Wir sind hier nicht auf ner Butterfahrt (...)

Bericht und Versuch einer Einschätzung der bundesweiten Demonstration "radikal ins nächste Jahrtausend"

(...) Auch nach der Aussetzung der vier Haftbefehle gegen Zahlung einer Kaution und der damit verbundenen Freilassung der Inhaftierten am 05. bzw. 06. Dezember 1995 ist eine Veränderung der Mobilisierungsintensität nicht feststellbar. Offensichtlich herrscht in den verschiedenen linksextremistischen Zusammenhängen die Überzeugung vor: Jetzt erst recht. (...) Aus der "Anmeldebestätigung unter beschränkenden Auflagen" der "Behörde des Inneren-Polizei-" vom 13.12.1995

Daß sich dann bis 13.00 Uhr tatsächlich über 5000 Menschen auf der Moorweide eingefunden hatten, war auch für uns eine sehr freudige Überraschung!

Fast allen TeilnehmerInnen schien dabei klar zu sein, daß die Moorweide als Auftakttreffpunkt in Hamburg durchaus umstritten ist "... das ist schon ne prima Falle", denn viele Städte und Zusammenhänge kamen geschlossen zum Treffpunkt.

Dabei lag gerade mal ein Monat zwischen dem ersten Demoaufruf und dem 16.12 - wenig Zeit, die aber offensichtlich in den unterschiedlichen Strukturen gut genutzt wurde.

Überhaupt haben wir den Eindruck, daß innerhalb der Städte sehr intensive Diskussionen darüber liefen, was inhaltlich mit der Demo gewollt wird und wie diese Inhalte nach Außen getragen werden sollen.

An dieser Stelle werden wir den politischen Druck erhöhen ...

Ein Schwerpunkt in der Vorbereitungsdiskussion lag dabei darin, daß wir die Demo, auf der Route, auf der sie angemeldet war, bis zum Ende geschlossen durchbringen wollten, um die inhaltliche Zielsetzung offensiv nach Außen zu bringen. Dabei wurde in der Diskussion klar, daß eine vollständige Sperrung der Innenstadt, und damit ein faktisches Innenstadtverbot, nicht hinnehmbar war. Das Alternativkonzept: wir gehen in die Innenstadt und führen Groß- und Kleingruppenaktionen durch, war von daher von Anfang an in der Diskussion und wurde auch so nach Außen vertreten.

Spätestens auf der Auftaktkundgebung war dann allen klar, daß es ein Innenstadtverbot gibt. Diskutiert war aber schon vorher, daß es wichtig ist, die Demo durchzuführen und mit dem Alternativkonzept im Hinterkopf, sollte angetestet werden, was auf der Demo an Durchsetzung möglich ist. Das hieß dann konkret, daß auf dem Gänsemarkt, dem Zugang zur Innenstadt, ein letzter Verhandlungsversuch mit der Polizeiführung unternommen werden sollte. Sechs Wasserwerfer und zig hundert Bullen waren an diesem Ort die vorweggenommene Antwort auf unser Verhandlungsangebot.

... mehr Druck, mehr Druck!!

Um von da ab nicht weiter permanent im Spalier zu laufen, kürzten wir die Demo kurzerhand ab, was bei den Bullen für ziemliche Verwirrung sorgte. Auf Grund der Situation, daß dadurch einige Kundgebungsorte wegfielen, konnten viele Redebeiträge nicht gehalten werden; und bei dem weiteren Weg über Asphaltwüste und durch Büroschluchten, hätten die Beiträge mit Außnahme der TeilnehmerInnen und der Bullen auch niemanden mehr erreicht.

Um die Beiträge, die gehaltenen und die nicht gehaltenen, allen zugänglich zu machen, wird momentan gerade eine komplette Dokumentation erstellt.

Inhaltlich bezogen sich die Texte auf die Politikfelder der einzelnen Gruppen und stellten etwa Analysen zur Situation in Kurdistan, zu Frauen auf der Flucht, zu Abschiebepolitik oder den Kriegseinsätzen der BRD vor. Ein weiterer Schwerpunkt lag in der Information über die diversen §§129/129a- und anderen politischen Verfahren, die zur Zeit laufen (u.a. §129a gegen Ursel Quack aus Saarbrücken, §129a in Frankfurt-jetzt auch mit Beugehaftverhängungen, Durchsuchung im Dresdner Infoladen wegen §129a, Prozeß gegen Birgit Hogefeld etc), und dem Versuch, diese im Kontext der gesellschaftlichen Situation einzuschätzen.

Tenor der Beiträge war die Betonung der Bedeutung eines gemeinsamen Handelns gegen die Repression und für die Weiterentwicklung verschiedener Formen des Widerstands.

"(...) Kein einzelner Zusammenhang, keine politische Gruppe kann alleine ihre Ziele durchsetzen, noch sich gegen die Repression behaupten. (...)” Aus dem Beitrag von Ursel Quack - Saarbrücken

Zusätzlich wurde nochmals betont, daß es zwar schön und auch Grund zur Freude ist, die nunmehr Ex-Gefangenen aus dem radikal-Verfahren wieder bei uns zu haben, daß sich aber an der Situation im Verfahren und den Konstrukten der BAW nichts geändert hat, daß Widerstand und Solidarität weitergehen müssen.

Trotzdem war es schön, drei der vier dabeizuhaben. Sie hielten Redebeiträge oder ließen sie verlesen, in denen sie nochmals auf die Haftsituation, die hohe Bedeutung von Soliaktionen und den Sinn dieser Demo eingingen.

"(...) Mit dem Konzept dieser Demo, die Vielfältigkeit von linksradikalem Widerstand darzustellen, und auch dem Versuch, in der Soliarbeit mit lange bestehenden Gräben unter uns umzugehen, haben wir einen wichtigen Schritt getan, um den Angriff vom 13.06. ins Leere laufen zu lassen. (...)” Cracker - Rendsburg.

Aber auch die Situation anderer Gefangener spielte eine Rolle.

"(...) Daß ich und wir erstmal draußen sind, hat den Knast kein Stück verändert und sonst keineRM Knacki etwas genutzt. Denkt daran, daß es tausende unbekannte Gefangene gibt, besonders in den Abschiebeknästen, die in ihren Zellen langsam verfaulen, ohne den geringsten Kontakt nach draußen. Weder kennen sie eine solche Unterstützung, noch die damit vorhandenen Privilegien. Auch sie sind z.T. isoliert und kriegen Haftbedingungen aufgebrummt, über die sich niemand aufregt, weil niemand sie kennt. Sie sind oft nicht besser oder schlechter als politische Gefangene und viele haben ihre Freiheit nötiger als ich oder andere, für die sie gefordert wird, denen geschrieben und für die demonstriert wird. Bitte vergeßt das nicht und bleibt am Start wie jetzt!” Werner - Berlin.

http://www.XS4ALL.NL/~TANK/RADIKAL

Thematische Breite und der Versuch, unsere Vielfalt in ihrer Stärke zu demonstrieren - mit diesem Ausdruck war die Demo am16.12. verknüpft.

Das fand sich auch in den vielen und phantasievollen Transparenten wieder, wobei ein Transparent aus Holland zunächst für Verwunderung, dann für Begeisterung sorgte: Als Soliaktion wurde die aktuelle Ausgabe der radikal von einer holländischen Gruppe in das Datennetz World-Wide-Web eingespeist, und die sinnlos wirkende Anhäufung von Zeichen auf dem Transparent stellte sich als die betreffende E-Mail-Adresse heraus.

Insgesamt war's gut, so denken wir.

Sowohl von den TeilnehmerInnen, die größtenteils ihr Verhalten und ihre Motivation klar bestimmt zu haben schienen, als auch von Seiten der Demovorbereitung und der aus Delegierten bestehenden Demoleitung.

Das doppelseitige Flugblatt an die TeilnehmerInnen war klar und übersichtlich und stellte eine sehr sinnvolle Orientierungshilfe dar: Überblick über den Routenverlauf und eine kurze thematische Einordnung der einzelnen Punkte, Stadtplan, Ansagen zum Demokonzept und zum Demoverhalten sowie Rechtshilfetips und Anlaufstellen.

Als nach Auflösung der Demonstration am Schulterblatt einige Gruppen für sich beschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen, indem sie den Versuch unternahmen, die Bullenwache an der Stresemannstraße anzugreifen, befürchteten wir zuerst, daß jetzt das passiert, was auf jeden Fall vermieden werden sollte, nämlich eine langandauernde Schlacht rund um die Flora. Doch dazu kam es dann nicht, denn die Parole "bei einem faktischen Demoverbot gehen wir in die Innenstadt" schienen alle im Kopf zu haben. Auch wenn es unterschiedliche Einschätzungen über Sinn und Unsinn dieser Aktion geben mag, in einem waren wir uns fast alle einig: Es war schon ein schöner Anblick, zur Abwechselung mal die Bullen auf der Flucht zu erleben.

Für viele von uns zeigte sich, daß das Innenstadtkonzept, so grob und inhaltlich unbestimmt, wie es in der Vorbereitung diskutiert war, trotzdem aufgegangen ist. Über mehrere Stunden hinweg haben wir es geschafft, die Demoinhalte in der Innenstadt zu thematisieren. Über die Reaktion der Passantinnen läßt sich dabei zwar streiten, doch zum einen regten sich ziemlich viele über die immer härteren und zielloser werdenden Bullenübergriffe auf, von denen auch eine ganze Reihe WeihnachtseinkäuferInnen betroffen waren, zum anderen, war allen bewußt, daß diese Aktionen im Zusammenhang mit der Demo standen.

Bei der relativ großen Anzahl von kurzfristigen Festnahmen (ca. 120) und den relativ vielen Verletzten, läßt sich sicherlich weiter an einem derartigen Konzept feilen; aber auch wenn die Zahlen belegen, daß es wohl doch nicht immer geschafft wurde, die kurzfristigen Kleindemos zum richtigen Zeitpunkt aufzulösen, so war das Konzept dennoch wichtig und richtig.

Zum Abschluß nur noch so viel:

Natürlich war es schade, daß die Route letztendlich so kurz war, wodurch wichtige Kundgebungsorte wie Springer-Hochhaus wegfallen mußten, und daß wir uns ab dem Gänsemarkt vorwiegend in menschenleeren Straßen bewegten. Mit 5000 Menschen wäre sicherlich eine powervolle, lange Demo möglich gewesen. Da aber stand die Abriegelung der Innenstadt davor.

Wie unterschiedlich oder gespalten die Ansichten über den Ablauf der Demo und des Alternativkonzeptes sein mögen - deutlich ist geworden, daß wir in die Innenstadt kommen, wenn wir wollen.

In jedem Fall - schön, daß so viele da waren!

Jetzt nicht lockerlassen, bis zum nächsten Mal.

Radikal ins nächste Jahrtausend!