editorial
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
„Für
ein freies Kurdistan in einem demokratischen Mittleren Osten“ war das
vergangene Jahr allem Anschein nach kein gutes. Wieder einmal gibt es
kaum Aussicht auf ein Weiterkommen in der kurdischen Frage, zumindest
in der Türkei überhaupt nicht. Chemiewaffen in den Bergen (S. 47 u. 50),
„Kurdenjagd“ im zivilen Sektor (S. 4), grüne Ergenekon (S. 29): alles
Themen in unserer aktuellen Ausgabe.
Wenigstens gibt es Anlass zur Hoffnung beim türkischen Projekt der politischen
und militärischen Einkreisung der Freiheitsbewegung PKK: Die anti-kurdische
Koalition der Region liegt im Moment auf Eis.
Die syrisch-türkischen Beziehungen leiden unter der interventionistischen
Frontstellung der Türkei gegenüber dem stark unter Beschuss stehenden
aufständischen Syrien. Und den Kurdinnen und Kurden dort bleibt noch die
Chance, zusammen mit Teilen der Opposition gegen das Assad-Regime etwas
für die eigene Selbstbestimmung zu gewinnen (S. 38). Mit Genugtuung registrieren
wir im südkurdischen Nordirak die Zurückhaltung der Lokalmatadoren PDK
und YNK, sich militärisch in die türkische Einkreisungspolitik einbinden
zu lassen. Manche setzen gar ihre Hoffnung in die lange prognostizierte
kurdische Nationalkonferenz (S. 35), um gemeinsame politische Strategien
entwerfen zu können. Und im iranischen Ostkurdistan können wir augenblicklich
Entspannung in der militärischen Konfrontation zwischen Armee und PKK/PJAK
konstatieren. Allerdings sind wir uns dessen bewusst, dass diese Lage
allein dem Umstand geschuldet ist, dass die Türkei Teil der imperialistischen
anti-iranischen Front ist, und dass der Iran ansonsten kein bisschen in
seiner unversöhnlichen Haltung gegenüber der kurdischen Bewegung nachlässt.
Und trotzdem: Uns erreichte soeben die positive Meldung, dass die Todesstrafe
von Zeyneb Celaliyan (S. 41) in lebenslange Haft umgewandelt worden ist.
In der Türkei dagegen ist auf staatlicher Seite inzwischen eine absolute
politische Blockade aller Initiativen und Möglichkeiten im Hinblick auf
eine demokratische Lösung der kurdischen Frage zu verzeichnen. Kontakte,
Gespräche, Verhandlungsrunden zwischen staatlichen Stellen und der kurdischen
Bewegung hatten im Laufe des Jahres nur die Funktion, die AktivistInnen
auf Trab zu halten. Bevor etwas konkret werden konnte und als die Türkei
ihren Platz im imperialistischen Boot offen eingenommen hatte (S. 11),
war alles vorbei. Übrig blieb nur die unkaschierte Absicht, jegliche zivilgesellschaftliche
Opposition, die sich nicht vereinnahmen lässt, abzuräumen und wegzusperren.
Oppositionell = terroristisch, ein altbekanntes Strickmuster. Und in
der internationalen „demokratischen“ Gemeinschaft kein Wort dazu, keine
Reaktion, nur offene oder verdeckte Unterstützung für den repressiven
Kurs.
Da muss im Moment die Frage offenbleiben, wie der „ Übergang von der bewaffneten
zur demokratischen Konfrontation“ (Beschluss der Abertzalen Linken im
Baskenland; S. 66) geschafft werden soll. Denn Bereitschaft und Ideen
allein bei einer Konfliktpartei reichen nicht. Und auch wenn dort die
Organisierung der Demokratischen Autonomie als Modell gesellschaftlicher
Selbstbestimmung (S. 44) vorangehen sollte, kann keine Zivilgesellschaft,
keine Bewegung den schon quantitativ immensen personellen Aderlass verkraften.
In einer solchen Situation braucht es doch manchmal einen Lichtblick in
schwerer Zeit, der uns dieses Mal in Form eines Briefes aus den Bergen
zukam (S. 43). Das darin gebrauchte und für viele von uns ungewöhnliche
Pathos, das wir mit der Distanz unserer kalten analytischen Sichtweise
oft wohl schwer nachempfinden können, kann aber keinesfalls die Zuversicht
und das Vertrauen auf die eigene Kraft überdecken, die dort im Kampfgebiet
herrschen. Grundvoraussetzungen für optimistische Zukunftsprojekte.
Damit
wollen wir uns allen ein wirklich gutes Jahr wünschen.
Ihre
Redaktion
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