Prof. Tove Skutnabb-Kangas: Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Assimilationspolitik?!

Luqman Guldivê

Oft habe ich mich gewundert, wie ein Mensch gänzlich assimiliert wird, wie die durch tausendjährige menschliche Erfahrung und Lehre entstandenen Kulturen und Sprachen durch die „Killer“-Kulturen und -Sprachen vernichtet werden. Dass die politische Assimilation erfolgreich ist, zeigte uns Kurden die Erfahrung des letzen Jahrhunderts. Nun sind die Kurden, Opfer der Assimilationspolitik mehrerer Staaten, auch damit konfrontiert, ihre Sprache zu verlieren. Ist sie wirklich etwas, von der man sagen kann „schade, sie war Teil des menschlichen kulturellen Erbes, und nun ist sie untergegangen“? Ist es so einfach, und sollte man nichts dagegen und nichts gegen diejenigen unternehmen, die dafür verantwortlich sind? Prof. Skutnabb-Kangas zufolge sollten Verantwortliche für dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gebracht werden.

Am 16. Oktober 2011 fand auf der Frankfurter Buchmesse eine vom Mezopotamien Verlag organisierte Veranstaltung „Kurdisch im Fokus der Muttersprachen“ statt. Eingeladen war unter anderen Prof. Tove Skutnabb-Kangas. Die finnische Sprachwissenschaftlerin sprach von Linguizid als Genozid an einer Sprache und behandelte das Thema im kurdischen Kontext im Rahmen linguistischer und kultureller Genozide und damit auch im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Bevor sie zu dieser Schlussfolgerung gelangt, stellt sie nach kurzen historischen Hintergrundinformationen die Gefahren einer subtraktiven Bildung1 dar und schildert die Vorteile einer additiven Bildung2. Weil die subtraktive Bildung linguistische, pädagogische und psychologische Barrieren schafft, verhindere sie den Zugang zu Bildung. Daher verletze sie das Recht auf Bildung. Außerdem könne der Gebrauch der dominanten Sprache im Falle der kurdischen Kinder physischen und psychischen Schaden verursachen. Dagegen sei additive Bildung mindestens in den ersten sechs, vorzugsweise aber acht Jahren der Bildung – mit der Muttersprache der Kinder als erster Bildungssprache und Türkisch als Zweitsprache – die beste Lösung. Darüber hinaus erwähnte sie, dass Untersuchungen bewiesen, dass additive Bildung auch die Schulleistungen der Kinder verbessere.

Wie gelangt sie denn nun aber zu dem Ergebnis, die vom türkischen Staat in Nordkurdistan angewandte subtraktive Bildung sei ein linguistischer Genozid? Für sie stellt die Bildung in der dominanten Sprache Türkisch das Hauptbildungsproblem für die kurdischen Kinder dar; sie verursache Analphabetismus bzw. ein niedriges Lese- und Schreibfähigkeitsniveau und eine Verschlechterung der Schulleistungen, und sie führe zum Raub der Identität und letztendlich zur Enteignung des linguistischen und kulturellen Kapitals der kurdischen Kinder. Das heißt, sie gelangt ohne jegliche Schwierigkeit zu der Schlussfolgerung, dass das Recht der Kurden auf Bildung verletzt wird.
Prof. Skutnabb-Kangas wird es nicht glauben können, aber der türkische Ministerpräsident Erdoğan forderte am 01.11.2011 in Berlin, dass die türkischen Migranten in Deutschland ihren eigenen Kindern erst Türkisch beibringen sollten, und um eine zweite Sprache zu lernen, müsse man die eigene Sprache beherrschen; dies sei „eine sprachwissenschaftliche Erkenntnis“. Dass er das aus nationalistischen Gründen sagte und keineswegs aufrichtig war, brauche ich hier wahrscheinlich nicht noch einmal darzulegen; es geht nur darum, dass er dadurch eigentlich die Feststellungen und Vorschläge von Prof. Skutnabb-Kangas im Grunde genommen für die türkischen Kinder außerhalb der Türkei einfordert, für die kurdischen Kinder in der Türkei aber vehement zurückweist.
Er scheint die Problematik einigermaßen zu kennen und wäre somit vielleicht eigentlich gar nicht überrascht, dass er ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, indem er weiterhin kurdischen Kindern Bildung in ihrer Muttersprache untersagt.

Zurück zur Argumentation von Prof. Skutnabb-Kangas. Nach der Feststellung der Verletzung des Rechts auf Bildung führt sie weiter aus, dass dies in pädagogischer, linguistischer, kultureller, soziologischer und psychologischer Hinsicht einen Genozid darstelle, wie er in der 1948er UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes definiert ist:
„[w]er in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, vorsätzlich
1. Mitglieder der Gruppe tötet,
2. Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden […] zufügt,
3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
4. Maßregeln verhängt, die Geburtenraten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,
5. Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt, …“3

Niemand würde bestreiten, dass die Türkei eigentlich nach allen fünf Punkten Völkermord an den Kurden begangen hat, und genau deswegen spricht Prof. Skutnabb-Kangas von einem Genozid. Allein die subtraktive Bildung entspricht auch rechtlich den Kriterien eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit und sollte daher gerichtlich verurteilt werden.

Nach der Veranstaltung auf der Buchmesse erinnerte Prof. Skutnabb-Kangas daran, dass die Behauptungen türkischer Staatsrepräsentanten, Kurdisch werde nicht mehr unterdrückt, ganz einfach Lügen seien, weil die Verwendung der Sprache in offiziellen Dokumenten, aber auch in den Gesetzen noch nicht akzeptiert ist und das Kurdische als Unterrichtsprache nicht benutzt werden darf. Sie wies darauf hin, dass die Verwendung einer Sprache in der Familie praktisch niemals habe verboten werden können und für das Überleben der Sprache einige Anwendungsverbote für Medien nicht ausreichten, insbesondere weil die Türkei zum Beispiel versucht, ROJ TV verbieten zu lassen, und alles auf Kurdisch Ausgestrahlte ins Türkische übersetzen lassen will; in diesem Zusammenhang erwähnte sie auch den Begriff der freien Benutzung der Medien und unterstrich, dass es diese in der Türkei nicht gebe. Ein freier Gebrauch der Sprache wäre gegeben, wenn das Kurdische im Parlament und in den Lehrerbildungsanstalten und Gerichten benutzt und in den Schulen als erste Unterrichtssprache möglich werden würde; daher sei zu schlussfolgern, dass das Kurdische weiterhin stark unterdrückt werde.

Vor etwa einem Jahr, als ich für eine Kampagne „Muttersprache ist ein Menschenrecht“ ein kleines Dossier vorbereitete, fiel mir auf, dass Amir Hassanpour4 mit einer ziemlich kritischen Haltung gegenüber den Sprachwissenschaftlern sagt, dass er das Schweigen über die Linguicide (Genozide an der Sprache) am Kurdischen oder einer anderen Sprache als eine politische Stellungnahme betrachte, die nicht mit der Neutralität oder Autonomität des Sprachwissenschaftlers gerechtfertigt werden könne. Damit deutet er auf ein sehr wichtiges Problem der Weltgemeinschaft hin. Ich schlussfolgerte damals, „dass nicht nur die Sprachwissenschaft über den Linguizid an einer Sprache nicht schweigen darf, sondern vor allem die Politiker in westlichen Ländern. Im Falle des Kurdischen dürfen besonders die Politikmacher und Entscheidungsträger in Europa nicht stillschweigen und das nicht nur zuletzt, weil sie auf die Türkei Druck ausüben können, sondern weil es ebenfalls ein Menschenrecht für alle Menschen und Millionen Kurden ist. Darüber hinaus können im kurdischen Kontext die friedenspolitischen Aspekte auch nicht außer Acht gelassen werden, weil die Beendigung der staatlichen Unterdrückung der kurdischen Sprache und die Förderung derselben zweifelsohne zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei erheblich beitragen wird.“
Mit den Worten von Prof. Skutnabb-Kangas möchte ich meine Beobachtungen zu dieser Veranstaltung beenden: Wenn die Türkei ihre eigene territoriale Desintegration wünscht, dann sollte sie die Unterdrückung der Kurden fortsetzen, denn eine solche Politik wird letztendlich dazu führen.

Fußnoten:
1) Bildung durch das Mittel einer dominanten Sprache
2) Bildung hauptsächlich durch das Mittel der Muttersprache einer Minderheit
3) Siehe Bundesgesetzblatt Teil II, Nr. 15, 12. August 1954
4) ostkurdischer Wissenschaftler; Promotion: „The language factor in national development: The standardization of the Kurdish language, 1918-1985