Strafanzeige
gegen Ministerpräsident Erdoğan und die Generalstabschefs der Türkei
Erneuter
Einsatz von Chemiewaffen durch die türkische Armee
Martin
Dolzer
„Ich möchte, dass die Bundesanwaltschaft
unvoreingenommen, professionell und engagiert Ermittlungen zu dieser Anzeige
führt“, sagte Heinz Jürgen Schneider, Rechtsanwalt aus Hamburg auf einer Pressekonferenz
am 01. November 2011 im Haus der Demokratie in Berlin.
Gemeinsam mit Rechtsanwältin Britta Eder hatte Schneider bei der zuständigen
Bundesanwaltschaft (BAW) in Karlsruhe am Montag den 31.10. eine Strafanzeige
gegen Ministerpräsident Erdoğan, der sich zu dieser Zeit auf Staatsbesuch in
Berlin aufhielt, sowie mehrere Verteidigungsminister und Generalstabschefs
der türkischen Armee wegen schwerer Straftaten im Krieg gegen die kurdische
Bevölkerung eingereicht. Angezeigt wurden vom Kriegsvölkerrecht geächtete Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Zeit zwischen 2003 und heute.
Die Strafanzeige beruht auf dem seit 2002 bestehenden deutschen Völkerstrafgesetzbuch.
Es ermöglicht eine internationale Strafverfolgung von geächteten Kriegsverbrechen,
für die militärische Befehlshaber und politische Vorgesetzte verantwortlich
sind. Inhalt sind zehn exemplarische Fälle aus den letzten Jahren, die auf Grundlage
umfangreicher Recherche, der Auswertung türkischer Justizmaterialien und Berichten
renommierter Menschenrechtsorganisationen zusammengestellt wurden.
Es handelt sich unter anderem um Fälle von extralegalen Hinrichtungen, Tötung
von KämpferInnen nach Gefangenennahme, Folter, postmortalen Verstümmelungen
bis hin zum Einsatz verbotener chemischer Waffen. Dargestellt werden in der
Anzeige die jeweiligen Sachverhalte mit Namen, Daten und Beweismitteln. Des
Weiteren werden die gezielten und systematischen Angriffe des Militärs und der
„Sicherheitskräfte“ auf die Zivilbevölkerung thematisiert. Hierzu dient u. a.
eine fundierte Skizze der Menschenrechtsverletzungen des letzten Jahrzehnts.
In einem historischen Teil verdeutlichen die Anzeigenden, dass es sich beim
türkisch-kurdischen Konflikt um einen lang anhaltenden internationalen militärischen
Konflikt nach dem Völkerrecht handelt. Deutlich wird auch, dass die AKP-Regierung
mit illegalen Mitteln einen schmutzigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung
und die PKK führt, das Land zunehmend autokratisch regiert und kaum an einem
Friedensdialog interessiert ist. Jede menschenrechtliche Arbeit wird derzeit
ganz im Gegenteil unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft im Dachverband der Gemeinschaft
der Gesellschaften Kurdistan KCK kriminalisiert.
Die zehn angezeigten Fälle stehen dabei exemplarisch für eine Vielzahl weiterer
Fälle und sind folgende: Izzet Özdemir (Explosion einer Antipersonenmine), Uğur
Kaymaz (extralegale Hinrichtung eines 12-Jährigen und seines Vaters durch Polizisten),
Abbas Amani (Mord nach Festnahme eines Guerillas), Leyla Hannan (Soldaten posieren
vor der gefallenen Guerilla), Ceylan Önkol (Beschuss eines Zivilisten durch
Militär mit einem Granatwerfer mit Todesfolge), Ibrahim Atabay (Folter und extralegale
Hinrichtung eines 17-Jährigen nach einer Razzia durch Sondereinheiten des Militärs
in Wan/Ebex (Van/Çaldıran)), 8 Guerillas in Çelê (Çukurca) (Chemiewaffeneinsatz
der türkischen Armee), Özgür Dağhan (postmortale Verstümmelung eines Guerillakämpfers),
Bombenanschlag in Şirnex (Şırnak) (ein Bombenanschlag auf die Wahlfeier der
Bevölkerung 2011), Hasan Mustafa Hasan und weitere 6 Personen (systematische
Angriffe der türkischen Armee auf Zivilisten im Nordirak).
Die Strafanzeige wurde im Namen von Angehörigen der Opfer der Kriegsverbrechen
erstattet. Die Menschenrechtsorganisation MAF‐DAD – Verein für Demokratie und
internationales Recht e. V. in Köln, die Autorin Doris Gercke (Bella Block),
der Völkerrechtsprofessor Norman Paech, der Bundestagsabgeordnete Harald Weinberg
(DIE LINKE), Dr. med. Gisela Penteker (IPPNW), die Stadträtin von Nürnberg Marion
Padua sowie der Soziologe Martin Dolzer gehören ebenfalls zu den Anzeigenden.
Die Stadträtin Marion Padua und der Bundestagsabgeordnete Harald Weinberg waren
bei dem Bombenanschlag in Şirnex (Şırnak) nach der Parlamentswahl 2011, einem
der angezeigten Fälle, selbst Geschädigte und ZeugInnen. „Mit dem Anschlag sollte
das positive Wahlergebnis der BDP weggebombt werden. Die Sicherheitskräfte haben
direkt nach dem Anschlag jegliche Spurensicherung verhindert. Das Fenster zum
Frieden wurde mit dem Anschlag und neuer Repression gegen die kurdische Bevölkerung
seitens der Regierung Erdoğan weitgehend geschlossen. Wir fordern die BAW auf,
in Bezug auf die zehn angezeigten Fälle zu ermitteln“, so Weinberg.
Die Logik, dass Menschenleben unterschiedlich viel wert sind und diejenigen,
die als Feinde oder Terroristen deklariert werden, vernichtet oder durch Racheaktionen
getötet werden dürfen – diese Logik, die die türkische Regierung erneut vertritt,
die durch die derzeitige Kriminalisierung von KurdInnen gemäß § 129b, Waffenlieferungen
an die Türkei, eine aggressive Kolonialpolitik sowie das Schweigen über gravierende
Menschenrechtsverletzungen seitens der Bundesregierung mitgetragen wird, ist
aus politischer, juristischer und menschenrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar.
Gerade in Bezug auf den Verdacht über einen erneuten Chemiewaffeneinsatz in
Colemêrg/Çelê (Hakkari/Çukurca) bei dem 37 PKK-RebellInnen starben, sowie die
Ankündigung einer tamilischen Lösung der kurdischen Frage ist diese Anzeige
sehr wichtig. Frieden kann nur durch einen Dialog aller Beteiligten und die
Aufarbeitung von geschehenem Unrecht erreicht werden.
Eine Antwort der Bundesanwaltschaft, ob sie Ermittlungen bezüglich der Anzeige
aufnimmt und sie zur Klage macht, steht bisher noch aus.
Bericht über einen erneuten Chemiewaffeneinsatz
Seit dem 24. Oktober 2011 war bekannt, dass 24 Leichname in der Leichenhalle
des staatlichen Krankenhauses in Meletî (Malatya) liegen. Es handelte sich dabei
um KämpferInnen der Guerilla der PKK. Bei einem Gefecht in der Region Colemêrg/Çelê
(Hakkari/Çukurca) starben insgesamt 37 Guerillas, der bisherigen Faktenlage
zufolge durch einen Napalm- und Chemiewaffeneinsatz. AugenzeugInnen, u. a. GuerillakämpferInnen
und DorfbewohnerInnen, berichteten davon. Eine PKK-Rebellin, die Augenzeugin
des Kriegsverbrechens war, da sie sich in der Nähe befand, sich aber letztlich
retten konnte, berichtete von fruchtig-milchigem Geruch und Vergiftungserscheinungen
bei ihrer Einheit. Das türkische Militär warnte die örtliche Bevölkerung nach
dem Angriff, drei Tage nicht aus einem Fluss in der Region zu trinken, da er
vergiftet sei.
Eine Delegation des Menschenrechtsvereins IHD, der Angehörigen von Gefallenen
Meya Der und ParlamentarierInnen der BDP recherchierte vor Ort, fand Geschosse
sowie weitere Körperteile von Gefallenen und sprach mit den Zeugen. Die in Meletî
(Malatya) befindlichen Leichname waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und
verbrannt. Ein Experte deutete nach Betrachtung der Fotos Spuren möglicher Einwirkung
von chemischen Substanzen. Schusswunden und weitere Verletzungen waren bei den
Leichen nicht vorzufinden. Wie in solchen Fällen seit Jahren üblich verweigert
die zuständige Staatsanwaltschaft bisher die Herausgabe der Obduktionsberichte.
Auch bei den Fällen, die Teil der o. g. Anzeige wurden, war das ähnlich. Die
Straflosigkeit und Nichtverfolgung von TäterInnen aus den Reihen der Sicherheitskräfte
und des Militärs stellt auch einer Studie von Human Rights Watch zufolge in
der Türkei ein großes Problem dar.
Direkt nachdem die Delegation ihre Ergebnisse veröffentlicht hatte, ließen die
Verantwortlichen Ismael Akbulut, den Vorsitzenden des IHD Hakkari, und fünf
weitere Personen aus Colemêrg (Hakkari) wegen vermeintlicher KCK-Mitgliedschaft
verhaften. Akbulut war an den Untersuchungen der Delegation beteiligt und hatte
die Ergebnisse auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Bei einer derartigen Kriminalisierung
handelt es sich eindeutig um einen Racheakt gegen einen verantwortungsbewusst
agierenden Menschenrechtler. Mehrere WissenschaftlerInnen sowie Bundestags-
und Landtagsabgeordnete protestierten dagegen.
Der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken bereiste mit einer internationalen Delegation
aus Abgeordneten und AnwältInnen Ende November die Region Çelê (Çukurca) und
Meletî (Malatya) [s. S. 47].Er fordert eine internationale Untersuchung des
Geschehens in Çelê (Çukurca) und weiterer Fälle, da es starke Verdachtsmomente
für die Nutzung unerlaubter chemischer Kampfstoffe durch die türkische Armee
gibt. Van Aken wurde vom zuständigen Staatsanwalt in Meletî (Malatya) unter
Gewalt aus dessen Räumlichkeiten gedrängt. Die Tatsache, dass der jetzige Generalstabschef
Necdet Özel bereits im Jahr 1999, einem Video aus Militärkreisen zufolge, einen
Chemiewaffeneinsatz befehligte, erhärtet ebenfalls den Verdacht auf den erneuten
Einsatz von geächteten Waffen. Auch der in der o. g. Strafanzeige angezeigte
Fall (Einsatz chemischer Waffen) fand in Çelê (Çukurca) statt.
Fazit
Die aggressive Politik der Regierung Erdoğan gegenüber der kurdischen Guerilla
und Bevölkerung muss ein Ende haben. Die Aufklärung der Kriegsverbrechen der
türkischen Armee, die Freilassung sämtlicher politischer Gefangener, ein sofortiger
beidseitiger Waffenstillstand und ein Friedensdialog zwischen sämtlichen beteiligten
Kräften sind der einzige Weg, weiteres unnötiges Blutvergießen zu verhindern.
Die anhaltende Festnahmewelle gegen
kurdische AktivistInnen (mehr als 4 500 legal Tätige wurden seit 2009 inhaftiert)
und die jüngste Predigt von Fethullah Gülen deuten allerdings in eine andere
Richtung. Gülen rief in einer 45-minütigen Predigt und Videobotschaft unter
Beschwörung der nationalen Einheit im Namen Allahs in Bezug auf die KurdInnen
auf: „Lokalisiert sie, umzingelt sie, (...) zerschlagt ihre Einheiten, lasst
Feuer auf ihre Häuser regnen, überzieht ihr Klagegeschrei mit noch mehr Wehgeschrei,
schneidet ihnen die Wurzeln ab und macht ihrer Sache ein Ende!“ In Bezug auf
die Guerilla sagte Gülen: „Ob 500, ob 5 000, lass es 50 000 [gemeint sind die
kurdischen Guerillas] sein, du hast eine Million [gemeint sind Soldaten], kessele
sie ein und vernichte sie.“
Im Bewusstsein dieser Vorgabe der
grauen Eminenz der AKP, deren Bewegung mehr als 70 % der Führungseliten der
Türkei stellt, lassen sich die aggressive Kurdenpolitik der AKP und die Forderung
nach einer tamilischen Lösung der kurdischen Frage seitens regierungsnaher Kräfte
sowie die zur Anzeige gebrachten Kriegsverbrechen besser analysieren.
Im Pahl-Rugenstein-Verlag wird in
Kürze ein Buch zur Anzeige erscheinen. Der Anzeigentext, Dokumente und Fotos
sind unter www.kriegsverbrechen-tuerkei.info abrufbar.