Aus der Asche verbrannter Erde
Die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft und Kultur, Teil III (Ende)
Von Dr. Mehrdad Izady

Um 1500 gab es zahlreiche unabhängige und autonome kurdische Königreiche und Fürstentümer. Einige von ihnen bildeten gut organisierte Staatswesen mit eigener Währung und einer Hunderte von Jahren lange dynastischen Geschichte. Kein Staat jedoch zeigte irgendeinen Hang zur Vereinigung Kurdistans. Darin ähnelte Kurdistan dem Deutschland vor 1871, als viele Kleinstaaten neben größeren Königreichen existierten, die alle deutscher Ethnizität waren aber wenig Interesse zeigten, zu einem vereinten Deutschland zu verschmelzen. Dies wurde nur durch Gewalt des stärksten Staates, Preußen, erreicht. “Bedauernswerter Weise“ gab es keine erfolgreiche kurdische Entsprechung zu Preußen, obwohl es viele Staaten Kurdistans versuchten und einige wenige zumindest dem Ziel der kurdischen Einheit sehr nahe kamen.
Der Aufstieg des Safaviden- und des Omanischen Reiches in der Region im 16. Jahrhundert und ihre Teilung Kurdistans in zwei ungleiche abhängige Gebiete war der Beginn ähnlicher Praktiken der folgenden Jahrhunderte. Ihre Einführung schwerer Artillerie und einer andauernden Politik der staatlich geförderten systematischen Zerstörung von Leben und Lebensmöglichkeit in Kurdistan stellte eine neue und vernichtende Entwicklung dar.
Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurden weite Teile Kurdistans systematisch verwüstet und eine große Zahl Kurden in die letzten Ecken des Safaviden- und des Osmanischen Reiches verschleppt. Diese Zerstörung war nicht etwa Folge gewöhnlicher Kriegsoperationen, sondern ein Produkt der strategischen Politik, bekannt als “Verbrannte Erde”. Das ist ein militärisches Unternehmen eines schwächeren Staates gegen das Vordringen eines stärkeren zu Beginn eines Krieges. Es beinhaltet die Zerstörung aller Geräte und Ressourcen, die von der vordringenden Armee verwendet werden könnten. Ihre geringere Schlagkraft gegenüber der aggressiven osmanischen Seite erkennend, zerstörten die persischen Safaviden Brücken, Straßen, Dörfer, Ernten, Wälder, Wasserspeicher und Brunnen sowie ganze Städte. Die Einwohner wurden danach zusammengetrieben und massenhaft gezwungen, nach Persien zu marschieren. Das Schlachtfeld bestand eben aus Kurdistan und Armenien, und die Hauptlast dieser strategischen Entscheidung wurde natürlich von diesen beiden Völkern getragen. Der blutige Krieg zwischen Safaviden und Osmanen dauerte von 1514 bis 1639, und die Zerstörung wurde regelmäßig wiederholt, um die erneute Besiedlung der Mondlandschaften zu verhindern, die die Safaviden zwischen sich und dem osmanischen Heer brauchten. Nur die widerstandsfähigsten und idealistischsten Nomaden und nomadischen Herren konnten dieser Zerstörung, die 135 Jahre lang anhielt, durch die benachbarten Reiche gegen das zivilisierte Kurdistan entkommen. Und selbstverständlich waren sie es, die schließlich das Land bevölkerten: die härtesten der Nomaden.
Das Ausmaß von Tod und Zerstörung, das über Kurdistan hereinbrach, war tatsächlich schrecklich. Aber dieser Schrecken vermochte es, die Menschen in ihrem Ruf zu vereinen, die imperialen Vandalen von ihrem Land zu vertreiben. Das ständige gemeinsame Leiden erweckte ein kurdisches Gemeinschaftsgefühl - einen Nationalismus.
Es war das erste Mal, dass kurdische Autoren ein vereintes Königreich forderten, um das Land zu beschützen und seine Kultur und Sprache zu stärken. So schrieb der Historiker Bitlisi 1597 die erste pankurdische Geschichte, die Sharafname, und Ahmad Khani, der Sammler und Dichter des Nationalepos’ Mem-o-Zin, forderte 1695 einen kurdischen Staat. Der kurdische Nationalismus war geboren.
Es ist bemerkenswert, dass, entstanden durch von außen verursachten Kummer, die Kurden einhundert Jahre vor den Europäern von der Notwendigkeit eines einheitlichen kurdischen nationalen Staates - einem “Nationalstaat” - schrieben.
Diese Faktoren - die Änderung der internationalen Handelswege, zerstörerische Kriege und ein ausuferndes Nomadentum - zusammengenommen, kündigten den Anfang vom Ende von vielem der sesshaften und zivilisierten Kultur Kurdistans an, wie sie seit der Mederzeit existiert hatte. Die landwirtschaftliche, auf Städten aufbauende kurdische Kultur und Gesellschaft begann, sich in eine Nomadenwirtschaft unter einer neu angenommenen Identität zu verwandeln. Die nomadisierten kurdischen Bauern nahmen den schafiitisch-sunnitischen Islam der Kurmanj-Nomaden an und begannen, deren Vokabular zu benutzen. Mit der Zeit wurde die ältere kurdische Gesellschaft - ungeachtet ihrer Sprache und Kultur - zu einer Minderheit und an die Ränder Kurdistans gedrängt. Heutzutage sprechen mehr als 75% der Kurden die verschiedenen Dialekte des Kurmanji und eine gleiche Zahl praktiziert den shafiitisch-sunnitischen Islam. Die “Kumanji” assimilierten sozusagen die “Kurden” und nahmen allmählich den alten ethnischen Namen an und beerbten alles, was von der älteren Kultur übrig blieb. Noch bis vor 50 Jahren hätte sich eine große Mehrheiten der Kurden selbst einfach als Kurmanj und ihre Sprache als Kurmanji gesehen. Es waren die Nicht-Kurden und Gebildeten, die daran festhielten, sie einheitlich Kurden nannten, unabhängig ihres Dialektes, ihrer Religion oder ihrer wirtschaftlichen Lage. In den letzten 50 Jahren jedoch wurde der Begriff Kurmanj von der einheimischen Bevölkerung und ihrer Führung unbarmherzig zurückgedrängt und dafür der ehrwürdige Begriff “Kurde” verwendet. Nur in den abgelegensten Gebieten der Berge und der abgetrennten aber bevölkerungsreichen kurdischen Exklave in Khurasan und Turkmenistan gibt sich das einfache Volk aus alter Gewohnheit den Namen “Kurmanji” für ihre ethnische Zugehörigkeit. Aber auch dort verschwindet diese Orientierung durch den Einfluss der gebildeten Kurden.
Es gibt eine starke Wechselbeziehung zwischen dem Praktizieren der alten Yazdani-Religion und der pahlawanischen Sprache, und es gibt außerdem eine enge Verbindung zwischen dem Islam und der Kurmanji-Sprache. Der Wechsel von der früheren zur späteren Identität in Kurdistan beschleunigt sich und scheint dazu auserkoren, die restliche Pahlawani-Yazdani-Identität des älteren Kurdistans ganz zu verschlucken. Nur eine schrumpfende Anzahl von Kurden spricht noch Pahlawani in Form der Dialekte Dimili (Zaza) im nordwestlichen Kurdistan in der Türkei sowie Gurani, Laki und Hewramani (Awramani) im südöstlichen Kurdistan im Iran und Irak. Die alte Religion des Yazdanismus wird noch als Alevismus, Yezidismus und Yarisanismus (das Ahl-i Haqq) praktiziert, aber auch sie schrumpfen in Anzahl der Anhänger und infolge von Übertritten.
Ein Mal noch entstand ein großkurdisches Reich, und zwar das der Zands um 1750. Wie die mittelalterlichen Ayyubiden setzten die Zands ihre Hauptstadt und den größten Teil ihres Herrschaftsgebietes außerhalb Kurdistans und verfolgten keine Politik zur Vereinigung der kurdischen Nation.
Der Zerfall der osmanischen Staatsgewalt - angezeigt durch die faktische Unabhängigkeit Ägyptens und Arabiens - überzeugte die alten autonomen Fürstendynastien inzwischen, ihre volle Unabhängigkeit zu erlangen. Die erste von ihnen war das Fürstentum von Soran (Zentralkurdistan). In den frühen 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, begann ein Sprössling der Reandiden-Dynastie, Dostakid Fürst Muhammad, ein unabhängiges Königreich Kurdistan zu errichten. In seiner Hauptstadt Rewanduz errichtete er Gießereien, um Gewehre und Artillerie anzufertigen. Er ermöglichte es so seiner Armee, 1834 einen gewaltigen Sieg gegen die osmanischen Kräfte zu erringen, die den preußischen Offizier Helmuth von Moltke (später General und Eroberer von Paris, 1871) mitführten. Fürst Muhammads Herrschaft umfasste bald das gesamte mittlere Kurdistan, einschließlich Arbil und Kirkuk, wo Recht und Ordnung die Oberhand gewannen.
Ein zeitgenössischer Besucher, J. Baillie Fraser, beschrieb “den großen Unterschied, der zwischen türkischen und kurdischen Territorien zu sehen ist. Im ersteren waren alle Dörfer verlassen, die Einwohner haben sich auf die Flucht begeben vor den Steuereintreibern der Regierung ... Auf der anderen Seite erreichte man Altoun Kupree [an der Grenze] nicht eher, als alle Menschen bereits herausströmten, Blumen an ihren Köpfen wie an Feiertagen, sangen und jubelten ... Sie waren von keinem Land für die Versorgung ihrer Bedürfnisse abhängig außer ihrem eigenen. Alles, was sie verlangten, wurde zuhause produziert, und während ihre Berge uneinnehmbare Verteidigungen gegen fremde Invasoren bildeten, erwirtschafteten ihre rauen Hänge und Täler mit wenig Anstrengung von allem reichlich, dass sie anzubauen begehrten, und spendeten einen nie endenden Vorrat an Holz, Wasser und Weideland.”
Fürst Muhammads Unternehmen wurden abgebrochen als ein lokaler Grand-Mullah bestochen wurde, 1836 ein religiöses Gesetz zu erlassen, das den moslemischen Kurden verbot, gegen den osmanischen Kalifen zu kämpfen. Von allen verlassen, ergab sich Fürst Muhammad und wurde in Gefangenschaft in Trabzon im folgenden Jahr ermordet.
Mit dem Fall Sorans verfolgte das benachbarte Fürstentum Jezira (heutiges Cizre) unter Bokthi Fürst Badir (1802-1868) dasselbe Ziel, indem es Verbindungen mit anderen kurdischen Fürstenhäusern in Muks, Bitlis, Bayazid, Hakkari und selbst Ardalas in Persien schuf und den Einfluss seiner Dynastie auf fast das ganze osmanische Kurdistan ausdehnte (1840). Zu seinen verschiedensten Untertanen konnte Badir auch die christlichen Armenier, Assyrer und chaldischen Bewohner Kurdistans zählen. Wachgerüttelt von der Bedrohung durch Fürst Badir und anderer kurdischer Herrscher sowie den ägyptischen Khediv, Muhammad Ali, und den Verlust des Iraks an georgische Mameluken, erbaten die Osmanen endlich Hilfe von den europäischen Mächten. Mit militärischer Unterstützung durch Preußen, einschließlich Training und schweren Geschützen, warfen die Osmanen ihre gesamten Kräfte gegen die entstehenden kurdischen Staaten. Sie siegten 1848 nach drei Jahren totalen Krieges und erreichten die Übergabe aller kurdischen Hauptstädte. Jezira/Cizre, die alte und wundervolle Hauptstadt der Bokthi-Fürsten, wurde buchstäblich pulverisiert und endete in einem gewaltigen Abschlachten ihrer Einwohner.
Im Jahr 1867 wurde das Haus von Ardalan, das letzte autonome kurdische Fürstentum in Persien, auf ähnliche Weise vernichtet. Das erste Mal in der Geschichte errichteten ausländische Reiche eine direkte Herrschaft im gesamten Kurdistan durch ernannte Gouverneure. Der Verlust der Unabhängigkeit und/oder Autonomie der kurdischen Provinzen verursachte ein politisches Durcheinander in einem Land, das den wirtschaftlichen und materiellen Verlust der kurdischen Gesellschaft ausgleichen sollte. Das war die Zeit, die verursachte, dass alte, wertvolle Ackerpflanzen wie die Baumwolle nicht mehr in ausreichenden Mengen in Kurdistan angebaut wurden. Der für die Pflanzung und den Schutz der jungen Pflanzen benötigte Frieden und die notwendige Sicherheit und auch der notwendige hohe Einsatz, um die hitze- und wasserliebenden Pflanzen zu bewässern waren nicht mehr vorhanden. Die nomadischen Hirten, deren Schaf- und Ziegenherden die größeren Ackerflächen verwüsteten, sorgten für eine große Menge qualitativ hochwertiger Wolle fürs Weben. Während kurdisches Tuch aus Baumwolle gemeinsam mit den Baumwollfeldern verschwand, konnten teure Wollprodukte die hinterlassene Lücke nur teilweise füllen. Die gesamte gebildete Ober- und Mittelschicht des Volkes - oder was davon noch übrig war - verschwand nach dem Fall der Fürstentümer schnell aus Kurdistan. Mit ihnen ging der lokale Bedarf an Luxusgütern und edlen Teppichen. Was noch von den bilderreichen Webschulen von Senna/Senandaj und Garrus/Bijar übrig blieb, war zu Beginn des 20. Jh. größtenteils zerfallen.
Die politische Teilung Kurdistans und ihre negativen Folgen für die Entwicklung der kurdischen Kultur wurde nach Ende des ersten Weltkrieges nur noch verstärkt, indem Kurdistan folgenreich in fünf voneinander isolierte Teile aufgespalten wurde.
Als Folge des ersten Weltkriegs zerlegten die Sieger die Reiche der Verlierer, wie z.B. das osmanische und das österreichische. Der Vertrag von Sevres (am 10. August 1921 unterzeichnet) sah einen unabhängigen kurdischen Staat vor, der einen kleinen Teil des ehemaligen osmanischen Kurdistans abdecken sollte. Ein größerer Teil - eigentlich das gesamte Nordkurdistan von Van bis Ardahan und von Bitlis bis Bayezid - sollte Bestandteil eines geplanten unabhängigen Armeniens werden. Nichts davon wurde tatsächlich realisiert. Die einheimischen Forderungen nach Unabhängigkeit ignorierend, teilten Frankreich und Britannien die ehemaligen osmanischen Gebiete nach ihren eigenen Interessen auf, es entstanden die neuen Staaten Türkei, Syrien und Irak. Der Vertrag von Lausanne (am 24. Juni 1934 unterzeichnet) machte diese Teilung rechtskräftig. Die Kurden Persiens/Irans und Russlands/UdSSR wurden von Teheran und Moskau dort gelassen wo sie vorher waren. Lausanne zerschlug die kurdischen Hoffnungen auf Unabhängigkeit für den Rest des 20. Jahrhunderts. Die Ziehung gut bewachter, Kurdistan teilender Staatsgrenzen haben der kurdischen Gesellschaft seit 1921 solch eine Zersplitterung beschert, dass die kurdische Einheit als Nation auseinander gerissen ist. Die moderne Geschichte hatte in Kurdistan begonnen, und der Lauf der Ereignisse würde zeigen, dass er nicht nur kein Glück für die Kurden bedeutete, sondern auch die alte safavidische Politik der “Verbrannten Erde” sie wieder heimsuchen sollte.
Mit der Einführung moderner Kommunikationssysteme in die kurdische Gesellschaft, hat sich die Entwicklung der kulturellen und ethnischen Homogenisierung der Kurden unvermeidbar beschleunigt. Der letzte Schritt in der Entwicklung der kurdischen kulturellen und ethnischen Identität ist heute fast komplett. Die kurdische Identität ist damit auserkoren, die Kurmanji sprechenden, shafiitischen Moslems einzugliedern, die letzte hinzuzufügende Schicht, die mit den anderen kombiniert, das ausmachen, was die Kurden heute sind: die Nachfahren von Jahrtausenden kultureller und genetischer Entwicklung der einheimischen Bevölkerung des Gebirgsmassivs von Zagros und Taurus.

Zahlen aus kurdischer Geographie, Kultur, Geschichte und Gesellschaft

Das weite kurdische Heimatland ist mit über 230.000 Quadratmeilen so groß wie etwa die Fläche von Deutschland und Großbritannien zusammen oder die der beiden Staaten Kalifornien und New York. Es gibt außerdem zwei große Exklaven in Zentral- und dem nördlichen Zentralanatolien/Türkei sowie in Khurasan im nordöstlichen Iran und südlichen Turkmenistan.
Kurdistan besteht hauptsächlich aus den Berggebieten des zentralen und nördlichen Zagros, dem östlichen Drittel von Taurus und Pontus und der nördlichen Hälfte der Amanuszüge. Die Symbiose zwischen den Kurden und ihren Bergen ist so stark gewesen, dass sie ein Synonym füreinander geworden sind: die Heimat der Kurden endet wo die Berge enden. Die Kurden haben als eigenes Volk nur überlebt, wenn sie in den Bergen lebten.
Das Land, einst mit Wäldern bedeckt, wurde immer mehr gerodet, vor allem im 20. Jahrhundert, mit den unumkehrbaren Folgen von Erderosionen und dem Austrocknen der Landschaft. Im Gegensatz zu dem großen angerichteten Schaden an den Waldgebieten bleibt das Weideland in einigermaßen gutem Zustand und wird auch weiterhin eine fruchtbare Quelle für die Viehzucht sein. Die reichen Grasländer waren schon immer parallel zu einer grundsätzlichen Landwirtschaft der nomadischen Weidewirtschaft zuträglich. Trotz seiner gebirgigen Landschaft sollte Kurdistan nicht mit einer trostlosen hochgelegenen Wüste verwechselt werden. Tatsächlich hat es proportional mehr bebaubares Land als fast jedes andere Land des Nahen Ostens. Ausgedehnte Flusstäler sorgen für ein fruchtbares Landgitter in Kurdistan.
Bis ins 20. Jahrhundert hat die bergige Landschaft Kurdistans wie eine natürliche Festung eine fremde Invasion und Vorherrschaft über das Land und seine Gesellschaft außerordentlich erschwert. Sie hat aber auch die Integration und Vereinigung der Kurden in eine einheitliche Gesellschaft mit einer einheitlichen Sprache, Religion, ethnischer Zugehörigkeit, künstlerischer Tradition und eine einheitliche Politik verhindert. Die kurdische Gesellschaft lässt sich in ihrer Verschiedenheit besser begreifen als in ihrer Einheitlichkeit. Es ist paradox: die Berge haben mit ihrer isolierenden Wirkung die Kurden zu einer großen identifizierbaren Nation vor undenkbarer Zeit vereinigt, Berge in ihrer rauen Unzugänglichkeit haben die kurdische Gesellschaft in eine Heterogenität zersplittert, wie kaum in einer anderen traditionellen Gesellschaft.
Das wichtigste Merkmal der kurdischen Gesellschaft ist die traditionell starke Klanstruktur. Sie ist aus dem isolierenden physikalischen Charakter des Landes geboren und durch ihn bewahrt worden. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts eingeführten neuen Technologien in Kurdistan, welche den geographischen Hindernissen entgegenstanden - und die Schaffung einer politischen Kultur, die die Unterstützung und Loyalität für eine größere kurdische Nation mit sich brachte - führte zu einem Prozess hin zu einer neuen Stufe gesellschaftlicher Konvergenz. Diese wurde jedoch von den benachbarten Reichen bewusst zerstört, die, von denselben Waffen und technologischen Neuheiten profitierend, die Herrschaft über das zuvor unerreichbare Kurdistan suchten und erreichten. So zurückgedrängt ist die Entwicklung einer kurdischen Nation noch in ihrem Embryonalzustand, und in ihr sind die ausgedehnten Familienklans (sowie Stämme und Stammföderationen) die höchste Form nationaler Organisation, die unter den Bedingungen der Nicht-Unabhängigkeit funktionieren. Heute, mit dem Fehlen eines kurdischen Nationalstaates und Regierung, dienen die Klans als höchste einheimische Quelle von Autorität, der sich die meisten Menschen verpflichtet fühlen. Die politischen Aktivitäten und auch die politische Elite bleiben zu einem großen Grad klanorientiert, solange kaum eine Alternative dazu vorhanden ist. In ihrem Charakter und den historischen Wurzeln sind die kurdischen Familienklans den irischen und koreanischen sehr ähnlich. Sie erhalten die Loyalität ihrer Mitglieder, deren Familienname Gewöhnlicherweise auch der Klanname ist.
Die Kurden sprechen kurdisch, Teil eines nordwestlichen Zweiges der iranischen Sprachgruppe innerhalb der indo-europäischen Sprachfamilie. Kurdisch ist mit dem Persischen verwandt und - im weitesten Sinne - auch mit den europäischen Sprachen. Es ist vollkommen verschieden vom semitischen Arabisch und dem altaischen Türkisch. Während die Berge die letzten zwei- oder dreitausend Jahre die kurdische Sprache vor äußeren Bedrohungen schützten, haben sie ein Babel von kurdischen Dialekten geschaffen, die oft von Kurden aus einer anderen Gegend nicht verstanden werden.
Das moderne Kurdisch teilt sich in zwei Hauptgruppen: 1) die Kumanji-Gruppe und 2) die Pahlawani- (oder Dimili-Gurani-) Gruppe. Sie sind noch einmal in unterschiedliche Dialekte unterteilt. Die am meisten verbreitete Sprache ist Kurmanji (oder Kirmancha), das von drei Vierteln aller Kurden gesprochen wird. Kurmanji ist unterteilt in ein Nordkurmanji (oder dem Hochkurmanji, das ca. 17 Millionen Menschen in der Türkei, in Syrien, Khurasan und der ehemaligen Sowjetunion sprechen) und dem Südkurmanji (auch Sorani genannt, das ca. 7 Millionen Menschen v.a. im Irak und Iran sprechen). Im entfernten Nordwesten Kurdistans entlang der Oberläufe der Flüsse Euphrat, Kizil Irmak und Murat in der Türkei wird der Dimili-Dialekt von etwa vier Millionen Menschen gesprochen. Es gibt noch einige kleinere Gebiete dieser Sprache in verschiedenen Ecken Anatoliens, des Iraks, des Irans und im Kaukasus. Im südlichsten Kurdistan, in Iran und Irak, wird der Gurani-Dialekt von zwei Millionen Menschen gesprochen. Gurani und seine zwei Hauptdialekte, Laki und Hewramani, ziehen besondere Beachtung durch ihren Reichtum religiöser und säkularer Literatur eines ganzen Jahrtausends auf sich.
Im Irak und Iran hat sich im Südkurmanji (Sorani) eine modifizierte Version des persisch-arabischen Alphabets entwickelt. Die Kurden der Türkei haben vor kurzem eine ausgedehnte Kampagne begonnen, Publikationen in Nordkurmanji (Bahdinani) von Europa aus herauszubringen. Dazu gehört ein abgewandeltes lateinisches Alphabet. Die Kurden der früheren Sowjetunion begannen zuerst im armenischen Alphabet (1920er), dann dem lateinischen (1927), dem Kyrillischen (1945) und jetzt sowohl mit dem lateinischen als auch dem kyrillischen Alphabet zu schreiben. Die Gurani-Dialekte schreiben weiterhin mit dem persischen Alphabet. Dimili wird jetzt in dem selben modifizierten lateinischen Alphabet geschrieben wie das Nordkurmanji.
Drei Fünftel der Kurden, fast alle Kurmanji Sprechenden, gehören heute dem sunnitischen Islam des shafiitischen Ritus an. Es gibt auch einige Anhänger (etwa eine halbe Million) des shiitischen Islam unter den Kurden, hauptsächlich in der Gegend der Städte Kirmanshah, Hamadan und Bijar im südöstlichen und östlichen Kurdistan und der Khurasani-Exklave im nordöstlichen Iran und in Turkmenistan. Der übrige Teil der Kurden sind Anhänger einer der verschiedenen einheimischen Glauben von großem Alter und Einzigartigkeit, mit Varianten und Abwandlungen des alten Yazdanismus (in etwa “Engelsreligion”). Drei Abstammungen, die bis heute davon überlebt haben sind der Yezidismus (im westlichen und mittleren Kurdistan, ca. 2% aller Kurden), Yarsanismus oder Ahl-i Haqq (im südlichen Kurdistan, ca. 13%) und der Alavismus oder Kizil Bash (im nordwestlichen Kurdistan und Khurasan, ca. 20%).
Die überwiegende Mehrheit der Kurden, ob nun Moslem oder nicht, folgen einem der mystischen Sufi-Orden, v.a. dem Bektashi-Orden im nordwestlichen Kurdistan, dem Naqshbandi-Orden im Westen und Norden, dem Qadirir-Orden in Ost- und Zentralkurdistan sowie dem Nurbakhshi-Orden im Süden.
Es gibt außerdem eine Minderheit kurdischer Juden, Christen und Baha’is. Die alte jüdische Gemeinde ist in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr nach Israel ausgewandert, während die christliche Gemeinde sich immer mehr mit den Assyrern und Chaldäern identifiziert.
Unter den Kurden gibt es eine große Breite ethnischer Typen. Einmal eingeführt, ist ein ethnischer Typ oft durch die natürlichen Berggrenzen erhalten geblieben und kaum in anderen Typen aufgegangen oder vermischt worden. Allgemein gesehen sind die Kurden heutzutage Angehörige der ethnischen Mittelmeergruppe mit südeuropäischer und levanthinischer Hautfarbe und Aussehen. Dennoch gibt es zwei weitere ethnische Typen unter den Kurden, wie Besucher des öfteren überrascht feststellen: ein dunkleres, palaeo-kaukasisches Ureinwohnerelement (durch semitische Merkmale verifiziert) und z.T. einen blonden, alpinen Typ im Herzen Kurdistans. Hellblaue Augen (blau, nussbraun, grau, grün und honigfarben) sind nach dem braun die am meisten vertretene Farbe. Die rein schwarze Augenfarbe ist eher selten (und wird von kurdischen Männern geliebt). Die Haare haben meistens einen Braunton, gefolgt von hellem und dann schwarzen Haaren. Die Hauptfarbe ist normalerweise hell und wird etwas dunkler in den Gebieten, in denen die Kurden sich mit der benachbarten Bevölkerung der Ebenen mischten.
Die kurdischen Gebiete, reich an natürlichen Ressourcen und mit natürlichen Verteidigungsanlagen gegen Eindringlinge geschützt, sind die gesamte Geschichte hindurch bevölkerungsreich gewesen. Die Kurden sind heute die viertgrößte ethnische Gruppe im Nahen Osten, nach den Arabern, Persern und Turkvölkern. Mit einer Bevölkerung von ca. 29 Millionen (1995) sind die Kurden zur Zeit die am schnellsten wachsende ethnische Gruppe im Nahen Osten.