Die
letzten Zeitzeugen des Dersim-Massakers
Deshalb jetzt und immer, damit es nie wieder passiert ...
Deniz Karakaş
„Wir sind unschuldig.
Wir sind Nachfahren von Kerbela.
Es ist eine Schande.
Eine Grausamkeit.
Ein Mord!“
Liebe Dersimer und liebe
Dersim-Freunde,
das waren die letzten Worte von Seyit Riza, bevor er aufgehängt wurde.
Die Geschichte Anatoliens und Mesopotamiens ist gleichzeitig die Geschichte
der Genozide. Dersim 1937–38 ist nur einer davon …
Unsere Geschichten stehen nicht in den Geschichtsbüchern, unsere Geschichten
können Sie auch nicht in den Nachrichten hören. Unsere Geschichten sind
sowohl in den Herzen als auch im Gedächtnis der Überlebenden verankert.
War man ein guter Schmied, so erzählte man es uns, wenn nicht, nahmen
sie es mit ins Grab …
Viele Zeitzeugen und Überlebende von Dersim 1937–38 weilen nicht mehr
unter uns. Es gibt nur noch ganz wenige Zeitzeugen und bald werden diese
auch nicht mehr sein.
Auch wenn wir den Schmerz und das Leid von Dersim 1937–38 nicht miterlebt
haben, haben sie für viele von uns einen großen Stellenwert. Manche
von uns wurden in diese Geschichten hineingeboren, manche wurden mit
Klageliedern in den Schlaf gewogen. Immer noch bekommen die Enkelkinder
die Namen der getöteten Vorfahren. Der Enkel und die Tochter von Seyit
Riza suchen immer noch die Grabstätten ihrer Vorfahren so wie andere
Überlebende und Verwandte auch …
Menschen
ohne Grabsteine
Tausende starben …
Sie kamen und töteten, unser heiliger Munzur floss rot, schwangere Frauen
wurden niedergestochen, Kinder wurden getötet, Menschen in die Flucht
gejagt, Kinder, vor allem Mädchen, wurden verschleppt …
Tausende vertrieben …
Exil, Verleugnung, Unterdrückung, Assimilation …
Wir haben unendliche Klagelieder und Geschichten darüber gehört, aber
haben es in den 72 Jahren nicht geschafft, daraus eine Dokumentation,
ein Archiv zu erstellen. Uns fehlten die Mittel, uns fehlte vielleicht
auch die nötige Kraft.
In den letzten Jahren wurden Bücher darüber geschrieben und einige wichtige
und notwendige Dokumentarfilme erstellt, wie die von Çayan Demirel („38“),
Özgür Fındık („Der rote Stift“), Nezahat und Kazım Gündoğan („Zwei Bündel
Haare – die verschollenen Töchter Dersims“).
Aber es wurde noch nie wissenschaftlich darüber geforscht, dokumentiert
oder archiviert. Dersim 1937–38 sollte auch in Vergessenheit geraten.
Obwohl viele Dokumente über das Dersim-Massaker in den Stadtarchiven
lagern, wurden sie bis heute nicht veröffentlicht. Darüber hinaus wurde
der Massenmord im Jahre 2009 im Parlament sogar von einem Abgeordneten
gelobt und als beispielhaft dargestellt.
Dersim
1937–38 Oral History Project
Wie einige sicherlich schon wissen, hat die „Föderation der Dersim-Gemeinden
e. V.“ (FDG) ein sehr wichtiges Projekt ins Leben gerufen, das „Dersim
1937–38 Oral History Project“.
Mit diesem Projekt wollen wir die Schreie der jungen Mädchen aus Halvori,
die Schreie der Waisenkinder, die Geschichten der in die Flucht getriebenen
Familien, die Klänge der verschleppten Mädchen in die Öffentlichkeit,
in die Welt tragen …
Die „Föderation der Dersim-Gemeinden e. V.“ setzte sich mit allen Mittel
für dieses Projekt ein und wird es auch bis zum Ende unterstützen. Die
Einnahmen aus dem 5. Kulturfestival Gladbeck gingen dieses Jahr deshalb
auch an dieses Projekt.
Es soll apolitisch seinen
akademischen Weg finden und soll nur der Geschichte, der Wahrheit dienen.
Es soll den noch Überlebenden, den Nachkommen, den Enkelkindern und
den kommenden Generationen gewidmet sein. Die kommenden Generationen
sollen Dersim nicht vergessen; damit die mündliche Überlieferung auch
in die schriftliche übergeht, wird in diesem Sommer in Dersim ein Archiv
aufgebaut. Dort werden alle Interviews mit Überlebenden, mit Zeugen,
mit Vertriebenen, alle Dokumente gesammelt, archiviert, übersetzt etc.
Das ist vielleicht auch der letzte Sommer für manche Überlebende …
Erst in den letzten Monaten sind zwei Zeitzeugen von uns gegangen. Zwei
Wochen nach ihrem Interview starb am 22. April Bava Khali und Bava Usen
starb am 29. April. Das Projekt muss schnellstens vorankommen, bevor
die letzten Zeitzeugen von uns gehen.
Das Projekt findet die Unterstützung
einer Reihe verschiedener Institutionen und Akademiker, denen ich auch
einen besonderen Dank aussprechen möchte:
Projektkoordinatorin Dicle Akar, akademischer Direktor und Projektunterstützer
Prof. Taner Akçam (Clark University Massachusetts, Vergleichende Genozidforschung),
akademischer Direktor in der Türkei Dr. Suavi Aydın (Hacettepe-Universität
Ankara), Karen Jungblut (Shoah Foundation Institute for Visual History
and Education, University of Southern California L. A.), Prof. Martin
van Bruinessen (Universität Utrecht), Prof. Hans-Lukas Kieser (Universität
Zürich), Koordinator in der Türkei Cemal Taş (Schriftsteller und Forscher),
juristischer Berater RA Hüseyin Aygün und viele ehrenamtliche Mitarbeiter.
Das Projekt ist überlebenswichtig und ich danke deshalb der FDG, ich
danke dem FDG-Vorsitzenden Yaşar Kaya und all den Menschen, die das
Projekt ins Leben gerufen haben. Sie haben dadurch auch mir die Gelegenheit
gegeben, mitzuwirken, und auch wenn das nur ein kleiner Beitrag ist,
Unterstützung zu leisten.
„Ich wurde mit euren Lügen
und Tricks nicht fertig, darunter habe ich gelitten. Aber dass ich vor
euch nicht in die Knie gegangen bin, das soll euch zum Leid werden.“
(Seyit Riza)
Auch wenn ich nicht in Dersim
geboren bin, fühle ich mich der Vergangenheit meines Volkes stark verbunden
und erhoffe mir durch das Projekt eine kleine Erleichterung.
Nicht nur die Überlebenden, sondern auch die nachfolgenden Generationen
leiden an den Folgen von Genozid, Verleugnung, Assimilation. Die traumatische
Geschichte prägt die Dersimer bis zum heutigen Tage. Die Generationen
nach 1938 werden in Zukunft immer mit diesem Trauma zu tun haben.
Deshalb jetzt und immer, damit es nie wieder passiert, damit man Lehren
aus der Vergangenheit zieht, damit die kommenden Generationen in Frieden
leben können, müssen wir in die Vergangenheit blicken und uns von alten
Wunden befreien. Nur so können wir es schaffen, in der Gegenwart in
Frieden zu leben.
Wir werden mit der Zeit aus unserer Vergangenheit lernen, ihr ins Gesicht
blicken können. Man kann aus der Geschichte auch Rache lernen und sich
bekriegen, aber wir wollen uns nicht bekriegen! Wir wollen aus unserer
Vergangenheit lernen für den Frieden, für die Solidarität der Völker,
für die Demokratie wollen wir das!
Lasst die Wunden heilen, lasst die seit 72 Jahren eingesperrten Schmerzen
aus den Herzen …
Bevor
die letzten Zeitzeugen gehen …
Ape Use (Onkel Use).
Er ist unser Sonnenschein. Es gibt wenige Menschen auf dieser Welt,
die jemanden so zum Lachen bringen können, aber auch gleichzeitig zum
Weinen. Ape Use ist ein Zeitzeuge, er wurde 1938 mit seiner Familie
aus seinem Dorf ins Exil geschickt.
Kinder umkreisten ihn und schauten nach, ob er tatsächlich einen Schwanz
habe oder nicht, erzählt er. (Es wurde damals behauptet, Kurden, Dersimer,
würden Schwänze tragen.) Er musste neun Jahre mit seiner Familie unter
schlimmsten Bedingungen in einer fremden Stadt, in einem fremden Dorf,
unter fremden Menschen leben, deren Sprache er auch nicht beherrschte.
Jetzt lebt Ape Use in Deutschland, ist verheiratet und hat Kinder.
Ich wundere mich manchmal, wenn ich ihn mir anschaue, und kann es mir
überhaupt nicht vorstellen, wie ein Mensch nach all diesen Geschehnissen
noch so viel Humor besitzen und lachen kann.
Unsere Alten beteten zur Sonne und zum Mond. Wenn Ape Use lacht, dann
scheint die Sonne in unserem Herzen, wenn er weint, dann sind unsere
Herzen wie der Mond. Ich bete dafür, dass die Sonne in meinem Herzen
immer aufgeht. Mond, dich liebe ich auch, aber nimm deinen Schatten
aus meinem Herzen.
Zwei
Bündel Haare – die verschollenen Töchter Dersims
„Zwei Bündel Haare – die verschollenen Töchter Dersims“ ist der zweite
Dokumentarfilm von Nezahat und Kazım Gündoğan. Er handelt von den verschleppten
Mädchen aus Dersim. Im Jahre 1938 wurden viele Kinder, vor allem Mädchen,
zur Adoption freigegeben. Sie wurden zu Offiziersfamilien gegeben oder
mitgenommen.
Aus diesem Film musste ich auch erfahren, dass jemand aus meiner Familie
1938 verschleppt worden war und Jahre später wiedergefunden wurde. Ich
war entsetzt, dass man nicht darüber gesprochen und es verschwiegen
hatte. Oder waren wir zu jung, um es zu erfahren? Ich weiß nicht, aus
welchen Gründen, aber es gibt Menschen, die es jahrelang ihren Kindern,
ihren Ehepartnern verschwiegen haben. Aus Angst wovor?
Die Hauptdarstellerin des Films und ihre Cousine haben sich nach 65
Jahren wiedergetroffen. Die eine hatte Glück und wurde gefunden, die
Cousine aber hatte ein schwereres Leben hinter sich, wurde assimiliert
und verlernte natürlich auch ihre Muttersprache.
Bis jetzt haben Nezahat und Kazım Gündoğan mit siebzig solcher Frauen
gesprochen, die als Kinder verschleppt worden waren.
Einige
weigerten sich zu sprechen, andere sind schon von uns gegangen
Ein anderes verschlepptes Mädchen war Besi Ulugöl. Mehmet Gülmez, FDG-Vorstandsmitglied,
entdeckte sie 2010 und sprach mit ihr. Sie wurde 1935 geboren, ihre
Familie 1938 ermordet. Sie war damals drei und ihre Schwester sechs.
Von einem Offizier wurden sie mitgenommen. Momentan lebt sie in Niğde
und ist schwer krank. Seit 1938 war sie nicht mehr in Dersim. Ihre Schwester
ist vor kurzem gestorben.
Eine
Suche, die seit 72 Jahren dauert
Sultan Kulualp war sieben Jahre alt, als man ihre ganze Familie 1938
umbrachte. Sie versucht seit 72 Jahren, ihre beiden Schwestern zu finden.
Sie ist verheiratet und hat Kinder und lebt in Isparta, aber kann die
Geschehnisse von 1938 nicht vergessen. Ihre zwei Brüder und sie selbst
hatten sich retten können. Später hat sie erfahren, dass ihre Schwestern
Beser und Elif am Leben und zur Adoption gegeben worden waren.
All die Zeitungsannoncen hatten nichts ergeben und sie hatte ihre Hoffnung
aufgegeben gehabt, bis vor sechs Monaten, da lernte sie den Rechtsanwalt
Hüseyin Aygün kennen. Aygün forscht immer noch und Sultan Kuluap hofft,
dass sie ihre Schwestern findet.
Gebt
eure Hände, helft uns das Projekt voranzubringen!
WAS KÖNNEN SIE TUN?
Nehmen Sie so schnell wie
möglich Kontakt zu uns auf. Teilen Sie uns den Aufenthaltsort bzw. die
Adressen von Menschen mit, welche das Massaker und die Verbannung noch
selbst erlebt haben. Diese Menschen können in Dersim, in anderen Provinzen
der Türkei, in Europa oder in Amerika leben. Wir wollen diese Menschen
aufsuchen und mit ihnen Gespräche führen – ganz gleich, wo in der Welt
sie auch wohnen mögen. Helfen Sie uns dabei, diese letzten Augenzeugen
aufzuspüren. Nehmen Sie über unsere Kontaktadresse Verbindung zu uns
auf und teilen Sie uns Ihre Informationen mit. Informieren Sie uns bitte,
wenn Sie selbst über Erkenntnisse, Quellen, Fotografien etc. über Dersim
im Allgemeinen und insbesondere über die Ereignisse von 1937–38 verfügen
oder wissen, wo sich solche finden lassen.
Damit wir das Projekt so
schnell wie möglich mit Leben füllen können, benötigen wir auch Ihre
Spenden. Für Ihre Spenden wurden ein gemeinnütziger Verein gegründet
und ein Bankkonto eröffnet. Jede Ihrer Spenden ermöglicht es, dass weitere
Gespräche mit Augenzeugen geführt werden können.
Wir brauchen vor allem finanzielle Hilfe, damit wir das Projekt voranbringen
können. Zuerst müssen Dersimer und Dersim-Freunde sich an das Projekt
herantasten, später werden sich uns viele neue Türen öffnen, aber zuerst
müssen wir das Projekt realisieren und es unterstützen.
Außer der finanziellen brauchen wir auch technische und akademische
Hilfe. Junge Akademiker, ihr seid herzlich willkommen! Kommt und unterstützt
uns bei diesem Projekt! Wir können jede Art von Hilfe gebrauchen!
Wenn Sie in ihrer Familie und Umgebung Überlebende oder Zeugen von Dersim
1937–38 haben, Familien kennen, die vertrieben worden sind, dann teilen
Sie es uns mit!
Auch die Folgegenerationen sind für den Informationsaustausch sehr wichtig!
Später werden auch mit den jungen Generationen Interviews gemacht.
Gebt
eure Hände, bevor die letzten Zeitzeugen von uns gehen!
„Hızır auf dem Schimmel möge allen Menschen helfen und er möge alle
bewachen“
Bankverbindung:
Förderverein Dersim e.V.
Konto-Nr.: 1929398798
Sparkasse Köln/Bonn
BLZ: 37050198