Die Menschen wollen ihre Grundrechte und ihre Freiheit ...

Frühling der Völker im Nahen Osten

Ferda Çetin, Journalist und Rechtsanwalt, 25.03.2011

Die im Nahen Osten und in Nordafrika andauernden Ereignisse sind als eine Ohrfeige für die „Vertreter Gottes auf Erden“ zu deuten. Diesen Widerstand kann man als eine Bankrotterklärung des staatszentrierten Herrschaftssystems bezeichnen. Vor allem auch darum, weil das nordafrikanische Staatsmodell keine afrikanische Herkunft hat. Die sich auf eine ethnische Gruppe berufenden 23 Staaten im Nahen Osten sind nicht die Folge der Bedürfnisse und des freien Willens der Menschen. Ganz im Gegenteil sind sie die Folge einer mit dem Lineal gezogenen Aufteilung durch die USA, England, Frankreich, Italien, Holland und Belgien. Aus diesem Grund hat Großbritannien die „imperialistische Monarchie“ in diesen Staaten noch mehr gefördert als in Großbritannien selbst.1 Obwohl die gestürzten Regime einen Namen, eine eigene Administration und ihre Besonderheit hatten, waren sie dennoch treue und kooperative Monarchien des Westens.

Wenn es richtig ist, dass der Staat, wie Proudhon sagte, etwas Fatales ist, dann stellt sich die Aufgabe für jedes freie Individuum sowie für die politisch-moralische Gesellschaft, diese Fatalitäten ausschließlich in Bibliotheken und Museen zu bewahren. Die seit Jahren in Kurdistan stattfindenden Volkssaufstände, die sich heute über den Nahen Osten verbreitet haben, sind gewiss als eine Erfüllung dieser Mission zu deuten. Damit der Staat in Museen, Bibliotheken und Archiven eingeschlossen werden kann, ist es eine Pflicht für alle Bürger, auf die Straße zu gehen, um ihre Stimme zu erheben.
Das Ziel des Systems war es, den Willen des Volkes durch das Monopol der Parlamente, Regierungen, professionalisierten Politiker, Akademiker sowie Gesellschaftsingenieure und Kolumnisten zu ersetzen. Damit der Wille der Menschen wieder durch die Gesellschaft artikuliert werden kann, muss diese in politischen Prozessen aktiv mitbestimmen. Darum wäre es ein großer Irrtum, die Volksaufstände als einen spontanen Reflex zu bezeichnen. Tatsächlich handelt es sich um einen verspäteten legitimen Anspruch. Die Menschen wollen ihre Grundrechte und ihre Freiheit, die ihnen durch den Übergang von der natürlichen Gesellschaft zu Herrschafts- und Staats­systemen geraubt wurden, wiederhaben.2
Der seit mittlerweile zweihundert Jahren im Nahen Osten eingerichtete Nationalismus und der Nationalstaat haben, entgegen den Behauptungen, die nationalen Fragen nicht lösen können. Ganz im Gegenteil wurden die Probleme dadurch größer und der gesellschaftliche Zusammenhalt wurde aufgelöst.

Die Gesellschaft konnte die aktuelle Situation nicht mehr länger ertragen, in der eine Teilhabe der Menschen am politischen Geschehen verhindert, die gesellschaftliche Ethik durch das Staatsrecht und die Interessensartikulation durch die Staatsgewalt ersetzt wurden. All diese Ereignisse können als globaler Widerstand einer politisch-moralischen Gesellschaft gegen ein an Individualismus, Egoismus, Materialismus und Konsum orientiertes System gesehen werden. Die Gesellschaft will ihre geraubten politischen Rechte zurückhaben und sie anhand ihrer Interessen einsetzen.
Die sich immer mehr ausbreitenden Aufstände sind als Widerstand gegen den auch als „Globalisierung“ bezeichneten Imperialismus und als Niederlage der Feinde der Gesellschaft und der Gesellschaftlichkeit zu bewerten. Margaret Thatcher sagte vor Jahren: „Es gibt keine Gesellschaft.“ Denn für sie gab es nur Männer und Familien.3
Die Botschaft, die uns alle Volksaufstände vermittelt haben, lautet, dass diese globale Arroganz eine verdiente Antwort bekommt. Auch das Selbstverständnis, dass es keine alternativen Herrschaftssysteme zum Kapitalismus und zur liberalen Demokratie gibt und dass die imperialistischen Partner USA und EU, entgegen den Interessen der Gesellschaft, besetzen, ausbeuten und ausplündern können, ist zunichtegemacht worden.
Verloren haben weder Husni Mubarak noch Zeynel Abidin Bin Ali, denn beide waren vierzig Jahre lang die treuesten Verbündeten der EU. Die Aufstände sind vielmehr als eine Bankrotterklärung für die Politik der USA und Europas zu werten. Bis zum Tag ihrer Niederlage wurden diese Diktaturen vom Westen als gemäßigtes und laizistisches Islam-Modell gegen den sich entwickelnden radikalen Islam unterstützt. Weil diese Diktatoren für die USA, Großbitannien, Frankreich sowie Deutschland und Italien gute Kunden waren, wurden der gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Staatsterror, die Repressalien und Morde von jeher gutgeheißen. Der Großteil der Bevölkerung lebte unter der Armutsgrenze und unterdessen kauften die Diktatoren von der Hälfte des Staatsbudgets Kriegsflugzeuge, Panzer, Granaten und andere Waffen; sie waren „gute Kunden“. Durch den Widerstand im Nahen Osten sind den Waffenhändlern treue Kunden abhandengekommen.
Aktuell versuchen USA und EU, der Öffentlichkeit ein anderes Bild vorzugaukeln und die Geschehnisse der letzten vierzig Jahre umzudeuten. Sie handeln, als wären sie nicht die Unterstützer dieser Diktaturen gewesen, und als sie sahen, dass sie ihre Herrschaft nicht mehr auf diese stützen können, fingen sie an, über „Reformen“, Demokratie und Mitspracherecht der Bevölkerung zu reden. Sie unterschätzen wohl das Erinnerungsvermögen des Volkes und wollen ihr sittenwidriges Verhalten vertuschen. Wo wart ihr denn in den letzten vierzig Jahren, fragt man sich.
Die Angriffe der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der anderen Staaten sind nicht als eine Befreiungsinitiative für die Menschen in Libyen zu verstehen. Vielmehr ist dieser Einsatz vor dem Hintergrund der Knappheit der Erdölressourcen zu sehen und muss als der letzte imperialistische Feldzug verstanden werden. Das ist auch der Grund, warum Frankreich vor den USA versucht hat, Libyen zu besetzen: um nach der Aufteilung Libyens ein größeres Stück vom Kuchen abzubekommen.
Die Tatsache, dass sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat in der Diskussion um die Besetzung Libyens der Stimme enthalten hat, ist weniger vom Respekt für die nationalstaatliche Souveränität oder der moralischen Verpflichtung den Menschen gegenüber motiviert, sondern von dem Umstand, dass 19 % des libyschen Ölexports nach Deutschland verkauft werden.

Das sich mit dem Begriff der „Globalisierung“ tarnende imperialistische System versucht, seine Krise und Ausweglosigkeit wie eh und je durch Tyrannei und Besetzung zu überwinden.
Weil in der jetzigen Zeit die durch die Globalisierung unterstützten großen Unternehmen immer mehr Umgestaltungen auch gegen die Interessen der Menschen in den ärmeren Ländern durchsetzen wollen, brauchen sie, um möglichen Aufständen vorzubeugen, regionale, nach Möglichkeit autoritäre Regierungen, die in einer internationalen Konföderation koordiniert werden.4
In dieser Phase ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, vor allem auch die Position der Vereinten Nationen genauer unter die Lupe zu nehmen, die ja nur ein Sprachrohr der USA sind. Die UN, die jahrzehntelang den Verbrechen der genannten Diktatoren am Volk zugesehen und dagegen weder einen nennenswerten Beschluss gefasst noch eine Resolution verabschiedet haben, fungieren gegenwärtig als Beobachter der imper­ialis­tischen Besatzungs- und Invasionspläne.
Bakunin spricht von drei Entwicklungsphasen des Menschen: Tiersein, Denken und Aufstand … Cemil Meriç [türk. Intellektueller, 1916–87] ergänzt: „Eine widerstandslose Gesellschaft ist wie eine namenlose Herde, die gemeinsam grast und wiederkäut … Architekten der Geschichte sind jene, die Widerstand gegen das Schicksal, die Zeit und die Menschen leisten.“5

Die Geschehnisse in Kurdistan und im Nahen Osten sollte man vor diesem Hintergrund betrachten. Die Menschen kämpfen für ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Freiheit gegen lokale Diktatoren und Imperialisten, die die Individuen und die Gesellschaft ihrer Willenskraft berauben und sie zum Spielball ihrer politisch-wirtschaftlichen Machtinteressen machen wollen. „Der Frühling der Völker im Nahen Osten“ hat begonnen.

Quellen:
(1) Eric Hobsbawm, Terence Ranger: Geleneğin İcadı, Agora Kitaplığı 2006, S. 246
(2) Abdullah Öcalan: Ortadoğu’da Uygarlık Krizi, A. Ö. Sosyal Bil. Ak. Yayınları 2010, S. 295
(3) Zygmunt Bauman: Siyaset Arayışı, Metis 2000, S. 39
(4) Arundhati Roy: Çekirgeleri Dinlemek, Agora Kitaplığı 2009, S. 78
(5) Cemil Meriç: Bu Ülke, İletişim Yayınları 2004, S. 214