Fotografen haben sie die Fotoausrüstung beschlagnahmt. Es gibt keine Haftbefehle, die Leute werden einfach so verhaftet, gefoltert und dann wieder freigelassen. Es gibt Telefondrohungen, Observationen unserer Wohnungen und direkte Attentate. Kurz vor unserer Abreise gab es ein versuchtes Attentat auf mich, ich sollte überfahren werden.
Ist die Guillotina in ganz Mexiko verbreitet? Wie hoch ist ihre Auflage?
Die 4 Ausgaben pro Jahr erscheinen mit einer Auflage von 6000 Stück. Jedes einzelne dieser 6000 wird aber noch weiterkopiert und rumgereicht, so daß wir schätzungsweise viel mehr Leute damit erreichen. Im Gegensatz zur radikal, die im Untergrund verbreitet wird, wird die Guillotina öffentlich auf der Straße verkauft; aber nicht an Kiosken. Sie hat keine Lizenz, wie keine der Zeitschriften, die sich gegen die Regierung wendet. Deshalb wird sie als illegal erachtet.
Ist die Guillotina offiziell über eine Postadresse erreichbar?
Ja. Unsere Adresse ist im Büro einer legalen demokratischen Partei und deshalb einigermaßen sicher. Trotzdem könnte die Polizei theoretisch auch diese Adresse stürmen und die ganze Auflage beschlagnahmen, oder die Post. Das ist aber glücklicherweise noch nicht passiert.
Würdest du sagen, daß die Existenz der Guillotina in Gefahr ist?
Ökonomisch ist sie auf jeden Fall gefährdet. Von 77 Alternativzeitungen, die es mal gab, haben nur 6 überlebt. Die anderen sind hauptsächlich aus ökonomischen Gründen eingegangen. Es könnte auch die Guillotina treffen.
Wie kann man euch von hier aus unterstützen?
Finanziell indem man Soli-Feste veranstaltet und Geld sammelt. Außerdem ist es wichtig, daß wir im Notfall Unterstützung aus Europa haben. wir rechnen mit einer Gewaltsituation in naher Zukunft. Auch deshalb machen wir diese Veranstaltungen: um unser Kollektiv durch Bekanntheit zu schützen.

Dieses Interview führte die Journalistin Eva Wolfangel (Stuttgart)