Überlegungen 
          zu den Voraussetzungen für eine neue Verfassung
         
          Wie wird eine Friedensverfassung möglich?
         
          Ayhan Bilgen, Menschenrechtler und Schriftsteller
        Ayhan 
          Bilgen ist gleichzeitig Mitglied der „Bewegung für eine demokratische 
          Verfassung“ die sich seit ungefähr einem Jahr in den Diskusionen für 
          eine neue Verfassung in der Türkei einsetzt. Sie tritt für eine von 
          der 1982er Verfassung des 12.-September-Putsches völlig unabhängige 
          neue Verfassung in der Türkei ein und ist der Ansicht, zunächst seien 
          „vertrauensbildende Maßnahmen“ nötig. Zudem schlägt sie ein „Verfassungsparlament“ 
          vor, dessen Aufgabe die Gestaltung einer Verfassung sein soll. Außerdem 
          führte sie zwei Workshops unter dem Titel „Die Türkei nach den Wahlen, 
          Verfassungstätigkeit und unsere Pflichten“ durch. Mit derselben Zielsetzung 
          führte sie Gespräche mit zahlreichen Akademikern, Schriftstellern und 
          Meinungsführern, und sie organisierte und organisiert weiterhin türkeiweit 
          Konferenzen.
         
          Die gesellschaftlichen Bedürfnisse in der Türkei machen sich in vielerlei 
          Hinsicht bemerkbar. Eine gleichberechtigte und freiheitliche Neudefinition 
          der Beziehungen zwischen Staat und Religion und die Aufhebung der Einschränkungen 
          der Rechte und Freiheiten sind dabei nur zwei Aspekte. Eine Neugestaltung 
          der Sozialpolitik und die Bestimmung des neuen Gleichgewichts zwischen 
          den staatlichen Organen verstärken die Erwartungshaltung aus einem anderen 
          Blickwinkel. Die politischen Machthaber wollen durch die Einleitung 
          mancher gesellschaftlich geforderter Schritte einerseits und durch die 
          Beherrschung und Kontrolle von Machtzentren wie dem Militär oder der 
          Justiz andererseits Verfassungsänderungen realisieren, die ihre eigene 
          Position stabilisieren.
        Das 
          Verfassungsreferendum und das Erbe der Wahlen
          Es wird sicher schwierig, alle diese Erwartungen gemeinsam zu erfüllen. 
          Eine flexible und parallele Planung erscheint deshalb unumgänglich. 
          Es darf aus diesem Blickwinkel nicht übersehen werden, dass es dazu 
          bei der letzten Parlamentswahl am 12. Juni 2011 auch nur zurückhaltende 
          Äußerungen gab. Begriffe wie neu, zivil, demokratisch, freiheitlich, 
          gleichberechtigt werden zwar verbreitet gebraucht und akzeptiert, es 
          wird jedoch mit Absicht vermieden zu definieren, was sie konkret beinhalten 
          sollen. Es ist eines der grundlegenden Handicaps des jetzigen Parlaments, 
          eine neue Verfassung gestalten zu wollen, nachdem die Parteien sich 
          doch vor den Wahlen gehütet hatten, ihren jeweiligen Wählern ihre Vorstellungen 
          von einer Verfassung darzulegen.
          Das Verfassungsreferendum vom 12. September 2010 mit den dabei bevorzugten 
          Regelungen zeigt auch, dass die dort benutzten Demokratie-Floskeln lediglich 
          die Position der politischen Machthaber gegenüber anderen Organen stärken 
          sollten. Eine für eine Demokratisierung zwingend notwendige Zivilisierungsphase 
          allein kann jedoch nicht ausreichen. Zudem darf nicht vergessen werden, 
          dass in manchen Staaten, in denen eine politische Umwälzung stattfand, 
          die neuen politischen Machthaber selbst zu Zentren gesellschaftlicher 
          Unterdrückung geworden sind. Sowohl das Gleichgewicht und die sogenannten 
          Kontrollsysteme, die auf der Gewaltenteilung gründen, als auch die Wirkungslosigkeit 
          gesellschaftlicher Kontrollmechanismen bergen ernsthafte Risiken in 
          sich. Es ist besonders bemerkenswert, dass durch die Medien die Einschränkung 
          mancher Freiheiten wie der freien Meinungsäußerung auf der Tagesordnung 
          gehalten wird.
        Wegbereinigung 
          und vertrauensbildende Maßnahmen
          Es ist unumgänglich zwingend, mit einer neuen Verfassung eingehend die 
          Möglichkeit der Eröffnung eines neuen Weges zum Frieden zu bewerten. 
          In dieser Richtung können Vergangenheitsbewältigung und die Gründung 
          einer Wahrheitskommission eine Absichtserklärung darstellen und den 
          guten Willen ausdrücken. Leider konnten die bisherigen Möglichkeiten 
          zur Aufarbeitung von Vorwürfen, allen voran die Ergenekon-Verfahren, 
          die manche Verbrechen der Vergangenheit beleuchten sollten, nicht besonders 
          positiv genutzt werden. Ereignisse, die die Gesellschaft tief getroffen 
          und zu großer Bestürzung geführt hatten, wurden nicht selbstkritisch 
          verarbeitet, man hat sich stattdessen dafür entschieden, einige wenige 
          für diese Taten verantwortlich zu machen.
          Die Verhaftungen kurdischer Politiker und solchen aus manchen sozialistischen 
          Kreisen, die mit ihnen in Verbindung gebracht wurden, und die Art und 
          Weise der Darstellung dessen in der Öffentlichkeit haben für einen erneuten 
          schweren Vertrauensbruch gesorgt.
          Die Besorgnis darüber, dass die behauptete Demokratisierung im Rahmen 
          einer neuen Verfassung eigentlich nur eine Säuberungsaktion bedeute, 
          die den Willen brechen soll, ist zunehmend gewachsen. Die willkürlichen 
          und sich über sehr lange Zeit erstreckenden Verhaftungen, eine Praxis, 
          die jegliche Rechtsstaatlichkeit vermissen lässt, haben eine mögliche 
          Lösung des Problems auf dem Wege des Dialogs negativ beeinflusst. Die 
          Verhandlungen des Staates mit der kurdischen Bewegung haben von diesem 
          Vertrauensbruch ihr Teil abbekommen. Damit die Verfassung Gelegenheit 
          zu einem dauerhaften und akzeptablen Frieden bieten kann, müssen schnellstens 
          Schritte zur Wegbereinigung und vertrauensbildende Maßnahmen durchgeführt 
          werden. Wenn die Phase, in der eine Verfassung entwickelt wird, für 
          eine Gesellschaft den Zeitabschnitt darstellt, in dem sie sich zu ihrer 
          Zukunft äußern kann, dann sollte in dieser Phase jedem Einzelnen ermöglicht 
          werden, Foren zu bilden, auf denen seine Forderungen frei zum Ausdruck 
          gebracht werden können. Für eine neue Verfassung muss es als vorrangiger 
          und einfacher gelten, manche Gesetze und Verordnungen zu ändern, um 
          Einschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit abzuschaffen und 
          um in diesen Bereichen zu praktischen Erleichterungen zu kommen.
        Warum 
          weigern wir uns, die Politik zu demokratisieren?
          Es ist zwingend notwendig, parallel zur neuen Verfassung alle antidemokratischen 
          gesetzlichen Bestimmungen, allen voran das Gesetz über die politischen 
          Parteien, sogar en bloc zu behandeln. Eine politische Macht, die es 
          nicht über sich bringt, die Parlamentsgeschäftsordnung zu novellieren, 
          wird auch in ihrem Anspruch, eine neue Verfassung erarbeiten zu wollen, 
          natürlicherweise angezweifelt. Es geht nicht an, sich auf der einen 
          Seite vor Schritten zu hüten, die die Politik demokratisieren würden, 
          und auf der anderen Seite den Anspruch der Demokratisierung zu formulieren.
          Die sich einer gesellschaftlichen Beteiligung verschließenden Organisationsformen 
          der politischen Parteien, ein führerzentriertes Politikverständnis – 
          dieser Zustand wird nicht nur durch die politische Kultur, sondern auch 
          die Gesetzgebung genährt. Warum diese Praxis bis heute nicht revidiert 
          wurde, muss offen beantwortet werden.
          Ohne fundamentale Änderungen im antidemokratischen Rechtssystem, das 
          die Gründe für die kurdische Frage in sich birgt, ist ein Ende des Konflikts 
          nicht möglich.
        Kein 
          freiheitlicher Verfassungsentwurf ohne Partizipation 
          Die Phase der Vorbereitung einer Verfassung ist genauso wichtig wie 
          deren Inhalt, manchmal sogar noch wichtiger. Eine Vorlage, in der sich 
          die gesellschaftlichen Kräfte nicht wiederfinden, wird niemals als zufriedenstellend 
          empfunden werden. Die Verinnerlichung und Aneignung von Rechten und 
          Freiheiten lässt sich lediglich erreichen, indem Partizipationsmechanismen 
          geschaffen werden. Um diese Beteiligung effektiv und wirkungsvoll zu 
          gestalten, muss von Beratungen als Mogelpackungen Abstand genommen werden.
          Ein vorgetäuschter Austausch mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen 
          wird zur Legitimation im Sinne einer Beteiligung nicht ausreichen.
          Die Gestaltung einer Verfassung durch Zivilisten bedeutet nicht, dass 
          sie nicht durch die Hand von Uniformierten entsteht. Die Übernahme der 
          Führung durch die gesellschaftlichen Formationen von unten nach oben 
          muss dabei vorangetrieben werden. Im Übrigen ist das Schreiben einer 
          Verfassung nicht gleich der Schaffung einer Verfassung. Diese erste 
          dieser sich ergänzenden Phasen ist ein gesellschaftlicher politischer 
          Schritt; der letzte Schritt ist das Erstellen einer Vorlage, das technische, 
          juristische und fachliche Unterstützung erfordert.
          Verfassungen sind in diesem Sinne ein Werkzeug zum Festhalten und Sichern 
          der im gesellschaftlichen Kampf erreichten Resultate in einem neuen 
          Statut.
        Wer soll es machen? 
          Wie soll es vorbereitet werden?
          Diese Phase sollte in Form von Verfassungsinitiativen von allen umgesetzt 
          werden, die etwas zur neuen Verfassung beizutragen haben; lokale Umweltbewegungen 
          gegen Wasserkraftwerke, Initiativen der Kriegsdienstverweigerer, Jugendgemeinschaften, 
          Arbeitsschutzorganisationen, Glaubensgemeinschaften, Plattformen, die 
          für den Frieden arbeiten. Eine Verfassungsbewegung, die durch das Zusammentreffen 
          lokaler Initiativen in einer Art von Volksvertretung organisiert ist, 
          wird sowohl eine entsprechende Beteiligung erreichen als auch über ein 
          Potential verfügen, das sich zu einer dynamischen Kraft wandeln kann.
          Obwohl es Verfassungsaktivitäten von verschiedenen Institutionen gibt, 
          haben diese sich nur darauf konzentriert, eine Verfassungsvorlage zu 
          formulieren. Natürlich ist es wichtig, dass verschiedenste Kreise ihre 
          Erwartungen an die Verfassung artikulieren und beschreiben, doch dringlicher 
          ist es, die Basis dieser Institutionen in die Verfassungsvorbereitung 
          direkt einwirken lassen zu können.
          Sich auf Diskussionen um eine Endvorlage einzulassen, ohne effektive 
          gesellschaftliche Mitwirkungsmöglichkeiten in politischen Entscheidungsprozessen 
          zu berücksichtigen, kann nicht mehr wettzumachende Versäumnisse mit 
          sich bringen. Ein Parlament, das die Kompetenz zur Gestaltung einer 
          Verfassung als sein Monopol beansprucht, kann die demokratische Repräsentanz 
          oder, wenn es diese Kompetenz sogar nur formell ausüben lassen will, 
          die gesamte Gesellschaft teuer zu stehen kommen.
          Politische Akteure, die den gesellschaftlichen Kräften den Rücken gekehrt 
          haben, besitzen ein hohes Potential, die Verfassungserwartungen in eine 
          Enttäuschung zu verwandeln.
        Mutmaßliche 
          Risiken und die Möglichkeit eines Verfassungsbruchs
          Verfassungen spiegeln gleichzeitig auch einen Gründungswillen wider. 
          Dies nur auf die Militärputsche zu reduzieren und so zu diskutieren, 
          wäre in höchstem Maße irreführend. Wer die Kompetenz des gegenwärtigen 
          Parlaments zur Gestaltung einer neuen Verfassung bestreitet, trägt die 
          Verantwortung, die Öffentlichkeit auch über einige der Risiken zu informieren. 
          Die Erarbeitung einer Verfassung, ohne sich von der nach dem Militärputsch 
          vom 12. September 1980 entstandenen Verfassung von 1982 völlig zu trennen, 
          wird durch deren Einschränkungen der Rechtsvorschriften bedroht. Die 
          gegenwärtige Verfassung enthält nur Vorgaben bezüglich der Art und Weise 
          von Verfassungsänderungen. Wenn man sich daran hält, wird der in einem 
          Vermittlungs- oder Vorbereitungsausschuss entstehende Wille keine bindende 
          Wirkung mehr entfalten. Zudem kann, wie im Falle der vorherigen Verfassungsänderungen, 
          das gesamte Vorhaben mit dem Argument zunichte gemacht werden, die neue 
          Vorlage verstoße gegen die unabänderlichen Verfassungsartikel, ohne 
          dass es überhaupt zu ihrer Änderung kommt. Abgesehen von derartigen 
          großen Schrecken [überhaupt über die ersten drei Paragrafen zu reden, 
          die auf einer türkischen Nation beharren] sind auch Machtspiele politischer 
          Parteien vorstellbar, die diesen Prozess ins Stocken bringen können. 
          Es kann schon heute vorausgesagt werden, dass als neue Verfassung ein 
          Konzept, auf das sich alle vier Parlamentsfraktionen einigen, eher als 
          ein Änderungspaket akzeptiert werden würde. Das bedeutet, dass man schon 
          mit ernsten Handicaps unterwegs ist, auch wenn die „Unabänderlichen 
          Vorschriften“ und das Änderungspaket vom 12. September 2010 aus der 
          Diskussion gelassen werden.
        Grundsätzliche 
          Forderungen und ein Verfassungsparlament
          Eine Neudefinition des Staatsbürgers, die Forderung der Kurden nach 
          einem Status, Muttersprache, einem autonomen Administrationsmodell, 
          das Konstrukt des Präsidiums für Religionsangelegenheiten, Zwangsreligionsunterricht, 
          die militärische Bevormundung – in diesen grundlegenden Problembereichen 
          müssen die Erwartungen konkretisiert und in dieser Richtung gesellschaftliche 
          Diskussionsprozesse und Überzeugungsarbeit geplant werden. Diese Aufgaben 
          müssen von einem Verfassungsparlament, oder wie man es auch immer nennen 
          mag, ausgeführt werden. Das würde zu einem gesunden gesellschaftlichen 
          Bewusstsein und Klima führen.
          Die Behauptung, die Abgeordneten des „Blocks für Arbeit, Demokratie 
          und Freiheit“ dürften von dem im Parlament stattfindenden Prozess nicht 
          ausgeschlossen werden, kann vom Gesichtspunkt der Propaganda her nachvollziehbar 
          sein, birgt jedoch in der reellen politischen Planung ernsthafte Risiken. 
          Wenn sich die Lage bei fortschreitender Diskussion zu einem Bild wandelt, 
          das den Erwartungen der kurdischen Politik nicht entspricht, wird für 
          die BDP-Abgeordneten eine sehr schwierige Situation entstehen.
          Der Parlamentspräsident, der eigentlich neutral sein sollte und die 
          Vorschläge zahlreicher Akademiker für ein Verfassungsparlament als „Phantasie“ 
          abgetan hat, gibt damit ein wichtiges Signal für die Zukunft.