8. 
          Internationale EUTCC-Konferenz im EU-Parlament Brüssel
         
          „Universelle Rechte, kurdische Selbstbestimmung und die Kämpfe 
          um die neue Verfassung“
         
          Ulf Petersen
        Die EU Turkey 
          Civic Commission (EUTCC) hielt am 7. und 8. Dezember 2011 ihre 8. internationale 
          Konferenz unter diesem Titel ab. Die EUTCC wurde im November 2004 vom 
          Bar Human Rights Committee (Großbritannien), der Rafto Foundation (Norwegen), 
          dem Kurdish Human Rights Project (Großbritannien) und Medico International 
          (Deutschland) gegründet. Die Aufgabe der EUTCC ist es, „die Mitgliedschaft 
          der Türkei in der EU voranzubringen und die Einhaltung der Menschen- 
          und Minderheitsrechte sowie eine friedliche, demokratische und langfristige 
          Lösung der kurdischen Situation zu garantieren“ (Zitat aus der Selbstdarstellung). 
          Schirmherren und -damen sind unter anderem die Friedensnobelpreisträger 
          Desmond Tutu (Südafrika) und Shirin Ebadi (Iran), Bianca Jagger und 
          die kurdische Politikerin Leyla Zana. Letztere war anwesend und hat 
          die erste Eröffnungsrede gehalten.
          Die in diesem Jahr verschärfte Repression und die Massenverhaftungen 
          in der Türkei waren ein durchgehendes Thema. Der Anwalt Cengiz Çiçek 
          war eingeladen, wurde aber am 22. November gemeinsam mit 45 KollegInnen 
          aus der ganzen Türkei verhaftet. Er ließ der Konferenz Grüße aus dem 
          F-Typ- Gefängnis in Kandira ausrichten und wurde durch Mahmut Şakar 
          vom Demokratie und Rechtsverein MAF-DAD vertreten (s. S. 18). Im Folgenden 
          einige Eindrücke von den zwei Konferenztagen.
          Ertuğrul Kürkçü, Abgeordneter im türkischen Parlament für die BDP aus 
          Mersin und Sprecher des Kongress für eine Demokratische Gesellschaft 
          DTK, erklärte am ersten Konferenztag, dass die BDP keine kurdische Partei, 
          sondern eine demokratische türkische Partei mit Schwerpunkt auf der 
          kurdischen Frage sei: „Jedes Oppositionsthema ist unsere Sache, die 
          wir gemeinsam mit anderen Kräften aufgreifen.“ Außerdem war er der einzige 
          Redner, der fragte, warum es keine kurdische Übersetzung auf der Konferenz 
          gäbe (Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch, Dänisch und Flämisch 
          wurden angeboten).
          Der zweite Tag begann mit dem Thema „Zivilgesellschaftliche Organisationen: 
          Vorschläge für eine neue Verfassung“. Bis 2009 wurde die kurdische Identität 
          in der Türkei nicht anerkannt, seit 2009 wird sie akzeptiert, aber die 
          kurdische Bewegung soll nun vernichtet werden, stellte Öztürk Türkdoğan 
          (s. S. 20), Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD, fest. Die Amtssprache 
          mag Türkisch sein, aber das Recht, Kurdisch und andere Sprachen zu benutzen, 
          müsse in der neuen Verfassung garantiert werden. Er stellte Anforderungen 
          an eine neue Verfassung. Sie müsse sich auch gegen den Militarismus 
          richten und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einschließen. Das 
          Recht auf demokratische Autonomie für die kurdische und andere Regionen 
          sollte aufgenommen werden. Dieses Recht auf Selbstbestimmung meint keine 
          staatliche Unabhängigkeit der Regionen. „Eigentlich sollte man in Konfliktsituationen 
          keine neue Verfassung schreiben“, warnte er, das Mindeste sei ein dauerhafter 
          Waffenstillstand.
          Ayhan Bilgen, Menschenrechtsaktivist, Journalist und Schriftsteller 
          aus der Türkei, betonte, dass die Präambel und der erste Artikel der 
          Verfassung1 geändert werden müssten, die 
          Anerkennung der anderen Muttersprachen sei zentral.
          „Wenn Ihr modern sein wollt, müsst Ihr türkisch-sunnitisch sein“, das 
          sieht Ayşegül Devecioğlu, Aktivistin für Frauenrechte, Journalistin 
          und Schriftstellerin (Türkei), als Linie der AKP-Politik. Die Diskussion 
          über eine neue Verfassung finde im Schatten des 30 Jahre andauernden 
          Krieges statt. Wie viele TeilnehmerInnen war sie besorgt und hatte Schwierigkeiten, 
          die Hoffnung zu bewahren. „Ich habe mich gefragt, warum ich überhaupt 
          hergefahren bin“, sagte sie am Ende ihres Beitrages.
          Auf die kurz vor der Konferenz von Erdoğan ausgesprochene Entschuldigung 
          für das Dersîm-Massaker von 1938 antwortete Kemal Bülbül, zweiter Vorsitzender 
          der Föderation der Aleviten (Bektashi-Organisation): „Eine Entschuldigung 
          reicht nicht aus, eine Untersuchungskommission ist nötig.“ Und weiterhin 
          spreche der Regierungschef oft von „einer Nation, einer Sprache, einer 
          Fahne.“. Damit lebe Hitlers Geist in der Türkei weiter. Er zitierte 
          Martin Luther Kings Ausspruch „Ich habe einen Traum“ und ergänzte „aber 
          ich habe langsam Angst zu träumen“.
          Ihsan Dağı, Professor an der Technischen Universität des Mittleren Ostens 
          und Kolumnist, meinte, dass eine schwache Türkei das Problem nicht lösen 
          könne – nur eine gestärkte Türkei, die keine Angst vor Vielfalt habe. 
          Zu den Anforderungen an eine neue Verfassung zählte er neben der Lösung 
          der kurdischen Frage eine zivile Führung des Militärs und eine Überprüfung 
          des Status der Religionsbehörde Diyanet. Eine „post-kemalistische“ Verfassung 
          sei nötig. Für einen politischen Konsens wäre die CHP eigentlich wichtig, 
          sie habe aber Probleme mit ihrer nationalistischen Basis und Wählerschaft.
          Michael Ivers vom Bar Human Rights Committee aus Großbritannien argumentierte, 
          dass die Umwandlung von einer Militärherrschaft zu einer Demokratie 
          „keine Raketenwissenschaft“ sei. Es gäbe Vorgehensmodelle, viele Länder 
          hätten diese Erfahrung gemacht. Er betonte die Wichtigkeit des 2004 
          ergänzten Artikels 902 der jetzigen türkischen 
          Verfassung, nach dem die Gültigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention 
          (EMRK) bereits jetzt nicht durch die Verfassung eingeschränkt werden 
          könne. Politiker müssten also gegen die gültigen Artikel der EMRK argumentieren. 
          Wenn diese in einer neuen Verfassung nationalisiert werden, wären sie 
          wirksamer, weil sie nicht mehr als etwas Fremdes aus Straßburg abgetan 
          werden könnten.
          In der Diskussion zu diesem Block stellte der BDP-Abgeordnete Ahmet 
          Türk fest, dass sich für die Kurden nur wenig geändert habe. Michael 
          Ivers hielt dagegen, dass die Diskussionen über eine neue demokratische 
          Verfassung ein positives Zeichen seien. Auch Ihsan Dağı meinte, dass 
          die Fortschritte nicht geleugnet werden dürften. „Wir bekommen keine 
          Luft mehr“, entgegnete Ayşegül Devecioğlu und wies darauf hin, dass 
          die Verhaftungen sich sogar verstärkten, als die BDP ins Parlament ging, 
          um sich an der Arbeit für eine neue Verfassung zu beteiligen. Und Öztürk 
          Türkdoğan ergänzte, dass seit zehn Jahren die Ideologie des islamischen 
          Türkentums durchgesetzt werden würde.
          In einem eigenen Diskussionsblock wurden die internationalen Erfahrungen 
          mit Transformationsprozessen von VertreterInnen aus Südafrika, Wales 
          und Indien behandelt. Essa Moosa, Richter aus Südafrika und Mitglied 
          im EUTCC-Vorstand, wurde in einer späteren Diskussion gefragt, wie der 
          ANC die Regierung davon überzeugt hatte zu verhandeln. Er nannte drei 
          Faktoren: 1. der Kampf der Bevölkerung; 2. der bewaffnete Kampf; 3. 
          der Druck der internationalen Gemeinschaft. Der Sitzungsleiter Hans 
          Branscheidt ergänzte, dass der ANC in den 1970er Jahren international 
          isoliert war und erst Anfang der 80er u. a. mit Hilfe der südafrikanischen 
          Kirchen die internationale Öffentlichkeit erreichen konnte.
          In ergänzenden Bemerkungen zur türkischen Verfassungsdiskussion ging 
          Yıldırım Türker, Kolumnist der türkischen Zeitung „Radikal“, noch einmal 
          auf Ihsan Dağıs Aufforderung ein, die heutige Situation nicht mit den 
          80er Jahren gleichzusetzen. Er meinte, dass Leyla Zana zwar jetzt frei 
          und hier auf der Konferenz sein könne, aber: „Die ganze Türkei ist heute 
          ein halboffenes Gefängnis, es ist nicht zentral, ob man gerade in Haft 
          ist oder nicht.“
          Den letzten Diskussionsblock „Friedensinitiativen für eine politische 
          Verhandlungslösung“ leitete Songül Karabulut, Vertreterin des Kurdischen 
          Nationalkongresses (KNK) ein. Sie stellte fest, dass es von Seiten der 
          AKP keinen Lösungsvorschlag für die kurdische Frage gäbe. Dies ist wichtig, 
          weil Erdoğan sich immer noch als Reformer präsentiert.
          Cengiz Çandar, prominenter Journalist für die Zeitung „Radikal“, nahm 
          zum vierten Mal an der EUTCC-Konferenz teil und hatte nun das Gefühl, 
          „in einer Sackgasse gelandet zu sein“. Er war vor sechs Monaten an einem 
          Bericht zur kurdischen Situation beteiligt. In diesem wurde gesagt, 
          was die Türkei nicht tun sollte. Genau das hat sie aber getan. Zum Beispiel 
          sei durch die Verhaftungen verhindert worden, dass die akademische Welt 
          sich in die Debatte einmischt. Die International Crisis Group (ICG) 
          habe das Gleiche gesagt, es bräuchte vertrauensbildende Maßnahmen statt 
          der KCK-Verfahren. Weiterhin sagte er: „Abdullah Öcalan mag für manche 
          Leute ein Teil des Problems sein, er muss aber auch Teil der Lösung 
          werden.“
          Hugh Pope, Projektleiter der International Crisis Group (ICG), teilt 
          die Kritik an der AKP und dem türkischen Staat, übt aber auch Kritik 
          an der kurdischen Bewegung. So hält er die Forderung nach „Demokratischer 
          Autonomie“ für kontraproduktiv, da sie im Westen der Türkei als Forderung 
          nach einem unabhängigen Kurdistan wahrgenommen werde. Außerdem sei sie 
          nicht klar definiert. Weiterhin übte er Kritik daran, dass die Guerilla 
          zivile Opfer riskiere und auch die Angehörigen von Polizisten angreifen 
          würde. Die jetzige Eskalation des Krieges führt er aber vor allem auf 
          den Niedergang des EU-Annäherungsprozesses zurück.
          „Zu sagen ‚ich bin stolz, Kurde zu sein‘ bedeutet ja nicht, den Staat 
          in Frage zu stellen“, und wenn die Grundrechte gesichert seien, wäre 
          es auch kein Problem, die Region „Kurdistan“ zu nennen. Dies entgegnete 
          Selahattin Demirtaş, stellvertretender Vorsitzender der BDP. Die Öffnungen 
          in der kurdischen Frage waren strategische Schritte einer Säuberungspolitik 
          – „für uns sieht das aus, als ob es keinen Fortschritt gegeben hätte“. 
          Die Forderung der Demokratischen Autonomie ist für ihn ein Ergebnis 
          des Traumas durch das türkische Modell, seit 80 Jahren zu türkisieren 
          und zu sunnisieren. Der Kern der Demokratischen Autonomie seien die 
          Regional- und Bezirksversammlungen, deren Entscheidungen die Grundlagen 
          für Gesetze sein sollten.
          Mahmut Şakar erklärte, dass der von Abdullah Öcalan eingeleitet Paradigmenwechsel 
          von der kurdischen Bevölkerung aufgenommen wurde und dazu geführt habe, 
          dass chauvinistische und rassistische Herangehensweisen sie noch nicht 
          von dem Wunsch abgebracht hätten, gemeinsam mit der türkischen Bevölkerung 
          zu leben. Letztlich sei die kurdische Frage heute wesentlich ein Phänomen, 
          das Öcalan und die PKK im Rahmen eines Identitäts- und Demokratisierungsproblems 
          bestimmt und formuliert hätten.
          Zum Ende ging der belgische Anwalt Jan Fermon (PROGRESS Anwälte-Netzwerk) 
          auf die EU-Terrorlisten ein. Er sagte: „Wenn man jemanden als kriminell 
          und terroristisch bezeichnet, bleibt für diese ‚teuflische‘ Seite nur 
          die vollständige Kapitulation.“ So verhindere man eine nachhaltige Lösung. 
          „Wenn man kurdische Organisationen auf eine Terrorliste setzt, bedeutet 
          das die Übernahme der Politik der türkischen Falken.“ Und der türkische 
          weite Terrorbegriff würde mehr und mehr in Europa übernommen. Das sei 
          ein Rückfall in die Zeit vor 1945, als galt: Was der Staat tut, ist 
          richtig. Oppositionelle galten automatisch als kriminell. Er forderte: 
          „Die EU sollte in Europa tätige Politiker und Sprecher der PKK nicht 
          länger kriminalisieren.“
          Die Abschlussresolution macht das Dilemma der EUTCC deutlich: Sie wiederholt 
          im Wesentlichen die Punkte der letzten Konferenzen. Vielleicht könnte 
          zwischen den Konferenzen intensiver mit den Ergebnissen gearbeitet werden, 
          um so den Wirkungskreis auszuweiten.
        1- 
          „Diese Verfassung, die die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes 
          und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen 
          Staates zum Ausdruck bringt (...)“
          2- „Die verfahrensgemäß in Kraft gesetzten völkerrechtlichen Verträge 
          haben Gesetzeskraft. Gegen sie kann das Verfassungsgericht mit der Behauptung 
          der Verfassungswidrigkeit nicht angerufen werden. (...)“