Das
Leben der Frauen in Südkurdistan
Ein langatmiger Kampf um eine bessere Zukunft
Medya
Medya
lebt seit nunmehr 20 Jahren in Kurdistan. Als gelernte Altenpflegerin
ging sie in die Berge. Sie ist Teil eines Ärzteteams, das sich in den
Dörfern und auf den Hochalmen der Kandil-Berge in Südkurdistan um die
gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung kümmert. Wenn es ihre Zeit
und die Situation erlauben, sendet sie uns einen Brief über ihr Leben
in Südkurdistan. Mit diesem Brief will sie uns die alltägliche Situation
der kurdischen Frau näherbringen.
Das Leben der Frauen hier in Südkurdistan [Nordirak] verständlich zu
machen ist nicht ganz einfach, weil es für den Menschen in Europa nicht
so leicht nachvollziehbar ist, denn Frau lebt hier ganz anders. Trotzdem
werde ich es versuchen. Um die Lage verständlicher zu machen, liegen
Fotos von der Landschaft, Frauen und Kindern bei. Auch die Auswirkungen
von Luftangriffen sind mit Fotos belegt.
So fange ich erst einmal
mit dem Tagesablauf einer Frau im südkurdischen Nomadenlager an.
Die Frau oder auch gleichzeitig
Mutter von meist vielen Kindern steht morgens zwischen 4 und 5 Uhr auf,
bewässert den Boden um das Nomadenzelt, dann wird gefegt. Den Teig für
das Brot hat sie schon in der Nacht zubereitet, sie holt das Holz, facht
das Feuer an, legt das Backblech drauf und backt das Brot. Nach dem
Backen ist es an Zeit, den Rest der Familie zu wecken, den Tee zu kochen
und das Frühstück vorzubereiten. Gemeinsam wird gefrühstückt, der Mann
verlässt zumeist als Schäfer das Haus, die Frau übernimmt den Abwasch,
sie räumt die Schlafstätte auf, fegt das Zelt aus, wäscht die Kinder.
Dann ist es schon höchste Zeit, um sich mit den anderen Frauen im Nomadenlager
zum Melken der Schafe und Ziegen aufzumachen. Zum Teil ist der Ort wo
gemolken wird, ein bis zwei Stunden vom Nomadenlager entfernt. Diesen
Weg legt die Frau täglich, je nach Möglichkeiten, entweder zu Fuß oder
auf dem Maulesel zurück. Im Hochsommer sitzt also die Frau stundenlang
unter der prallen Mittagssonne hinter den Tieren zum Melken. Danach
muss sie die Strecke zum Lager wieder zurück. Meist müde macht sie sich
daran, sowohl die frischgemolkene Milch zu kochen als auch das Essen
vorzubereiten. Wenn die Familie allein ist, isst sie gemeinsam. Kommen
jedoch Besucher, werden Frau und Kinder von der Essecke verbannt, nur
der Mann sitzt mit dem Besuch zum Essen. Frau und Kinder essen in der
Küche. Dabei soll der Besuch vor dem Lärm, dem Schmatzen und dem Kleckern
der Kinder bewahrt werden. Nach dem Essen wird der Tee aufgetragen.
Wieder ist die Frau mit dem Abwasch und ausfegen beschäftigt. Dann hat
sie eine kurze Pause, die sie oft mit ihren Kindern verbringt. Selten
hat sie Ruhe, um sich ein wenig hinzulegen. Ist Besuch da, muss sie
ständig etwas auftragen, Nüsse, Obst, selbstgebackene Kekse und immer
wieder Wasser oder Tee – ein ständiges Hin und Her, denn die Kurden
sind sehr gastfreundlich.
Die Milch wird zu Jogurt, Käse oder Milchspeisen verarbeitet. Wasser
wird geholt, wieder rund um das Zelt bewässert und gefegt, die Wäsche
gewaschen, das Abendessen gekocht und serviert. Abends wird es oft voll
im Zelt. Die Nachbarn kommen zusammen, es wird lauthals geredet, wobei
die Frau immer wieder in kleinen Gläsern den Tee, Nüsse oder Sonnenblumenkerne
bringt und danach wieder saubermacht. So gegen 21 bis 22 Uhr fallen
ihr langsam die Augen zu, sie bereitet die Schlafstellen vor und muss
sich nun mit den Bedürfnissen ihres Mannes abmühen. Die Frau arbeitet
also täglich 17 bis18 Stunden am Stück und hat wenig Zeit sich auszuruhen.
Die Kinder erhalten oft keine Antwort auf ihre Fragen, weil die Frau
einfach keine Zeit hat auf sie einzugehen, jedoch geht die Frau aus
dem Haus, so sind immer ihre Kinder dabei. Die Frauen sprechen untereinander
viel, jedoch wenn Fremde oder Besucher kommen, sind sie sehr still.
Ihre Träume und Wünsche sind spärlich und eigentlich kann man trotz
aller Mühe und der vielen Arbeit viele zufriedene Frauen sehen. Viele
können sich nicht vorstellen, anders zu leben. Im Sommer leben sie auf
den Hochalmen, ihre Art, in und mit der Natur zu leben, ist erstaunlich.
Im Winter begeben sie sich in ihre Dörfer, wo dann die Kinder auch zur
Schule gehen. Vor etwa 10 Jahren war es nicht üblich, dass die Mädchen
zur Schule gehen, und auch heute weigern sich einige Väter hartnäckig,
ihre Töchter zur Schule zu schicken.
Oft werden hier im südkurdischen Hochgebirge die Almen und auch die
Umgebung der Dörfer von der türkischen Luftwaffe oder den iranischen
Granaten beschossen, so dass die Menschen gezwungen werden, ihre Dörfer
oder Almen zu verlassen. Im Sommer leben sie dann in Zeltlagern. Entschließen
sie sich, das Dorf nicht zu verlassen, steckt immer die Angst vor dem
nächsten Angriff in den Knochen. Vor allem fürchtet sich die Bevölkerung
vor dem Verlust ihrer Kinder als auch ihrer Tiere, die ihre Einkommensquelle
sind.
In den bildschönen Dörfern von Kandil leben die Menschen von der Viehzucht
und dem Anbau von Obst, Gemüse und Getreide. Andere gehen in die Städte
wie z. B. Hewler, Silêmanî, Mûsil, Duhok, Raniye und Dokan, um als Tagelöhner
zu arbeiten. Wieder andere Männer verdienen ihr Einkommen als Peshmerge.
Die Frau muss das Brot entweder selbst backen oder aus der Stadt beziehen,
da es in den meisten Dörfern keine Bäckerei gibt. Auf dem Land arbeiten
die Frauen als Melkerinnen oder in ihren Gärten. Meist sind sie zu Hause
und besuchen allenfalls die Nachbarn oder Verwandten im Dorf ohne die
Gegenwart des Ehemannes. Selten geht eine Frau allein in die Stadt.
In der Zeit, wenn vermehrt Luftangriffe rund um die Dörfer von Kandil
im Grenzgebiet stattfinden, bleiben etwa 2 Monate lang die Schulen geschlossen
und auch die Arztpraxen sind leer, weil die Ärzte sich weigern, ins
Krisengebiet zu kommen. Trotzdem sind die Menschen hier entschlossen,
ihre Dörfer nicht zu verlassen. Sie wollen nicht in den Städten leben
und nur wenige wandern ab. Wäre zum Beispiel eine Mittelschule vorhanden,
so würden viele Menschen lieber in ihrem Dorf bleiben.
Es ist natürlich auch für uns nicht einfach, die 50 Dörfer im Gebiet
Kandil zu versorgen, weil wegen der Luftangriffe nicht zu viele Menschen
an einem Ort versammelt sein sollten. Deshalb müssen wir als Gesundheitseinheit
beweglich sein, um in jedem Dorf den Gesundheitsdienst leisten zu können,
was ohne Auto ein wirkliches Problem ist.
Früher wurden viele Mädchen zwangsverheiratet, jedoch nimmt die Zahl
der Zwangsehen durch politische Bildung ständig ab. Trotzdem trifft
man immer wieder auf tragische Geschichten, z. B. dass der Vater seine
Tochter gegen ein anderes junges Mädchen eingetauscht hat, das er sich
dann zur Frau gemacht hat.
Viele Frauen, vermehrt in den Städten von Südkurdistan, verüben Selbstmord,
indem sie sich selbst verbrennen. Die Gründe liegen zum Teil darin,
dass sie aus der Schule genommen wurden, der Vater gab seine Tochter
nicht dem Mann, mit dem sie gern zusammengelebt hätte, sondern einem,
der ihm gefällt. Streit in der Familie und oft auch unberechtigte Beschuldigungen
oder Hoffnungslosigkeit, hohe Verschuldung, die ausweglose Suche nach
dem Sinn des Lebens sind oft die Anlässe des Selbstmordes. Die Drohung
des Mannes, sich nach einer weiteren Frau umzusehen, führt oft zum Verlust
des Selbstwertgefühls der Frau. Die ständigen Befehle und zum Teil auch
die Erniedrigungen seitens des Mannes werden nur mit Widerwillen in
Kauf genommen. Es fällt der Frau auch schwer, immer für den Mann schön
zu sein und ihm immer gefallen zu müssen, besonders dann, wenn er seine
Augen immer wieder auf Frauen außer Haus richtet.
Vergewaltigte Frauen gelten als entehrt und werden ermordet oder nach
neuestem Gesetz in Südkurdistan mit dem Vergewaltiger zwangsverheiratet.
Es gibt jedoch Kampagnen gegen Zwangsverheiratung, gegen Gewalt in und
außerhalb der Familie, Aufklärungsarbeit in den Gemeinden, die die Polygamie
angreift. Seit einigen Jahren bilden sich Frauenzentren, in denen sich
die Frauen austauschen können. Hier erhalten die Frauen auch Näh- oder
Computer- und auch Alphabetisierungskurse. Besonders die Stärkung des
Selbstbewusstseins ist eine der Hauptaufgaben der Zentren. Frauen werden
zu Hause besucht, bei Konflikten mit den Männern werden gemeinsame Gespräche
zur Lösung der Probleme geführt. Es werden Seminare mit den Themen Gesundheit,
Ernährung und Erziehung, Gewalt, Ehre und Wille der Frau usw. gehalten.
Die Frau wird gestärkt, ermutigt, an politischen Veranstaltungen aktiv
teilzunehmen, da die Politik des Systems die Frau in all ihren Lebensbereichen
beeinflusst.
Was die Gesundheit der Frau angeht, so ist die Frau auf dem Land weitgehend
gesünder als die in der Stadt. Aufgrund der harten Arbeit oder Tätigkeiten
in der Kälte wie z. B. Holz holen hat sie mehr Muskelverspannungen oder
Rückenschmerzen. Jedoch hält sie die ständige Bewegung fit. Die Frauen
in den Städten sind mehr dem Stress ausgesetzt, kommen wenig aus dem
Haus, so ist oft der Gang zum Arzt oder der Einkauf die einzige soziale
Tätigkeit außer Haus. Sie sitzen viel, essen viel, werden fett und lahm
und fühlen sich oft einsam. Magen- und Darmleiden wie Sodbrennen, Verstopfung
und Blähungen sind sowohl auf dem Land als auch in der Stadt gleichwertig
zu betrachten. Hautkrankheiten sind in den Städten wesentlich häufiger
zu sehen. Hoher Blutdruck, hohe Cholesterinspiegel, Herz- und Gefäßleiden
sind in den Städten wesentlich häufiger zu beobachten. Die Geschlechtskrankheiten
sind beiderseits häufig zu beobachten, doch werden Tumore und Zysten
in der Stadt früher erkannt, weil es auf dem Land noch immer kein Ultraschall
gibt. Da die Frau immer beschäftigt ist, geht sie selten in die Stadt
zum Arzt. Frauen, die keine Kinder bekommen können, werden in der südkurdischen
Gesellschaft als völlig unnütz und unbrauchbar bewertet. Oft kommt es
auch vor, dass Frau operiert werden müsste, sie aber die Behandlung
verweigert, weil sie Komplikationen oder Fehlschläge befürchtet oder
niemanden kennt, der sich um ihre Kinder kümmert. Oft können sie auch
die Kosten für die Behandlung nicht aufbringen oder aber sie wollen
nicht glauben, dass die Operation wirklich notwendig ist. Manchmal ist
es auch der Mann, der die Kosten scheut und seine Frau hindert, sich
zu operieren zu lassen. Andererseits kommt es auch vor, dass sich Frauen
operieren lassen, ohne überhaupt über ihre Krankheit informiert worden
zu sein. Sie weiß also gar nicht, warum diese Operation notwendig sein
soll, was die Folgen des Nichtoperierens sind oder die Vor- und Nachteile
der Operation. Ich persönlich habe Frauen gesehen, die einfach den Glauben
an die Möglichkeit ihrer Heilung verloren haben. Besonders die Frauen
in den Städten überschütten sich regelrecht mit Medikamenten und werden
so den Medizinnetzen ausgeliefert, die zum eigenen Nutzen mehr Medikamente
und Material als notwendig verkaufen. Röntgen wird viel zu oft angewandt
und auch Operationen werden manchmal zum Nutzen des Arztes verordnet.
Der Bau von privaten Krankenhäusern vernichtete die Gleichheit in der
Behandlung, die noch vor 7–8 Jahren bestanden hat.
In der Stadt ist die Frau umgeben von der Technik, die ihr das Leben
erleichtern soll. Waschmaschine, Geschirrspüler, Staubsauger, Video,
Computer, PKW usw. Doch oft fühlt sie sich allein, denn der menschliche
Zusammenhalt, das gemeinsame Arbeiten, sich austauschen, einander helfen
und besuchen, ist in den Dörfern wesentlich stärker ausgeprägt. Der
Mensch in der Stadt ist immer wieder dazu verurteilt, für ein größeres
schöneres Haus oder Apartment, ein neueres Auto, die modernste Kleidung,
die ausgefallenste Frisur, TV, Telefon, CD, DVD und irgendwelche Technik
neuesten Modells, die tollsten Spielzeuge für ihre Kinder und dabei
immer im Wettlauf mit den Nachbarn, Verwandten und Bekannten zu arbeiten,
arbeiten und arbeiten. Die Frau in der Stadt arbeitet als Kindergärtnerin,
Verkäuferin, Sekretärin, Ärztin, Beamtin, Haushälterin, Anwältin, Beamtin,
Putzhilfe. Viele sind arbeitslos oder Hausfrau. Übrigens wird die Arbeit
der Frau im eigenen Haus, die Erziehung der Kinder, nicht als Arbeit
gewertet und verdient deshalb auch selbst unter Frauen keine Anerkennung.
Kurdistan ist ein Gebiet, das immer wieder von Angriffen seitens des
türkischen, iranischen oder syrischen Regimes bedroht ist. Eine Teilnahme
an einer Demonstration kann mit einer Verhaftung, Folter, Verletzung
oder mit dem Tod enden.
Auch muss man das Leben der Frau in den Flüchtlingslagern genauer betrachten:
z. B. im Hochsommer bei ca. 50 Grad Hitze oder im tiefsten Winter mit
Schnee in einem kleinen Zelt oder unter einer Plastikplane zu leben.
Manchmal fehlt es an Wasser, es gibt keine Müllabfuhr, die Zelte sind
dichtgedrängt auf engstem Raum aufgestellt, was einen guten Nährboden
für die Ausbreitung von Krankheiten darstellt. Oft sind diese Lager
aufgrund politischen Drucks immer wieder Embargos ausgesetzt, so dass
es entweder an Lebensmitteln, Medikamenten, Strom im Winter, Brennmaterial
oder Öfen fehlt. Die Hilfe, die vielleicht ankommt, ist oft sehr unzureichend
– zum Sterben zu viel, aber für ein normales Leben zu wenig. Oft sieht
man ausgemergelte Frauen und unterernährte Kinder. Der psychische Zustand
ist geprägt von einem Leben getrennt von der Heimat, in einer Atmosphäre
großen Drucks von außen, mit dem Versuch, die Rechte der Flüchtlinge
noch weiter einzuschränken, der unbestimmten Situation und dem Nichtwissen,
wie es morgen weitergehen soll. Viele Frauen stehen allein als alleinerziehende
Frauen vor den Problemen, da der Mann bei militärischen Angriffen umgekommen
ist. Frauen, die verletzt wurden, müssen trotz ihrer Einschränkung die
täglichen Arbeiten im Hause verrichten. Es gibt keine Kranken- oder
Altenversicherung oder -versorgung und auch keine Sozialleistungen seitens
der südkurdischen Regierung für Arme.
In Kurdistan kann es den Menschen nur gutgehen, wenn sie sich organisieren
und gemeinsam für ihre Rechte kämpfen. Nicht nur das Recht auf Lebensmittel,
Medikamente, ärztliche Behandlung und Hilfe, sondern eher für das Recht
auf ein Leben in der Heimat in Freiheit, Gleichheit, Ehre, Identität
und Demokratie, mit dem Recht, in der Schule Unterricht in der Muttersprache
zu erhalten, frei den Glauben und die eigene Kultur ausüben zu können,
die eigene politische Vertretung wählen und bestimmen zu können, mit
dem Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Das alles ist den
Kurden verwehrt und darum gibt es einen langatmigen Kampf um eine bessere
Zukunft. Und genau die Hoffnung und der tiefe Glaube an eine bessere
Zukunft halten die Menschen hier auf den Beinen.
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Euch einen keinen Einblick in die
Welt und das Leben der kurdischen Frau aus Südkurdistan zu geben.
Mit vielen Grüßen aus Kurdistan
Medya