Verbrechen
gegen die Menschlichkeit verjähren nicht
Interview mit Oskar Schmid, Mitglied der IUK
Hunderte,
vielleicht Tausende Guerillas wurden durch türkische Militärs, die Militärpolizei
oder den Geheimdienst außergerichtlich hingerichtet. In den letzen Monaten
häufen sich diese Fälle sogar wieder. Auch wurde vor wenigen Monaten
mehrmals offensichtlich Giftgas gegen Guerillas eingesetzt, Guerillas
wurden auch mehrfach und offensichtlich vom Militär postmortal verstümmelt.
Der türkischen Regierung sind diese Fälle bekannt, wenn sie nicht selbst
die Befehle für derartige Grausamkeiten gibt, nimmt sie sie zumindest
billigend in Kauf. Du sagst, jetzt ist die Zeit gekommen, dass die Türkei
zur Rechenschaft gezogen wird, leider wissen wir ja, dass die Türkei
unzählige Male wegen Grausamkeiten verurteilt wurde, was veranlasst
Dich zu der Einschätzung?
Die Zeit ist schon lange gekommen, dass die Verantwortlichen dieses
und vieler anderer Massaker zur Rechenschaft gezogen werden, auch wenn
es noch ein langer Weg bis dahin ist. Es gibt schon so viele Beispiele
von ehemals Unantastbaren, die für ihre Verbrechen zur Rechenschaft
gezogen wurden. Ich möchte nur an den Putschgeneral Augusto Pinochet
aus Chile erinnern, den nur sein tatsächliches oder gespieltes Greisentum
vor der Verurteilung gerettet hat. Oder die Generäle der argentinischen
Diktatur, die nun vor Gericht stehen. Wer hätte so etwas vor zehn oder
zwanzig Jahren für möglich gehalten? Auch in der Türkei selbst gibt
es Beispiele. Das türkische Militär ist nicht mehr per se unantastbar.
Im Zusammenhang mit den Prozessen gegen das Verschwörernetzwerk Ergenekon
sind einige hochrangige ehemals unantastbare Militärs bzw. Ex-Militärs
vor Gericht gekommen. Einen Tag nach dem Verfassungsreferendum vom 12.
September diesen Jahres haben Angehörige von Opfern des Militärputsches
von 1980 offiziell Klage gegen die Putschgeneräle wegen der damals begangenen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Das mag alles nicht sehr
spektakulär erscheinen, es zeigt aber eine Tendenz: Es gibt überall
auf der Welt Gruppen von Menschen, meist Angehörige oder Freunde von
Opfern staatlicher Gewalt, die seit vielen Jahren daran arbeiten, alle
verfügbaren Beweise dieser Verbrechen zu sichern, um – eben wenn die
Zeit gekommen ist – die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Dabei geht es uns nicht um Rache, sondern wir wollen denjenigen, die
sich heute unantastbar fühlen, signalisieren: Niemand ist bis an sein
Lebensende unantastbar und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren
nicht und werden weder vergessen noch vergeben.
Wie geht es Andreas Mutter mit dem Urteil, möchte sie weitermachen?
Die Mutter von Andrea sieht das ähnlich wie wir, dass das türkische
Militär nicht straflos ausgehen darf. Sie will Gerechtigkeit – nicht
nur für sich und ihre Tochter, sondern auch für all die anderen Opfer
und deren Angehörige.
Wisst Ihr, was aus den Gefangenen, den Zeugen dieser militärischen Operation
geworden ist? Sucht Ihr auch noch nach den beteiligten überlebenden
Guerillas?
Wir sind sehr an Kontakten zu den beteiligten überlebenden Guerillas
interessiert. Es geht ja nicht nur um Andrea Wolf, sondern allein bei
diesem einen Massaker gab es viele weitere Todesopfer, deren Angehörige
sicher auch wissen wollen, was genau geschehen ist und wer dafür die
Verantwortung trägt. Darum ist jede Zeugenaussage wichtig. Vielleicht
kann mit Eurer Hilfe ein Kontakt zu diesen Angehörigen zustande kommen?
Wie werden Eure nächsten Schritte aussehen? Welche weiteren juristischen
Möglichkeiten gibt es jetzt noch?
Auch wenn das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
vom 8. Juni 2010 für uns ein Erfolg ist, können wir uns damit nicht
zufriedengeben. Denn die türkische Regierung wird lediglich wegen der
Mangelhaftigkeit und der Ineffizienz ihrer Ermittlungen verurteilt –
und das Urteil ist mittlerweile rechtskräftig. Das Gericht macht jedoch
auch klar, dass es die bisher vorhandenen Beweise für die Verantwortung
der Türkei, bzw. des türkischen Militärs für den Tod von Andrea Wolf
für nicht ausreichend hält, um die Türkei dafür schuldig zu sprechen.
Das Gericht betont aber, dass es unsere Version des Tathergangs für
durchaus plausibel hält. Das heißt für uns, dass wir weitere Beweise
und weitere Zeugenaussagen benötigen, insbesondere von Zeugen, die bereit
und auch in der Lage sind, eine Aussage vor einem deutschen Gericht
zu machen. Die türkischen Behörden müssen aus unserer Sicht die Ermittlungen
wieder aufnehmen. Auch wollen wir die deutschen Behörden dazu bewegen,
ihre Ermittlungen wieder aufzunehmen und ein neues Amtshilfegesuch an
die Türkei zu stellen. Also ist es wie man sieht noch ein langer Weg.