Die
autoritär werdende AKP und die KCK
Dr. Vahap Coşkun, Dozent an der Juristischen Fakultät der Dicle-Universität
Diyarbakır
Die KCK-Razzien
wurden zu Beginn vom Umfeld der DTP/BDP auf die Ergebnisse der Regionalwahlen
vom März 2009 zurückgeführt. Demnach hätten sie die nicht verdaute Wahlschlappe
der AKP im Osten und Südosten widergespiegelt. Die AKP hatte dort eigentlich
die kurdische politische Opposition verdrängen wollen.
AKP-nahe Kurden und kurdische politische Kreise außerhalb der DTP/BDP
maßen dieser Erklärung keine Bedeutung bei, solche Razzien einer Regierung,
die eine Reformpolitik eingeleitet hatte, wären kontraproduktiv. Nach
ihrer Meinung waren es Razzien der im Osten und Südosten erstarkenden
Gülen-Bewegung, somit eine politische Schwächung der ihrem Vorhaben
im Weg stehenden PKK – und die Regierung habe sich mittendrin gesehen.
Dass die Gülen-Bewegung sich große Mühe dabei gab, diese Razzien in
ihren Medien zu legitimieren, und die Regierung sich dessen nicht wirklich
annahm, beförderte Überlegungen in dieser Richtung.
Die wichtigste Razzia
Nur war dieser Gedankengang nicht wirklich überzeugend. Vor allem stand
er im Widerspruch zur Natur der Macht. Die AKP beschneidet die weitreichenden
Kompetenzen der Armee, der MIT (Millî Istihbarat Teşkilâtı – Nationaler
Geheimdienst) wird loyalen Händen übergeben, im Lauf der Zeit festigt
sie ihre Macht in Justiz, Medien und Akademien – undenkbar, dass die
AKP, die geradezu die Herrschaft zu übernehmen beginnt, an einem so
kritischen Punkt wie der Kurdenfrage nicht die Initiative ergriffe.
Regierung und Gülen-Bewegung könnten zusammen gegen ihren „gemeinsamen
Feind“ angegangen sein und sich so gegenseitig nützen, aber ohne Frage
würde sich die Regierung in der kurdischen Politik nicht ausklinken
und sie einer anderen Kraft übertragen.
Denn nach der aktuellsten KCK-Verhaftungswelle gab es vonseiten der
Regierung keine „gutwilligen AKP-Äußerungen“ wie „die KCK ist eine Sache
der Bewegung und nicht der Regierung“. Die AKP übernimmt von ganz oben
die Verantwortung für die KCK-Razzien und erklärt sie zur eigenen Politik.
Das machen sie auf zweierlei Weise:
Führungskräfte der AKP betonen nach jeder Festnahme- und Verhaftungswelle,
wie richtig und legitim sie sei. Yalçın Akdoğan, Berater des Premiers,
war voll des Lobes: „Die KCK-Razzien sind die wichtigsten der letzten
dreißig Jahre.“ Innenminister Şahin beschwor wieder den Eindruck von
der Macht der Nationalfronten der 1970er Jahre herauf mit dem Versuch
zu erklären, wie gefährlich Büşra Ersanlı [BDP-Vertreterin in der parlamentarischen
Verfassungskommission] sei, und erinnerte an ihre „kommunistische“ Vergangenheit.
„Es ist sehr wichtig, schuldig von unschuldig zu trennen. Ich denke,
diese Trennung hat stattgefunden“, behauptet Vize-Premier Bozdağ und
nimmt den Gerichten die Arbeit ab, indem er die Schuldigen von vornherein
feststellt. „Ich unterstütze die KCK-Razzien“, sagt der Premierminister,
beschuldigt Kritiker als Unterstützer des Terrors und fragt, an seiner
Zigarette ziehend: „Wisst Ihr, was diese Leute gemacht haben?“ „Auch
Freiheiten haben Grenzen“, so der Premier, er schüchtert damit diejenigen
mit einer kritischen Position ein und weist die Medien in die Schranken:
„Die Presse muss zusammenhalten.“
Mit solchen Worten werden Grundelemente des Rechts vollkommen zerstört.
Das Prinzip der „Unschuldsvermutung“
wird von den Mitgliedern der Regierung tagtäglich mit Füßen getreten.
Menschen, von denen wir noch nicht einmal wissen, wessen sie beschuldigt
sind, werden vom parlamentarischen Rednerpult aus, in Fernsehprogrammen
und Zeitungskommentaren als Schuldige ausgerufen.
Der Grundsatz der „persönlichen Schuld“ spielt keinerlei Rolle für die
Herrschenden. Falls ein nahes oder entferntes Familienmitglied früher
einmal oder aktuell an einem Vergehen beteiligt war oder dahin gehend
verdächtigt wurde, macht es sie zum Schuldigen. Manche Zeitungen machen
noch nicht einmal hier Schluss; falls ein früheres oder aktuelles Mitglied
ihrer Familie zu den „üblichen Verdächtigen“ der Gesellschaft gehört,
kann das als Beweis dafür genutzt werden, sie der Beteiligung an einem
Verbrechen zu bezichtigen. Indem Recht und Moral ausgehebelt werden,
wird das Leben derer, die die Grenzen der AKP überschreiten, erschwert.
Und zweitens: Die AKP weist die Richtung der KCK-Razzien. Wenn Sie die
Aussagen ihrer führenden Vertreter aufmerksam verfolgen, ist es keine
schwere Aufgabe zu vermuten, wer bei den KCK-Razzien die Nächsten sind.
Beispielsweise sagte der Premierminister: „Es gibt da das Rechtsbüro
des Jahrhunderts. Hier wechseln stets die Rechtsanwälte. Es gehen nicht
immer dieselben Anwälte nach Imralı. Aber jetzt hat es aufgehört, dass
aus Imralı Nachrichten kamen.“ Mit dieser Aussage, direkt auf die Anwälte
Öcalans gemünzt, war es klar, dass sie die nächste Welle treffen würde.
Und genauso war es; fast alle Rechtsanwälte, die auf Imralı mit Öcalan
gesprochen haben, wurden an einem Tag eingesammelt.
Totaler Krieg
Nun, da Öcalan nicht erst gestern festgenommen wurde und auch nicht
erst neu mit seinen Anwälten Gespräche aufgenommen hat, muss es einen
anderen Grund für diese Festnahmen geben. Ich vermute, dass es die aktuelle
Kurdenpolitik der Regierung ist.
Folgendes: Die Regierung wollte von Barzani und Talabani [PDK und YNK
in Südkurdistan] Unterstützung im Kampf gegen die PKK, erhielt jedoch
nur zur Antwort: „Wir unterstützen keine Formel, die Kämpfe beinhaltet,
aber wir tun alles in unserer Macht Stehende für eine politische und
friedliche Lösung.“ Es ist bekannt, dass beide Anführer nicht glücklich
sind über die Existenz der Kämpfer der PKK in Südkurdistan und dass
sie befürchten, die PKK-Aktionen würden ihre Beziehungen zur Türkei
zerstören. Aber sie sehen die Lösung nicht in einem Kampf zwischen den
Kurden, sondern in der Entwaffnung der PKK, und darauf verwenden sie
ihre Energie. Nach unwidersprochenen Meldungen der letzten Tage sollen
beide die PKK überredet haben, nach kurzer Zeit die Kämpfe einzustellen
– also einen Waffenstillstand auszurufen.
Die PKK habe aber als Voraussetzung genannt, Öcalan solle diesen Aufruf
an sie richten.
Ich denke, die Bedeutung dieser Bedingung der PKK lag darin, dass Öcalan
wieder auf der Bühne erscheinen und die Verantwortung mit ihm geteilt
werden sollte. Er hätte einen solchen Aufruf allein über seine Rechtsanwälte
tätigen können. Nur hat die Regierung mit der Festnahme aller Anwälte
ihre Ablehnung gezeigt.
Festzustellen bleibt, dass die Regierung, statt mit Öcalan zu sprechen,
ihr jüngstes Konzept des totalen Krieges weiterverfolgen will. Dies
lässt die AKP zweifellos sehr autoritär werden.
Als Ergebnis ihrer Politik der Demontage demokratischer Prinzipien verlangt
sie, dass alle ihr huldigen, sie kann keine Andersdenkenden akzeptieren,
ignoriert die juristischen Feinheiten. Die AKP beginnt das zu tun, was
jede andere Macht vor ihr getan hat und was sie früher kritisiert hat.
Quelle: Zeitung RADIKAL,
27.11.2011