Ein Brief, der nicht zum Abschicken bestimmt ist

(meine Kinder wollen wissen, was Gefangensein ist)

aus: "Hände im Feuer" Ein Tupamaro blickt zurück von Ernesto Gonzalez Bermejo / Focus Verlag / 1986

Libertad, 3. März 1978

Meine geliebten Kinder!

Gefangensein ist vor allem Widerstehen. Und da gibt es verschiedene Ebenen: Widerstehen heißt verhindern, daß sie dich zerstören, dich verstören, dich demontieren.

Erste Stufe: Überleben. Lebendig ankommen, an welchem Ende auch immer, vielleicht an deinem eigenen. Ohne Schäden angekommen. Und wenn ich sage lebendig, meine ich eine ganze Menge Dinge: Intakt sein, fröhlich sein und an den Menschen im allgemeinen glauben, an jeden Menschen, jeden einzelnen, zumindest an ein kleines Teilchen jedes Menschen, in dem Wissen, daß dieses Teilchen immer existiert oder existieren kann. Lebendig, um wieder und wieder anzufangen. Du mußt auf dieses Leben sehr gut aufpassen, das so viele Risse bekommen hat, das ihnen so sehr bei der Hand ist, ihnen und den Britos', die in der Welt wachsen und gedeihen, so sehr in Reichweite liegt; eine langwierige und bescheidene Aufgabe voller Opfer. Auf dich aufpassen, auf dieses unbedeutende Etwas, das sich so enorm lohnt, wenn du selbst es auch nicht glaubst und nie geglaubt hast.

Zweite Stufe: Lebendig sein. Mensch bleiben, human, würdig, anständig, hohe Ansprüche stellen. Nicht über die Toten - die vielen - müssen wir hier sprechen, über die das Gefängnis verfügt, sondern über die Zermürbung, die Wunden, die wichtigen Schichten, die dir zerbröckeln, dir alt werden und verfaulen und abfallen. Du bist noch lebendig, doch schon nicht mehr so sehr du selbst: das ernste Gesicht, das unerbittliche Auge, der neutralisierte Zeuge, Zuschauer der Niedertracht. In einigen Dingen der für immer Stumme. Das Ich wußte nicht, daß es so viel vermag für so lange Zeit.

Dritte Stufe: Mensch und militant bleiben. Zu Diensten sagten sie in alter Zeit. Ein anschaulicheres Wort scheint mir: Daß sie dir nicht die Lust, das knappe kurze Aufbegehren abtöten, daß dein Bewußtsein und auch dein Wille wachsen mögen in diesem Abschnitt, der - an deinem eigenem Leben gemessen - lange dauern kann, und der auch sehr leer und vergessen und einsam und still sein kann. Ich erinnere mich immer an etwas, das ich einmal gelesen habe: Ein Mexikaner, der einen Streik organisiert hatte - das war alles, wozu er je kam -, und sie verpaßten ihm eine Strafe von 30 Jahren, die er rigoros absaß ... Ein gutes Stück Überzeugung muß man da schon haben. Und wenn du dann herauskommst und noch weitermachen kannst, dann bist du militant geblieben, zu Diensten. Und du hast dieses Stückchen Gefecht gewonnen, hast gesiegt an dieser Kampffront, die du selbst bist. Das einzige, für das man wirklich verantwortlich ist: man selbst. All das ist Widerstehen.

Abgesehen vom Widerstehen, dem Verschleiß, dem Ertragen deiner Wunden, mußt du dieses Neue, das du bist mit mehr Dingen einerseits und viel wenigeren andererseits, akzeptieren lernen. Es ist, als zeugest du dich, gebärest dich, zögest dich selbst auf, mit Bedacht. Häßlicher und ungleichmäßiger bist du geworden und mußt dich daran gewöhnen.

Deine Stunden mußt du füllen nicht mit Ablenkung, sondern mit Produzieren, auch das ist Gefangensein. Und dich nicht langweilen. Nicht zulassen, daß diese Plage, dieser Überdruß, dieses immer Gleiche dich aufhält, dich aufsaugt.

Und des Enthusiasmus fähig bleiben, jeden Moment, aus vielen Gründen. Und vor allem deine Zärtlichkeit kultivieren in dieser Macho-Welt, Mann ohne Kinder noch Lieder, ohne Lachen noch Sex noch Arbeit.

Auch andere Dinge sind Gefangensein, aber das sind die leichteren, die, die von selbst kommen: Sich daran gewöhnen, das Licht nicht ausmachen zu können, nie Geld, Telefon, Auto zu benutzen, und nicht einen einzigen Augenblick zu vergessen, daß dein Feind dich umgibt, daß er dich kaut und verdaut, die Gitter am Fenster nicht und den ständigen Kampf. Und jetzt, nachdem er im Gedächtnis gespeichert ist, diesen Entwurf zerreißen.