Über den von Husên Düzen herausgegebenen Band "Zehn kurdische Erzähler"
"Zu Fuß dauerte der Weg dorthin eine halbe Stunde. Gemso eilte mit schnellen und langen Schritten, denn er durfte nicht zu spät kommen. Er erreichte die Wache schnell. Als er durch den Hofeingang eintrat, plagten ihn jedoch Zweifel. Er wußte nicht, ob er erst zum Hauptmann gehen sollte, um ihm die Zigaretten zu geben, oder ob er erst seine Arbeit tun und später den Hauptmann aufsuchen sollte ... Als er noch so überlegte, schreckte ihn ein Schrei auf. Gemso kannte diesen Schrei gut. Beim Schlachten hatte er ihn oft gehört. Es war der Schrei der Schafe, bevor sie geschlachtet wurden. Gemso lief zu dem Gatter hin, wo die Schafe geschlachtet wurden. Als er näher kam, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Was sah er da! Ein Gendarm hatte ein Schaf festgebunden und sich daneben aufgestellt. Ehmedo, bekleidet mit der Schlachterschürze, die noch den Geruch von Gemsos Schweiß trug, schleifte das Schlachtmesser. Als er Gemso sah, lächelte er und ging zu dem blökenden Schaf hin."
Ein Abschnitt aus der Erzählung "Serupe" von Mehmet Ali Kut, der beispielhaft aufzeigen soll, wohin die kurdischen Erzähler ihre Leser entführen: in das Alltagsleben und in die Vorstellungswelt ihrer kurdischen Heimat.
Neben der Geschichte von Gemso, dem Schafschlächter, wird erzählt von Meyro, die beim nächtlichen Wasserholen durch einen Schlangenbiß getötet wird, vom Schüler Xosnav, der die Amtssprache nicht kennt oder vom Bruder, der seine Schwester erschoß, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Und natürlich von anderen (erfundenen?) kurdischen Menschen.
Die Erzählungen sind in einfacher Form und einer häufig ungewohnt blumigen Sprache verfaßt - und übersetzt. Ab der dritten Erzählung lösten sich die -auch dadurch bedingten- anfänglichen Widerstände (zu einfach, zu märchenhaft, uneinheitlicher Erzählstil) beim Lesen auf. Und es kam immer häufiger das Gefühl auf, als wäre man zu Besuch bei Lalo Karim, einem alten Mann aus einer der Erzählungen: "Gruppenweise kamen sie und setzten sich um ihn herum. Er stellte den Kessel aufs Feuer, um Tee zu kochen, und dann verbrachten sie die Zeit, indem sie seinen schönen Geschichten lauschten." Und es kam immer häufiger das Gefühl auf, als wäre man zu Besuch bei kurdischen Freunden, um ihren Geschichten aus der Heimat zu lauschen.
Wie Herausgeber Husên Düzen im Vorwort des Buches schreibt, bestehen Überlieferungen in kurdischer Sprache überwiegend in mündlicher Form, weitergegeben durch Sänger oder Erzähler. Schriftliche Überlieferungen stammen hauptsächlich aus dem Mittelalter und sind in Versform verfaßt. "Kurdische Prosa dagegen, als neuere literarische Form, ist wenig zu finden."
Dieses Zitat verdeutlicht ein Anliegen des Herausgebers: kurdische Prosa zu fördern und einer breiteren LeserInnenschaft zugänglich zu machen. Für Husên Düzen war daher ausschlaggebend, daß die Erzähler in kurdischer Sprache schreiben. Neun der Erzählungen sind im Original im Kurmanci und im Sorani-Dialekt geschrieben.
Die Autoren des Bandes leben alle im Exil. "Dies war bei der Auswahl nicht
von vorneherein beabsichtigt, zeigt aber beispielhaft die heutige Situation kurdischer Literatur. Neben der Tatsache, daß sie im Exil leben, bestimmen noch andere Umstände ihre schriftstellerische Arbeit in gleicher Weise: Die meisten haben erst im Exil angefangen, auf Kurdisch zu schreiben, sie üben die Schriftstellerei nebenberuflich aus, sie arbeiten weitgehend isoliert, weil es kaum geeignete Übersetzungen ihrer Arbeiten gibt und somit die kritische Resonanz einer anderssprachigen Leserschaft ausbleibt, und sie leisten eine doppelte Arbeit als Schriftsteller und Sprachwissenschaftler, weil sie Pioniere bei der Aufgabe sind, die kurdische Sprache als Schriftsprache zu entwickeln. Hinzu kommt bei allen die Schwierigkeit, daß sie ihre auf Kurdisch verfaßten Werke aufgrund der politischen Umstände in ihrer Heimat nicht veröffentlichen können und somit auf die Leserschaft ihrer Exilländer angewiesen sind." (Aus dem Vorwort von Husên Düzen)
Darüber hinaus geht es Husên Düzen auch um Unterstützung bzw. Förderung der Tätigkeit der kurdischen AutorenInnen -auch von öffentlicher Seite-, um Auseinandersetzung und schließlich um das Akzeptieren der kurdischen Sprache.
Das Buch erfüllt -trotz vieler Schwächen einzelner Erzählungen- noch ein besonderes Anliegen des Herausgebers: "Über die tagespolitische Aktualität hinaus aber ist wenig über den Alltag, die Gefühle und Schicksale der kurdischen Menschen bekannt geworden. Literatur kann dazu dienen, ein Volk besser kennenzulernen. Diese Anthologie kurdischer Erzähler soll ein solcher Versuch sein." Dieser Versuch ist gelungen.
Husên Düzen, Zehn kurdische Erzähler, Ararat Verlag, Winterthur 1996, 159 Seiten. Preis: