Yusuf 
          Yeşilöz: Hochzeitsflug 
        Buchbesprechung 
          von Susanne Roden
Hochzeitsflug: 
  Thriller aus dem Finnischen von Ilkka Remes. Die Originalausgabe erschien 2001 
  unter dem Titel Uhrilento. Na toll, wieder eine Doppelvergabe bei einem Titel, 
  schießt es mir durch den Kopf. Immerhin, auch beim Finnischen gehen die Jahre 
  ins Land, bis 2009 das Buch in deutscher Sprache vorlag. Bei diesem Hochzeitsflug 
  verschwindet auf mysteriöse Weise ein Flugzeug mitsamt der zukünftigen Braut. 
  Das Wrack wird schließlich gefunden, die Passagiere nicht. 
  Auch als Hochzeitsflug bezeichnet, wird der Vorgang bei den staatenbildenden 
  Insekten, wenn die geschlechtsreifen Weibchen und Männchen die Elternkolonie 
  verlassen, um eine neue Kolonie zu gründen, und bei Honigbienen findet die Bezeichnung 
  Hochzeitsflug beim Auszug der alten Königin ebenfalls ihre Anwendung. 
  Im vorliegenden Buch von Yusuf Yeşilöz findet nun ein Hochzeitsflug der anderen 
  Art statt, der eigentlich irgendwie zwischen den oben beschriebenen Möglichkeiten 
  liegt, denn die Geschichte ist nicht nur spannend wie ein Krimi erzählt, sondern 
  die Hauptfiguren bewegen sich in ihren Handlungen auch in vielen Punkten in 
  Anbetracht von demokratischen Grundwerten der Gesellschaft am Rande des Legalen 
  und das eben nur wenige Flugstunden entfernt anlässlich einer Hochzeit. 
  Die Eltern von Beyto leben in der Schweiz und betreiben das «Beyto Kebab House» 
  in der Bischoffstraße, fern der eigentlichen Heimat, einem tscherkessischen 
  Dorf in der Türkei. 
  Wie Ayhan Kaya in seiner Untersuchung „Die tscherkessische Diaspora in Anatolien 
  – Ethnokulturelle und politische Eigenschaften“ feststellt, ist die tscherkessische 
  Diaspora ein Beispiel für eine unter Zwang aus der Heimat vertriebene, vorkapitalistische, 
  traditionelle Diaspora. Man schätzt, dass die russische Expansion über eine 
  Million Tscherkessen seinerzeit aus ihrer Heimat ins Osmanische Reich vertrieben 
  hat. Der Prozess der Globalisierung hat aber auch diese Gesellschaften in ihren 
  Einflussbereich gezogen und verändert somit auch ein Leben in zwei Welten, mit 
  einem „Hier“ in der Diaspora und einem „Dort“ in der Heimat.
  So beschreibt Yusuf Yeşilöz in seinem vorliegenden Roman dann auch mit eindringlichen 
  Worten, wie sich die Eltern von Beyto, Vater Safir und Mutter Narin, das Leben 
  in der nicht freiwillig gewählten Diaspora derart gestalten, dass sie das Aufnahmeland 
  nur durch tägliches Lebendighalten des Dorflebens durchstehen können. Somit 
  werden ihre Tradition, ihre Gewohnheitsrechte, die eigene Familiengeschichte 
  und Kultur immer wieder bestärkt bestätigt und in Kontrast zu den Gewohnheiten 
  und Traditionen im Aufnahmeland durch ihr tägliches Erleben gesehen und bewertet. 
  Während sie sich nur als Gäste in dem Land sehen, haben sie außer Acht gelassen, 
  dass ihr Sohn durch die Migration im Alter von acht Jahren nicht nur keine intensive 
  Prägung der ihnen eigenen Traditionen mehr genossen hat, sondern die Kultur 
  des Aufnahmelandes ihn prägte. Denn es gehört eben auch dazu, dass eine Schulpflicht 
  besteht und man, ob man nun will oder nicht, den Kindern die Teilnahme am Bildungssystem 
  und den demokratischen Strukturen des jeweiligen Landes gewähren muss. Und das 
  führt dann am Ende zu der für sie und eben für den Sohn unschönen Situation, 
  dass man gar keine gemeinsam gefühlte Kultur mehr leben konnte. Während die 
  Eltern in der Dorfstruktur aufgewachsen sind, ohne intensive Schulbildung, aber 
  dafür mit intensiven Familienstrukturen, ist der Sohn zur Schule gegangen, musste 
  von jetzt auf gleich eine fremde Sprache lernen, hat lesen und schreiben gelernt 
  und somit auch das Übersetzen für die Eltern übernommen und eine Informatikausbildung 
  begonnen. Seine Prägung durch andere Familienmitglieder findet nur noch durch 
  Nacherzählungen und verblassende Kindheits- und Urlaubserinnerungen statt. 
  Nachdem die Eltern mehrfach auch ohne den Sohn jedes Jahr in die Heimat geflogen 
  sind, um alle Verwandten zu sehen und Kontakte zu pflegen, haben sie sich von 
  ihm das Versprechen eingeholt, nun endlich in diesem Jahr wieder mitzukommen. 
  Beyto, der sich verpflichtet fühlt, nun endlich sein lange gegebenes Versprechen 
  dem Vater gegenüber einzuhalten und sich endlich von dieser Last zu befreien, 
  ist ahnungslos und wird von der heimlich für ihn vorbereiteten Hochzeit im Dorf 
  überrollt. Ein Entrinnen ist unmöglich, die Falle schnappt zu und er wird zum 
  Gefangenen der Situation. Vermutlich hat er einen Teil der Vorbereitungen am 
  Rande unbewusst wahrgenommen, aber er ist ja bereits in einer völlig anderen 
  Wahrnehmung in seinem täglichen Leben angekommen. Dennoch, gerade die strengen 
  Familientraditionen hatten ihn bis zum Hochzeitsflug daran gehindert, endlich 
  zu seinen wahren Gefühlen zu stehen und den Eltern zu offenbaren, dass er einen 
  Mann liebt. Aber es erweist sich als unmöglich, in irgendeiner Form mit den 
  Eltern auch nur annähernd neutral oder tolerant über das Thema reden zu können. 
  Es gibt nur verachtende Worte für Schwule, jede Diskussion wird im Keim erstickt 
  und das Thema als Ausgeburt der Ungläubigkeit im Gastland dargestellt. 
  Der Autor beschreibt zunächst die ausweglose Lage des jungen Beyto sehr liebevoll, 
  auch gepaart mit viel Humor und verdichtet die innere Auseinandersetzung von 
  Beyto mit den Traditionen der Familie und Erwartungen in der ursprünglich eigenen 
  Kultur. Im weiteren Verlauf der Erzählung werden dann aber auch die Blickwinkel 
  und Erlebnisse der anderen Personen, die ganz eng an sein Leben im Gastland 
  geknüpft sind und die schon von Anbeginn auch eine zentrale Rolle in seinem 
  Leben gespielt hatten, nachskizziert. Und es gelingt somit ebenfalls ein kurzer 
  facettenreicher Blick auf die westliche Gesellschaft, die in den Anfängen vor 
  Jahrzehnten in ihrem Umgang mit Schwulen, deren Diskriminierung und Ausgrenzung 
  im täglichen Leben, alles andere als locker und tolerant zu bezeichnen wäre. 
  
  Und nachdem Yusuf Yeşilöz zuvor mit bildreichen und lebendigen Eindrücken das 
  Dorfleben und die Hochzeitszeremonie beschrieben hat, entsteht dann nach der 
  Rückkehr des Jungen in sein Gastheimatland plötzlich ein Gegenbild der eigentlich 
  aufgeklärten, toleranten und säkularisierten Welt, mit dem es nun gar nicht 
  leicht eine Lösung für ihn geben kann. 
  Weil sich auch darüber der junge Beyto im Klaren ist, wägt er seine Möglichkeiten 
  genau ab. Er überdenkt seine Position, seine verzwickte Lage, aber auch die 
  Lage der anderen Familienmitglieder, seiner jungen Frau, die er als Cousine 
  von Kindesbeinen an kennt. Er bedenkt bei seinen Schritten die Konsequenzen 
  für ihn selbst sowohl im direkten Umfeld der Familie des Aufnahmelandes als 
  auch im Heimatdorf der Eltern und beginnt sein eigenes Leben zu überdenken.
  Was auch immer er für eine Entscheidung treffen wird, die durch seine Eltern 
  über seinen Kopf und seine Gefühle hinweg getroffene Entscheidung hat sein Leben 
  aus den Angeln gehoben.
  Ein mit bildreicher Sprache formulierter Roman, der mit intimem Wissen an Geschichten, 
  Legenden und Geheimnissen einer anderen Kultur angefüllt ist, stellt einen besonders 
  interessanten und wertvollen Ansatz zur Auseinandersetzung mit einem in vielen 
  Gesellschaften geächteten Thema dar. In nicht wenigen Ländern reicht der Verdacht 
  auf die gleichgeschlechtliche Liebe, um Menschen in Gefängnisse zu stecken oder 
  sie mit dem Tode zu bestrafen. Auch ein europäischer Ausweis bietet nicht immer 
  eine Garantie, dass man ungehindert reisen kann, und dies betrifft sowohl Frauen 
  wie auch Männer. Mit diesem Wissen im Hintergrund wünsche ich dem Roman Hochzeitsflug 
  von Yusuf Yeşilöz möglichst viele aufgeschlossene und interessierte Leserinnen 
  und Leser.