Aktuelle
Bewertung
Die Kurdenjagd der AKP
Adem Uzun
In den letzten zwei Monaten
haben die politischen und gesellschaftlichen Probleme weltweit und auch
in Kurdistan zugenommen.
Ich möchte eine Zusammenfassung der Ereignisse in Kurdistan und dem
Nahen und Mittleren Osten, als einem Zentrum dieser Veränderungen, versuchen
und die relevanten politischen, historischen und internationalen Gründe
aufgreifen.
Die wichtigste Frage in diesem Prozess für die KurdInnen ist, ob sie
in der Phase der Neugestaltung des Nahen Ostens einen unabhängigen offiziellen
Status, wie die anderen Völker der Region, erlangen werden oder nicht.
Der
schmutzige Krieg tritt weiter in den Vordergrund
Auf der anderen Seite tritt der schmutzige Krieg wieder immer weiter
in den Vordergrund, um so den Wunsch der KurdInnen nach einem offiziellen
Status um jeden Preis zu verhindern, allen voran dabei die Türkei. Der
türkische Staat und seine Regierung versuchen auch heute historische
Ereignisse zu wiederholen, indem sie gegen die KurdInnen und ihre legitime
Vertreterin, die kurdische Freiheitsbewegung, mit neuen und weiterentwickelten
Methoden des Genozids vorgehen.
Die AKP-Regierung hat im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Mittleren
Osten eine neo-osmanische Vision. Dabei hat sie die Unterdrückung der
KurdInnen mitsamt ihrem politischen Willen und ihren Organisationen
als eines der Haupthindernisse auf dem Wege der Realisierung dieser
Vision zu ihrer zentralen Politik gemacht. 2009 wurde eine stetig eskalierende
politische, militärische und juristische „KurdInnenjagd“ begonnen. Auf
dieser „Jagd“ werden gewählte VertreterInnen der legalen politischen
Partei für Frieden und Demokratie (BDP) sowie Menschen, die die politische
Sicht dieser Partei teilen, in Massen festgenommen und inhaftiert.
Trotz der offiziellen Gewaltenteilung in der Türkei gibt der türkische
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze der Legislative
öffentlich Anweisungen für diese Operationen und verlangt die Fortsetzung
der repressiven Maßnahmen. In deren Rahmen sind bis heute annähernd
8 000 Menschen festgenommen und 4 000 von ihnen in Untersuchungshaft
überführt worden. Unter den Inhaftierten befinden sich 5 Parlamentsabgeordnete,
15 BürgermeisterInnen und zahlreiche Intellektuelle, SchriftstellerInnen,
JournalistInnen und PolitikerInnen.
Die Absurdität dieses politischen Genozids nimmt mit jedem Tag zu. So
werden Menschen festgenommen, weil sie an einer legalen Demonstration
teilgenommen haben, weil sie Transparente getragen haben, auf denen
sie ihre Forderung nach Frieden bekundeten, weil sie die Gewaltpolitik
der Regierung kritisiert oder gegen die staatliche Repression Widerstandswillen
demonstriert haben. Der Wunsch der Inhaftierten, ihre Verteidigung in
ihrer Muttersprache Kurdisch zu führen, wurde abgewiesen. Und dies,
obwohl die AKP-Regierung bei jeder Gelegenheit überall auf der Welt
propagiert, das Verbot der kurdischen Sprache aufgehoben zu haben.
Isolationshaftbedingungen
gegen Abdullah Öcalan verschärft
Ebenso hielten auch in den letzten zwei Monaten die verschärften Isolationshaftbedingungen
des kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan an. Seit vier Monaten
werden die AnwältInnen- und Familienbesuche auf der Gefängnisinsel Imralı
mit lächerlichen Begründungen verweigert. Die internationalen Mächte
und die türkische Regierung wollen mit dieser Methode Herrn Öcalan neutralisieren.
So soll verhindert werden, dass er konstruktiv in den politischen Prozess
eingreifen kann. Aber der Einfluss Öcalans auf die kurdische Bevölkerung
und ihren Freiheitskampf wächst stetig mit seiner Haltung in der Einzelzelle,
seiner geistigen Produktivität und seinem starken Willen. Der türkische
Staat versucht mit der verschärften Isolation und systematischen Folter
gegen Herrn Öcalan und nicht zuletzt auch mit der Festnahme seiner 36
AnwältInnen, den Willen der kurdischen Freiheitsbewegung zu brechen
und sie zur Kapitulation zu zwingen. Öcalan hatte zuvor erklärt: „Ich
werde hier als Geisel festgehalten“, und auf die mögliche Repressionspolitik
der AKP hingewiesen. Das ist der Grund für die strategische Feindschaft
gegenüber dem kurdischen Volksvertreter Öcalan.
Vor einigen Monaten wurden Ausschnitte der seit drei Jahren sporadisch
laufenden Gespräche zwischen Abdullah Öcalan auf Imralı sowie VertreterInnen
der kurdischen Befreiungsbewegung PKK einerseits und des türkischen
Staates andererseits im Internet veröffentlicht. Die AKP-Regierung stellte
vor drei Monaten diese Gespräche einseitig ein und brachte ihre Kriegspolitik
erneut auf die Tagesordnung. Dabei waren die Forderungen der kurdischen
Seite in diesem Dialog und den Verhandlungsgesprächen äußerst vernünftig
und akzeptabel gewesen. Während dieser Dialogphase wurden von Herrn
Öcalan drei Protokolle zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage sowie
zur Demokratisierung der Türkei ausgearbeitet. Als die AKP-Regierung
ihre Haltung zu diesen Protokollen – die den Weg für eine dauerhafte
Waffenruhe und letztlich die endgültige Niederlegung der Waffen ebnen
sollten – darlegen sollte, wurden die Gespräche auf Anweisung des Ministerpräsidenten
abrupt eingestellt.
Zweifellos, weil die AKP-Regierung erkennen musste, dass sie die KurdInnen
mit dieser Methode nicht betrügen und zur Kapitulation bewegen kann.
Vor diesem Hintergrund nahm sie einen Strategiewechsel vor und setzte
erneut auf Krieg. Dieser Beschluss wurde im Zusammenhang mit den internationalen
wie auch regionalen Entwicklungen beschleunigt. Erinnern wir uns an
die Geschehnisse im Jahre 2000. Auch damals fanden Gespräche statt zwischen
Öcalan und dem Staat. In deren Folge erklärte die PKK als Zeichen des
guten Willens einen einseitigen Waffenstillstand und zog trotz des Verlustes
von Hunderten von Menschen ihre bewaffneten Einheiten hinter die türkischen
Staatsgrenzen zurück. Mit dem Anschlag vom 11. September 2001 begann
dann unter der Führung der USA die Phase „Kampf gegen den Terrorismus“.
Die Türkei sah diese Entwicklung als ihre „Chance“, mit internationaler
Unterstützung und mit dem Ziel der militärischen Vernichtung erneut
gegen die kurdische Freiheitsbewegung vorgehen zu können. Erst daraufhin
wurde die Friedensphase beendet und an ihrer Stelle der Kriegsbeschluss
gefasst. Um eine ähnliche Situation handelt es sich auch gegenwärtig.
Die westlichen Mächte, allen voran die USA, die die Entwicklungen in
der Region mitsamt den Volksaufständen zu ihren Gunsten gestalten wollen,
haben der AKP-Regierung im Rahmen ihrer Politik eine Mission zugewiesen.
Die türkische Regierung sieht darin erneut die Gelegenheit, als Gegenleistung
mit internationaler Unterstützung die kurdische Befreiungsbewegung liquidieren
und die Statusbestrebungen der KurdInnen zum Scheitern bringen zu können.
Diese Kalkulation steckt hinter dem Scheitern der jüngsten Dialog- und
Verhandlungsphase.
Was
bezweckte Erdoğan mit seiner Dersîm-Erklärung
Wie aber ist bei dieser Entwicklung die Erklärung Erdoğans zu Dersîm
einzuordnen? Ende 2011 entschuldigte er sich halbherzig als türkischer
Ministerpräsident wegen des Dersim-Genozids von 1937/38, bei dem annähernd
80 000 Menschen auf barbarische Weise massakriert worden waren. Dieser
Schritt wurde international als ein Wendepunkt in der Geschichte der
türkischen Republik begrüßt. Diese Entschuldigung kann jedoch in keiner
Weise als eine Konfrontation der Republik Türkei mit ihrer Geschichte
und darin mit ihrer begangenen Schuld gewertet werden. Es war vielmehr
ein taktischer Schritt – eine Maskerade – bei den gegenwärtigen Bemühungen,
die kurdische Freiheitsbewegung zu liquideren. Sie erhofft sich mit
dieser Taktik, ihre faschistische Vorgehensweise sowie den politischen
und kulturellen Genozid an den KurdInnen zu verschleiern und das eigene
Image aufzupolieren. Die begangene historische Schuld zur Sprache zu
bringen heißt nicht, sich momentan von denselben Praktiken distanziert
zu haben. Denn auch heute ist das Ziel der Türkei die Liquidierung der
kurdischen Bewegung samt Führung.
Diese Entschuldigung des Herrn Tayyip Erdoğan ist vor dem Hintergrund
seiner immer gleichen Rufe nach „einer Nation, einem Staat, einer Heimat,
einer Sprache, einer Fahne“ zu verstehen. Eine Entschuldigung für damals,
aber nicht für heute, wo weiterhin um jeden Preis versucht wird, die
türkische Staatsideologie in Kurdistan zu installieren und die Identität
und das Selbstverwaltungsrecht des kurdischen Volkes zu unterbinden.
Denn der Dersîm-Widerstand diente den KurdInnen als Mittel zur Erlangung
ihrer Identität und ihrer Selbstverwaltung. Schließlich hatte während
der osmanischen Herrschaft eine regionale Autonomie im kurdisch besiedelten
Gebiet bestanden. Mit Gründung der Republik Türkei wurde der Wunsch
nach Selbstverwaltung als Gefahr für die Einheit des Staates blutig
niedergeschlagen.
Der Genozid in Dersîm, wie auch die anderen Massaker zwischen 1925 und
1940, wurden zwischen 1940 und 1984 von einer progressiven Assimilations-
und Türkisierungspolitik abgelöst. Mit dem Krieg gegen die PKK ab 1984
wurden die KurdInnen mit viel härteren Mitteln zu türkisieren versucht.
Bei der aktuellen Türkisierungspolitik der AKP-Regierung ist auf deren
Beziehungen zur Gülen-Bewegung zu verweisen (Fethullah Gülen lebt in
den USA und unterstützt die AKP-Regierung). Gülen hat einen großen Einfluss
auf die Regierung und auf den Staat. Eine kürzliche Internetansprache
Gülens sowie die bisherige Praxis dieser Bewegung lassen Gülens Ziel
erkennen, die Menschen durch den politischen Islam zu türkisieren. Doch
weil das bisher nicht geschafft worden ist, können sie die kurdische
Identität nicht ganz leugnen. Sie wollen die KurdInnen rhetorisch anerkennen,
vordergründig, sie aber gleichzeitig an der Fortentwicklung des türkischen
Nationalismus beteiligen.
So buhlen sie mit unterschiedlichsten Mitteln um die KurdInnen. Bei
den einen mit dem Islam, den anderen mit wirtschaftlicher Abhängigkeit,
bei wiederum anderen über politische Wege. Doch jenen, die sich dieser
Politik widersetzen, begegnen sie mit polizeilicher und militärischer
Repression, wie Verhaftungen, Ermordungen, Erpressungen und nicht zuletzt
dem Einsatz chemischer Waffen. Erdoğan entschuldigt sich oberflächlich
für die Vergangenheit, jedoch nicht für die mit internationalem Rückhalt
und mit viel raffinierteren und umfassenderen Methoden geübte gegenwärtige
Praxis. Darum hat er auch alle Lösungsvorschläge der PKK und des kurdischen
Repräsentanten Abdullah Öcalan zurückgewiesen.
AKP-Regierung
zu keiner Lösung bereit
Mit der Verhaftung Dutzender AnwältInnen und MenschenrechtlerInnen sind
die Wege eines Dialogs endgültig versperrt worden. Und das in dem Bewusstsein,
dass es ohne Dialog und ohne die Einbindung Abdullah Öcalans nicht zu
einer Lösung kommen kann.
In Anbetracht der genannten Fakten ist auch augenfällig, dass die AKP
zu keiner Lösung bereit ist, die die kurdische Identität anerkennt und
kollektive Rechte für das kurdische Volk vorsieht.
Zum Schluss wollen wir noch anmerken, dass internationale Mächte die
Situation in unserem Heimatland näher beobachten und jeder dieser Staaten
mit Blick auf die eigenen Interessen zu intervenieren versucht. Aus
dieser Sicht wird die Region als Ganzes neu strukturiert und gestaltet.
Der Status quo ändert sich und es entwickelt sich in der Region eine
neue Balance. Bei diesen Veränderungen spielen auch die KurdInnen, als
starke und wichtige Akteure, eine umfassende Rolle. Darum beanspruchen
auch sie in dieser Phase das Recht auf Anerkennung ihrer Identität.
Es gibt keinen Grund, warum KurdInnen nicht als Sieger aus dieser Situation
hervorgehen sollten. Sie sind zuversichtlich. Das erkennt auch der türkische
Staat, darum versucht er auf der einen Seite den Widerstand der PKK
zu brechen und auf der anderen Seite Südkurdistan einzukreisen und unter
Druck zu setzen. Die Türkei setzt das kurdische Volk unter Druck, um
ihm ihre Lösung aufzuzwingen. Darum sind die militärischen Operationen
gegen die PKK als Krieg gegen alle KurdInnen in allen vier Teilen Kurdistans
zu verstehen.