Trägt es eigentlich zur Lösung bei, dass so viele Menschen verhaftet werden? Die Türkei hat ihre letzte Chance noch nicht verspielt Sırrı Sakık, BDP-Abgeordneter aus Muş Die Türkei macht derzeit einen schwierigen Prozess durch. Falls diese kritische Lage nicht beendet und der Demokratie der Weg nicht geebnet werden sollte, steht zu befürchten, dass das Land mit noch mehr Leiden und Krisen konfrontiert wird und unser gesellschaftlicher Friede ernste Wunden davonträgt. Da jeden Tag Militäroperationen und Verhaftungen stattfinden, kann behauptet werden, dass die Zeit des Militärputsches damit weit übertroffen wird. Seit dem Jahr 2009 sind im
Rahmen der KCK-Operationen 7 815 Personen festgenommen worden, und mindestens
3 500 davon sind noch in Haft. Unter diesen befinden sich 5 vom Volk
gewählte Parlamentarier und 15 Bürgermeister der BDP. Der Innenminister
beziffert die Zahl der Verhafteten auf 750. Diese genannte Zahl entspricht
jedoch nur jener der Frauen. Zusätzlich wurden außerhalb der KCK noch
weitere Personen in Haft genommen. Es wurden Demonstrationen gegen die
Aufhebung der Immunität von Ahmet Türk und Aysel Tuğluk organisiert;
es wurden Plakate mit der Aufschrift „Kein Betätigungsverbot für die
DTP“ getragen ... oder in der Stadt Muş wurde ein Zelt aufgestellt,
in dem öffentlich über die demokratische Lösung der Kurdenfrage nachgedacht
werden sollte, dort wurde auch ein Plakat „Keine Gewalt, sichert den
Frieden“ getragen. Menschen werden aufgrund ihrer oppositionellen Haltung
zum Terrorismusbekämpfungsgesetz und dem Türkischen Strafgesetzbuch
sehr schnell verhaftet. Obwohl sie keine Mitglieder der PKK sind, werden
die Verhafteten der Propaganda beschuldigt, und es werden hohe Freiheitsstrafen
für sie gefordert. Unserer Partei BDP fehlen die finanziellen Mittel. Die Parlamentarier und Bürgermeister der BDP geben 10 % ihres Gehalts an die eigene Partei weiter, weil wir als politische Partei keine staatliche Unterstützung erhalten. In jedem Haus werden Spardosen aufgestellt, in die die Kinder Münzen werfen. All dies wird als Unterstützung der KCK gewertet. Die Verhafteten sitzen seit
ca. drei Jahren im Gefängnis. Da die Gerichte jede Verteidigung in der
Muttersprache verbieten, fanden bis jetzt keine Vernehmungen statt und
mit Verurteilungen wurde bislang auch nicht begonnen. Wir fragen vor allem: Wenn
Ihr Menschen verhaftet, die sich in demokratischem Rahmen politisch
betätigen, mit wem könnt Ihr dann die Verhandlungen führen? Wem werdet
Ihr dann Eure Hand reichen? Der Ministerpräsident sagte: „Kampf dem
Terrorismus, Verhandlungen mit der Politik.“ Und mit wem wird er denn
verhandeln? Die BDP wird auf dem politischen Feld so behandelt, als
würde sie gar nicht existieren. Es wird alles versucht, damit sie ja
nicht ihre Stimme erhebt. Und wie sollen überhaupt Verhandlungen stattfinden?
Werdet Ihr die Gespräche mit der Polizei führen oder mit den Staatsanwälten,
die mit besonderen Befugnissen ausgestattet sind? Kürzlich
wurden Anwälte von Abdullah Öcalan festgenommen und anschließend inhaftiert.
Diese Rechtsanwälte besuchen ihn seit 2009 auf der Gefängnisinsel Imralı
und beraten ihn dort. Es wird sehr viel behauptet: Es heißt, es seien
Anweisungen erteilt worden. Aber die Anwaltsgespräche finden unter staatlicher
Bewachung statt und sie werden auch aufgenommen. Falls schuldrelevante
Inhalte bemerkt wurden, warum hat man mit den Ermittlungen nicht sofort
begonnen? Warum hat man zuerst ein Auge zugedrückt? Wenn die Anwälte
schuldhaft gehandelt haben, dann ist der Staat an dieser Schuld beteiligt.
Außerdem wurde die Information lanciert, dass die Verbindung zwischen
Imralı und Kandil durch staatliche Institutionen hergestellt worden
sei. Für der Korruption Beschuldigte aus der Fußballwelt wurden innerhalb von acht Monaten zwei neue Gesetze beschlossen, aber das Heft für die Erweiterung der Freiheiten wurde noch immer nicht aufgeschlagen. Für diejenigen, die wegen Terrorismus verurteilt werden, rührt sich niemand von der Stelle. Nur weil eine Frau ein Plakat trägt, wird sie zu fünf Jahren Haft verurteilt. Gegen diesen Rechts-, Demokratie- und Freiheits-Genozid erhebt niemand seine Stimme. Seit dem Einsatz chemischer Waffen gegen die kurdischen Freiheitskämpfer sind vier Wochen vergangen. Die Familien warten noch immer vor der Leichenhalle. Die Leichname sind unkenntlich gemacht worden. Der DNA-Test führt zu keinem Ergebnis. Der Staat muss bekannt geben, welche Art von Waffen eingesetzt wurde. Der Ministerpräsident kann sich mit dieser Politik bei den Kurden nicht durchsetzen. Er kann damit nur ablehnende Reaktionen und Unmut hervorrufen. Es ist zwar eine Tugend, sich wegen des Genozids in Dersîm (1938) öffentlich zu entschuldigen. Es ist aber brutal, dass die gleiche Politik heute noch praktiziert wird. Auch heute wird noch politischer Völkermord begangen. Die Türkei muss sich so bald wie möglich von ihrer diskriminierenden Politik gegenüber den Kurden und von ihren autoritären Praktiken trennen. Der Angriff auf die Suche der Kurden nach Demokratie und Frieden schadet gleichzeitig der Demokratie der Türkei. Die Schere zwischen dem Westen und dem Osten der Türkei klafft immer weiter auseinander. Die Türkei hat ihre letzte Chance noch nicht verspielt, sie könnte also trotz negativen Erfahrungen Frieden stiften.
|