Eine 
          demokratische Verfassung von einer solchen Regierung ...?
         
          Dunkle Vorboten einer neuen Verfassung
         
          Müslüm Örtülü
        Die Diskussionen 
          über eine neue Verfassung haben im türkischen Parlament noch nicht wirklich 
          begonnen, da gibt die AKP-Regierung bereits die Marschroute vor. Die 
          Anzahl politischer Häftlinge in den türkischen Gefängnissen sprengt 
          alle weltweiten Vergleiche. Im Oktober 2011 veröffentlichte die Partei 
          für Frieden und Demokratie (BDP) eine Statistik zu den Festnahmen und 
          Inhaftierungen im Rahmen der sogenannten KCK-Verfahren: 7 748 Festnahmen, 
          davon 3 895 Inhaftierungen, seit dem 14. April 2009. Und ein Ende der 
          Festnahmewellen ist nicht abzusehen. Selbst vor gewählten ParlamentarierInnen, 
          BürgermeisterInnen und RechtsanwältInnen wird kein Halt gemacht. Dennoch 
          wurde die Türkei bis vor kurzem in den westlichen Medien als demokratisches 
          Vorzeigemodell für die im Umbruch befindliche arabische Welt lanciert. 
          Was sich aber mit den aktuellen Gesetzentwürfen bzw. Erweiterungen des 
          Anwendungsrahmens bestehender Gesetze in Ankara anbahnt, droht selbst 
          das Regime des einen oder anderen gestürzten Diktators in den Schatten 
          zu stellen. Doch überzeugen Sie sich selbst:
        Feuer frei auf Molotowcocktail-Werfer?
          Durch ein Gericht in Wan (Van) wurden Ende November zwei Personen zu 
          jeweils 12,5 Jahren Haft verurteilt, weil sie angeblich mit Molotowcocktails 
          von der Polizei erwischt worden waren. Die Staatsanwaltschaft hatte 
          zum Ende des knapp einjährigen Gerichtsverfahrens darauf plädiert, die 
          Molotowcocktails als Waffen zu werten. Erstmals in der Türkei ist das 
          Gericht einer solchen Argumentation der Staatsanwaltschaft gefolgt und 
          hat damit die hohen Haftstrafen begründet.
          Natürlich rein zufällig hatte sich einige Tage vor der Urteilsverkündung 
          der Polizeipräsident von Adana, Mehmet Avcı, zu diesem Thema öffentlich 
          zu Wort gemeldet. Er hatte in seiner Stellungnahme den Gesetzgeber dazu 
          aufgefordert, Molotowcocktails fortan als „liquide Bomben“ zu werten 
          und Täter dementsprechend hart zu verurteilen. Die Polizei müsse gegebenenfalls 
          auch das Recht haben, die Täter zu erschießen, so Avcı. Das Gericht 
          in Wan (Van) jedenfalls hielt es nicht für nötig, auf die Gesetzesänderung 
          durch die Regierung zu warten.
         
          Steine werfende Kinder sollen in (Um-)Erziehungsheime der Gülen-Gemeinde
          Auch für die Steine werfenden Kinder und Jugendlichen hat sich die Erdoğan-Regierung 
          etwas Besonderes einfallen lassen: Nachdem die Türkei bereits in der 
          Vergangenheit mit massenhaften Festnahmen und Inhaftierungen Minderjähriger, 
          die im Rahmen der Anti-Terror-Gesetze zum Teil zu jahrelangen Haftstrafen 
          verurteilt worden waren, ihre Haltung zu Kinderrechten offenbart hatte, 
          geht ihr jetziger Vorstoß gar noch weiter. So sollen laut Mustafa Toprak, 
          Gouverneur von Amed (Diyarbakır), Kinder und Jugendliche, die bei Demonstrationen 
          Steine auf türkische Sicherheitskräfte werfen, von ihren Familien getrennt 
          und in Erziehungsheimen interniert werden. Hierfür sei noch nicht einmal 
          eine Gesetzesänderung notwendig, denn § 5395 des „Kinderschutzgesetzes“ 
          biete die Grundlage für eine solche staatliche Praxis. Man müsse dies 
          lediglich noch umsetzen. Auch über die Frage, in welche Heime die Kinder 
          sollen, hat man sich schon Gedanken gemacht. Es handelt sich um die 
          sogenannten „Sevgi Evleri“, zu Deutsch „Häuser der Liebe“, die zur Gemeinde 
          Fethullah Gülens gehören.
          Mit diesen Plänen scheint die AKP auf eine althergebrachte Praxis zurückgreifen 
          zu wollen, die bereits im Osmanischen Reich angewandt worden war. Damals 
          entführte das Osmanische Heer in den neu ins Reich einverleibten Gebieten 
          massenhaft Kinder aus dort ansässigen Familien. Diese Kinder wurden 
          dann am Hof des Sultans einer grundlegenden ideologischen und militärischen 
          Ausbildung unterzogen. Das Ergebnis war das berühmt-berüchtigte Janitscharen-Heer 
          des Osmanischen Reiches. Man scheute nicht davor zurück, die Kämpfer 
          dieses Heeres, deren Wurzeln vor allem auf dem Balkan lagen, wieder 
          in den Krieg gegen ihre Brüder und Schwestern zu schicken. Ob man will 
          oder nicht, die „Häuser der Liebe“ der Gülen-Gemeinde erinnern nun einmal 
          stark an die ideologischen Bildungsstätten des Janitscharen-Heeres.
        Enteignungspläne für kurdische 
          Geschäftsleute
          Zu guter Letzt sollen auch die kurdischen Geschäftsleute und Einzelhändler 
          nicht ungeschoren davonkommen. Die Regierung hat bereits die „Kommission 
          für Inneres“ im türkischen Parlament damit beauftragt, einen Gesetzentwurf 
          auszuarbeiten, der die Enteignung von „Finanziers des Terrorismus“ ermöglicht. 
          Dabei wird selbstverständlich darauf geachtet, dass die Definition dieser 
          „Finanziers“ möglichst schwammig gehalten wird. So müsste der Einzelhändler 
          in Gever (Yüksekova), welcher aus Anteilnahme bei der Beerdigung eines 
          gefallenen PKK-Guerilleros beschließt, seinen Laden für den Tag zu schließen, 
          in Zukunft um seine wirtschaftliche Existenz bangen. Naheliegend ist 
          auch die Befürchtung, dass an die Stelle jedes enteigneten kurdischen 
          Geschäftsmannes ein AKP-loyaler gesetzt wird.
          Auch hier hat es die Regierung besonders eilig. Wer hat denn schon Zeit, 
          die gesamte Prozedur vom Gesetzentwurf bis zum abschließenden Erlass 
          des Gesetzes abzuwarten? Das wird sich auch der türkische Justizminister 
          Sadullah Ergin gedacht haben, als er in einem Rundschreiben alle Staatsanwälte 
          und Richter in der Türkei Schritt für Schritt instruierte, wie sie auf 
          Basis der aktuellen Gesetzeslage eine Beschlagnahmung des Eigentums 
          der „Finanziers des Terrorismus“ veranlassen können.
        Und was ist jetzt mit der 
          Verfassung?
          Beantworten Sie mir diese Frage. Glauben Sie nach dem oben Beschriebenen 
          wirklich noch daran, dass die AKP-Regierung eine demokratische Verfassung 
          auf den Weg bringen wird? Oder gar die kurdische Frage mit friedlichen 
          Mitteln zu lösen beabsichtigt? Als kürzlich der türkische Staatspräsident 
          Abdullah Gül auf ein mittlerweile fast vergessenes Zitat von ihm angesprochen 
          wurde, in welchem er in der kurdischen Frage baldige „positive Dinge“ 
          angekündigt hatte, entgegnete er dem Journalisten, dass die PKK diesen 
          Prozess sabotiert habe. Vor einigen Jahren jammerte die AKP-Regierung 
          noch öffentlich darüber, dass die kemalistische Bürokratie und das Militär 
          sie daran hinderten, demokratische Reformen in die Wege zu leiten. Man 
          wolle doch, aber andere ließen es halt nicht zu. Diese Ausrede scheint 
          zum Leitspruch der AKP geworden zu sein. Sie versteht sich wunderbar 
          darin, nach außen hin die demokratische Maske zu zeigen, hinter verschlossenen 
          Türen jedoch Pläne zu schmieden, wie man die gesellschaftliche Opposition 
          möglichst schnell loswird, um die eigene Hegemonie im Staat noch allgegenwärtiger 
          zu gestalten. Eine demokratische Verfassung von einer solchen Regierung 
          zu erwarten wäre daher nichts als Selbstbetrug. Täuschen wir uns deshalb 
          nicht selbst. Lassen Sie uns stattdessen der AKP die Maske herunterreißen!