Antagonismus von Staatsideologie und Demokratie

Sonderjustiz

Selahattin Erdem, 11.12.2011

Wenn ein Land Sondergerichte für außergewöhnliche Angelegenheiten unterhält, dann ist dieses Regime nicht normal, sondern selbst außergewöhnlich, dann ist dieses Regime nicht demokratisch, sondern antidemokratisch. Und eben das ist eine weitere Besonderheit des antidemokratischen und faschistischen Charakters des türkischen Staatssystems. Denn die Republik wurde seit ihrer Gründung bis heute immer auch durch eine Sonderjustiz geleitet. In der Vergangenheit hieß sie „Unabhängigkeitsgerichte“, „Ausnahmezustandsgerichte“ oder „Staatssicherheitsgerichte“ (DGM), unter der Regierung der AKP bekam die Sonderjustiz den Namen „Sondergerichte“.
Doch was treibt die Türkei zu dieser Sonderjustiz, warum wird der Staat antidemokratisch und faschistisch? Ohne Zweifel ist die offizielle Staatsideologie die Ursache. Und das Ziel dieser „offiziellen Ideologie“ ist es, ein Staatsvolk zu schaffen. Es sollen also alle, die innerhalb der Grenzen der türkischen Republik leben, von staatlicher Hand assimiliert werden, sodass eine „türkische Nation“ entsteht. Und selbstverständlich wird jede Person, die innerhalb der genannten Grenzen lebt und nicht türkischer Herkunft ist, zur Zielscheibe und soll zur Erreichung des Ziels assimiliert werden. Aber das „Mosaik der Kulturen“ in Anatolien und Mesopotamien ist vielfältig. Und deswegen gerät eine Vielzahl von Menschen und Gruppen ins Fadenkreuz der Assimilationspolitik. Aber unter dieser Vielzahl ist es lediglich das kurdische Volk, welches die Kraft zum Widerstand gegen die Assimilation aufweist. Daher sind bei der gegenwärtigen Umsetzung der offiziellen Ideologie die Kurden im Visier. Und an diesem Punkt setzt eben auch die Sonderjustiz der türkischen Republik an und spielt ihre Rolle.

Selbstverständlich hat die offizielle Ideologie neben der Schaffung eines Staatsvolkes auch andere Ziele. So sollen das religiöse Verständnis, ihre Orden und ihre Ideologie ausgelöscht werden. Auch waren Kommunisten stets ein Angriffsziel der Staatsideologie, da das System selbst auf Klassenausbeutung und -unterdrückung basiert. Auch für diese Zwecke hat das System Sondergerichte berufen und ein entsprechendes Justizsystem zu gestalten versucht. Allerdings war das vordergründige Ziel, wie es auch der jetzige Premierminister Tayyip Erdoğan immer und immer wieder betont, die Schaffung „einer Sprache, einer Nation“. Deshalb hat die antikurdische Politik der türkischen Republik auch einen so zentralen Charakter und drückt jeglicher Politik ihren Stempel auf. Und das ist letztlich auch die Hauptursache für den antidemokratischen und faschistischen Charakter des Staates.

Nun gibt es Versuche, das vollkommen entlarvte Justizsys­tem und seine Sonderjustiz zu reformieren. Die antidemokratische und faschistische Struktur der türkischen Republik soll überwunden werden, um sie in eine demokratische Form zu bringen. Dafür ist zunächst eine neue und demokratische Verfassung vorgesehen sowie eine breit angelegte demokratische Reform des Justizwesens nötig. Und um dies bewerkstelligen zu können, bedarf es einer demokratischen Politik und einer demokratischen Mentalität. Während manche eben das versuchen, und zwar sowohl Mentalität und Politik der Gesellschaft als auch des Staates durch eine demokratische Revolution nachhaltig zu verändern, klammern sich andere reaktionäre Kräfte mit aller Kraft an den Status quo und an die offizielle Staatsideologie. Die konsequenten demokratischen Kräfte bilden erstere Gruppe, während faschistische wie die MHP zur letzteren gehören.

Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe, irgendwo zwischen den beiden anderen. Eigentlich will sie auch die offizielle Ideologie beibehalten, doch sie sieht, dass es nicht wirklich möglich ist und dass die Verfolgung ihrer Interessen gewisse Korrekturen verlangt. Deshalb führt sie sich in ihrer Theorie als radikale Reformer auf; in ihrer Praxis realisiert sie allerdings über lange Zeiträume nur kleinkarierte Reformen, die höchs­tens kosmetischer Natur sind. Sie will angeblich Veränderungen, zumindest wahrt sie diesen Schein in der Öffentlichkeit, aber in ihrer Praxis schützt sie das Althergebrachte. Ich denke, es erübrigt sich zu sagen, dass es sich bei dieser Gruppe um die AKP handelt.

Die gegenwärtige Haltung der AKP spiegelt genau das oben Beschriebene wider. Auf der einen Seite wird von der Lösung der kurdischen Frage gesprochen, auf der anderen Seite wird das System „eine Sprache, eine Nation, ein Staat“ reproduziert. Auf der einen Seite wird von einer demokratischen Verfassung gesprochen, auf der anderen Seite werden „Anti-Terror-Gesetze“ und die Sondergerichte gestärkt. Auf der einen Seite wird von einer „demokratischen Öffnung“ und politischen Verhandlungen gesprochen, auf der anderen Seite wird in Form der KCK-Verfahren die demokratische Politik hinter Gitter gesteckt. Diese Widersprüche sind mittlerweile so gravierend, dass sich die Bevölkerung nur noch wundert. Wie will die AKP-Regierung mit diesen Maßnahmen die „demokratische Öffnung“, politische Verhandlungen, die Lösung der kurdischen Frage und eine neue demokratische Verfassung eigentlich vorantreiben?

Die Sonderjustiz arbeitet im Hinblick auf die Kurden auf alle Fälle auf Hochtouren. Gegen die kurdische demokratische Politik findet ein politischer Genozid statt, der immer mehr ausgeweitet wird. Jeden Tag werden dutzende Menschen verhaftet, mehr als die Hälfte von ihnen anschließend inhaftiert. Dieser Prozess hat am 14. April 2009 seinen Anfang genommen und hält nun seit fast drei Jahren an. Das Verbot der Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) und die ersten Festnahmen gewählter BürgermeisterInnen sind mittlerweile fast zwei Jahre her. Nun ist ein mögliches Verbot der BDP im Gespräch. Die KCK-Verfahren haben selbstverständlich keinen Fußbreit zu einer Lösung beigetragen. Den Tausenden von Inhaftierten ist es noch nicht einmal gestattet, sich in ihrer Muttersprache zu verteidigen. Dem Vorsitzenden des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan wird seit nunmehr viereinhalb Monaten die Konsultation mit seinen Anwälten untersagt. Der Polizeiterror gegen die Bevölkerung nimmt tagtäglich zu. Zudem wird die kurdische Jugend auf den Bergen mit chemischen Waffen ermordet.

Und während all dies geschieht, wird auf einmal das Dersîm-Massaker diskutiert und Krokodilstränen werden vergossen. Da fragt man sich doch: Welcher Unterschied besteht zwischen dem, was 1937–38 in Dersîm getan wurde, und dem, was heute mit den Kurden gemacht wird? Diese Frage ist immanent und wird sich jedem, der die aktuellen Geschehnisse verfolgt, unweigerlich stellen. Man muss sich der Geschichte zwangsläufig stellen, aber man muss auch das gut verstehen, was heute geschieht. Die AKPler antworten auf die Frage: „Früher wurde getötet; wir lassen sie leben und stecken sie in die Gefängnisse.“ Das ist der einzige Unterschied zwischen dem CHP-Regime von 1937/38 und dem AKP-Regime von heute, zwischen den außerordentlichen Gerichten des Jahres 1937 in Eleziz (Elazığ) und den Sondergerichten von heute in Amed (Diyarbakır). Wenn dies überhaupt als Unterschied bezeichnet werden kann! Zumal das Verrottenlassen in den Gefängnissen auch nichts anderes als töten ist, und zwar die schlimmste Form des Tötens. Die Menschen ohne jegliche Befragung in die Gefängnisse zu stopfen, ihnen noch nicht einmal zu erlauben, sich in ihrer Muttersprache zu verteidigen, das ist, mal abgesehen vom Individuum und dem kurdischen Volk, eine Beleidigung der Menschheit. Mit ihrer Sonderjustiz hat die AKP-Regierung heute ein System der Beleidigung und Erniedrigung errichtet. Mit der Sonderjustiz und ihren Sondergerichten kann die Türkei sich nicht demokratisieren, keine Lösung für die kurdische Frage finden, keine neue demokratische Verfassung auf die Beine stellen, noch nicht einmal die Türkei von 1925 bis 1938 überwinden. Dies sollte sich jeder bewusst machen und die Realität richtig bewerten.

Vor allem die Kurden sollten diese Realität richtig analysieren und ihre Lehren daraus ziehen. Am zweiten Jahrestag des DTP-Verbots sollte der Widerstand forciert und die demokratische Politik effektiviert werden. Seit Jahren leisten tausende Menschen in den Gefängnissen einen würdevollen Widerstand gegen den AKP-Faschismus und ergeben sich nicht. Das ist selbstverständlich eine bedeutungsvolle Haltung und sollte weiter gestärkt werden. Aber dafür müssen die Politik der AKP und der Widerstand gegen ihre faschistischen Angriffe richtig verstanden werden. Die aktuelle Haltung der BDP, ihr gut geplanter demokratischer Widerstand, ist wichtig und sie wird durch eine breite Praxis sowohl den AKP-Faschismus als auch die Sonderjustiz zerschlagen.

Anmerkung:
Die „Unabhängigkeitsgerichte“ (türk.: „İstiklal Mahkeme­leri“) stammten aus der Zeit des türkischen Unabhängigkeitskrieges und den Anfangsjahren der Republik. Sie wurden eingesetzt gegen „Vaterlandsverrat“, Desertion und Revolten, dann mit dem Scheich-Said-Aufstand 1925 zur Aburteilung Aufständischer benutzt (bis 1929). Für Ausnahmezustandszeiten wurden später als außerordentliche Gerichte die „Ausnahmezustandsgerichte“ (türk.: „Sıkıyönetim Mahkemeleri“) geschaffen und besonders nach dem Militärputsch vom 12. März 1971 notwendig. 1973 wurden mit einer Verfassungsänderung „Staatssicherheitsgerichte“ (türk.: „Devlet Güvenlik Mahkemesi“, DGM) eingeführt, aufgrund von Protesten muss­te das Gesetz aber wieder revidiert werden. 1982 erklärte die Verfassung der Militärputschisten vom 12. September 1980 schließlich die DGM zum Verfassungsorgan und wies ihnen damit eine besondere Rolle zu. Sie hatten sich mit als staatsgefährdend geltenden Straftaten zu befassen (wie der Name schon sagt). Bis 1999 gehörte einem Staatssicherheitsgericht auch ein Militärrichter an, und in Ausnahmezustandszeiten und -gebieten hatten die DGM Militärgerichtsaufgaben zu übernehmen. 2004 wurden die DGM per Verfassungsänderung abgeschafft, ihre Aufgaben und ihr Personal gingen an neu installierte, den Großen Strafkammern angegliederte, „nach Art. 250 StPO für schwere Strafen zuständige“ Sondergerichte über. In den Artikeln 250–252 StPO sind dann die besonderen Zuständigkeiten aufgeführt (Oberbegriff: organisierte Kriminalität und politische Vergehen). Oppositionelle Kreise sind daher der Ansicht, die Staatssicherheitsgerichte arbeiteten weiter, nur unter neuem Etikett.