Der Vergewaltigungskultur den Kampf angesagt Auch Vergewaltigung hat eine Geschichte … Newroz Ceren In den letzten Monaten begegnet uns der Begriff Vergewaltigung häufiger. Wer die Geschichte Kurdistans kennt, weiß, dass es einen Zusammenhang zwischen der Vergewaltigungsrate und der Staatspolitik gibt. Die Spuren der Vergewaltigungen im Rahmen des Dersim-Massakers im vergangenen Jahrhundert zeichnen die Gesellschaft noch immer. Dass sich die Bevölkerung in Dersim umgehend gegen die Vergewaltigung vom 10. Juni in Pulur (Ovacık) aufgelehnt hat, ist sicher ein Resultat der Erinnerungen an die Vergangenheit. Die nach dem Militärputsch 1980 durchgeführten Hausdurchsuchungen, Angriffe auf die Dörfer und Vergewaltigungen im Gewahrsam sind Ergebnisse der gleichen Politik. Unterdrückte Völker sind am häufigsten Vergewaltigungen als Reaktion ausgesetzt. In Ruanda wurden im Bürgerkrieg 1994 250 000 Frauen vergewaltigt. Offiziellen Aufzeichnungen zufolge wurden in Bosnien im Rahmen der ethnischen Säuberung 20 000 muslimische Frauen vergewaltigt. Dies zeigt, dass ein Zusammenhang zwischen ethnischer Säuberung und Vergewaltigung besteht. Der Zusammenhang zwischen
den Vergewaltigungen der letzten Monate in Kurdistan und der Staatspolitik
ist nicht zu verleugnen. Mit der Aussage der kurdischen Führungspersönlichkeit
Abdullah Öcalan „Gegen die Kurden wird ein politisches, gesellschaftliches
Genozid verübt“ hat die Rate an Vergewaltigungen und Kindesentführungen
zugenommen, wird aber auch zunehmend entlarvt. Seitdem der Staat zu
dem Schluss gekommen ist, dass „die kurdische Frage nicht mit Waffen
gelöst werden kann, sondern kulturelle und soziale Aspekte beinhaltet“,
entwickelt er sozialpolitische Strategien, um die Zukunft des freien
Kurden zu zerstören. Die Ereignisse der vergangenen Tage sind nur ein
kleiner Ausschnitt daraus. Viele Menschen verurteilen die Täter, während
sie den Medienberichten über solche Ereignisse folgen, jedoch sehen
sie diese Vergewaltigungskultur, die sich als Nebelschleier in unser
Leben eingeschlichen hat, später nicht. Dabei ist Vergewaltigung keine
sexuelle Handlung. Es hat auch wenig mit nicht beherrschbaren sexuellen
Bedürfnissen zu tun. In den USA wird alle 90 Minuten eine Person über
zwölf Jahren Opfer einer Vergewaltigung. Wenn es nur um nicht beherrschbare
sexuelle Bedürfnisse ginge, wäre die Zahl der Vergewaltigungen in Europa
und den USA, wo es keine Hindernisse für sexuelle Kontakte gibt und
Bordelle sowie Prostitution verbreitet sind, nicht so hoch. Wir können den vergewaltigenden Charakter der Menschheit am besten bei den Göttern sehen. Diese neigen zu Vergewaltigungen. In den Mythologien ist dies offen benannt. Einer der ältesten uns bekanntesten Götter, Enlil, vergewaltigt Ninlil vor der Heirat. Warum? Er ist der erste Stratege der Männer gegen die Frauen. Alle Mythen aus dieser Zeit erzählen von den Besitzansprüchen auf die Werte von Frauen. Die Gebärfähigkeit ist eines der ersten Ziele. Hinzu kommen ihre ökonomischen Errungenschaften. So wird Anspruch erhoben auf den Ackerbau, ein Erzeugnis der Frauen. Daher wird er auch als Gott der Hacke bezeichnet. Im Verlauf der Geschichte sieht er es als nützlicher an, die Frau als Ganzes zu besitzen und nicht nur stückweise ihre Erzeugnisse. Vergewaltigung ist die fortgeschrittenste Politik, Besitz zu erlangen. Es ist der Versuch, nicht Teilstücke, sondern das Ganze und den Kern an sich zu bringen. Die erste in der Geschichte
registrierte Vergewaltigung im sumerischen Mythos ist ein Zeichen für
die Veränderung und den Verfall in der Gesellschaft. In der Gesellschaft
der Muttergottheit ist die Autorität um die Frau mit dem Schutz der
ethischen und politischen Gesellschaft verknüpft. Wenn unsere Führungspersönlichkeit
in seinen Verteidigungsschriften das erste Auftreten von Ethik in der
Gesellschaft bewertet, beschreibt er „die Regeln, eine Sache zu erledigen“.
In der Ursprungsgesellschaft wird Ethik mit der gesellschaftlichen Existenz
gleichgesetzt. Diese Regeln zu verletzen kommt dem Angriff auf die Existenz
der Gesellschaft gleich. Diese Regeln reglementieren alles, was die
weitere Existenz der Gesellschaft sichert. Lebensgrundlagen wie Ernährung,
Schutz und Fortpflanzung werden nicht mit Trieben, sondern mit Schutz
realisiert. Die Autorität der Frauen wird genutzt, um diese Triebe an
Regeln zu binden und so die Grundlagen der Gesellschaftswerdung zu sichern.
Diese Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur, zwischen den Menschen,
zwischen Frauen und Männern, Kindern und Erwachsenen, die geführt werden,
ohne einem Teil von sich selbst entfremdet zu werden, bilden das Fundament
der Ethik. Die Gesellschaft, die wir als ethische, politische Gesellschaft
bezeichnen, ist Ninlil, die von Enlil angegriffen wird. Kern dieses
Aktes gegen die Muttergottheit ist die Zerstörung der Regeln der Frauen,
die Göttin durch den Angriff auf ihren Körper zu einem Objekt zu machen.
Die Vergewaltigung ist der Fall aus der Menschlichkeit. Denn der Mensch
ist nur Mensch in der Gesellschaft. Vergewaltigung ist ein Angriff auf
die ursprünglichen Werte der Gesellschaftsbildung. Die von Enlil eingeführte Kultur wird von Zeus übernommen. Er ist der herausragende – vielleicht besser gesagt der besessenste – Vertreter der Vergewaltigungskultur. Zeus bedeutet Vergewaltigung an jeder Ecke der Gesellschaft. Die Göttinnen versuchen vor ihm zu fliehen, indem sie sich verwandeln, z. B. in eine Kuh oder eine Gans. Sie überwinden Meere, doch Zeus ist ein geschworener Vergewaltiger. Er verwandelt sich auch, sucht, findet und vergewaltigt. Die Botschaft ist: Wir besitzen die Fähigkeit, euch überall zu finden und zu zerstören. Der Charakter von Zeus entspricht dem Charakter der heutigen Männlichkeit. Zeus heiratet 28 Frauen, davon acht unsterbliche Göttinnen. Dabei lässt er nicht ab von Vergewaltigungen. Er nimmt von jeder Frau, die er heiratet, die stärkste Seite in Besitz. Die aussagekräftigste Hochzeit ist die mit Metis, der Göttin der Klugheit. Er frisst die schwangere Metis auf und pflanzt den Fötus in sein Gehirn. So werden ihre Werte gestohlen. Vergewaltigung und Besitztum sind Zwillinge. Die Kultur des Zeus ist das beste Beispiel für die Vergewaltigungstradition. Der Gott, der Enlil bestrafte, wurde vernichtet. Das Pantheon ist nun Zeus selbst. So wie die Besonderheit der Göttin die Besonderheit der Gesellschaft darstellt, so ist die Besonderheit der Götter ebenso Teil der Gesellschaft. Die zivilisatorische Gesellschaft hat Vergewaltigungen zunehmend legitimiert. Sonst ständen Götter nicht für Vergewaltigung. Die bis heute in der Gesellschaft herausgebildeten männlichen Symptome sind Kennzeichen schlauer Männer, die zu besitzen wissen, die klug und kriegerisch sind und von Sieg zu Sieg eilen. Diese Merkmale wurden bei den Göttern entwickelt und so legitimiert. Legitimiert werden Besitztum, Betrug, Zerstörung und Inbesitznahme. In der männlichen Gesinnung sind weibliche Symptome alles, was es in Besitz zu nehmen gilt. Vergewaltigung ist die gewaltsamste Form der Besitzergreifung. Bei allen männlichen Hervorbringungen ist dies zu sehen. Vor allem die Ziele des Militarismus richten sich gegen Frauen. Männern wird seit der Entstehung erster professioneller Armeen beigebracht, die Waffe ins Genital zu stecken. Die in allen Dokumenten zur Ausbildung in der spartanischen Armee erfolgte Gleichsetzung von Genital und Tötung mit dem Schwert wird in die Köpfe der Männer eingebrannt. Alles, was in Besitz genommen wird, ist nun eine Frau. Afrika ist eine lästige Prostituierte, derer es sich zu bemächtigen gilt. Irland ist eine Jungfrau und unterliegt daher dem Recht der ersten Nacht. Bei genauerer Betrachtung der militaristischen Kultur erkennt man die Gleichsetzung der Begriffe Feind und Frau. Der Feind ist derjenige, der vergewaltigt werden soll. Die Art, wie die Leichen unserer Genossinnen zugerichtet werden, folgt diesem Prinzip. Eine durchlöcherte Leiche zu vergewaltigen oder ihr die Geschlechtsorgane abzuschneiden, hat nichts mit Trieben zu tun, sondern mit einer gespaltenen Persönlichkeit, Entmenschlichung und einer falschen Gesinnung. Da die Zivilisation so ist, findet sie Tricks, um Vergewaltigung zu legitimieren. Indem sie die Gründe erklärt, bemüht sie sich um Akzeptanz dafür. Da Besitzanspruch, Besitztum, Diebstahl und Vergewaltigung Bestandteile ihres Charakters sind, kann sie diese nicht komplett zurückhalten. Bei einer Vergewaltigung wird erst geschaut, ob die vergewaltigte Frau das nicht verdient hat. Wenn ihre Kleidung nicht gepasst und sie etwas mehr gelächelt hatte, hat sie es verdient. Häufig wird die Frau schuldiger gesehen als der Täter. Auch hierfür gibt es im sumerischen Reich ein Beispiel. In den Gesetzen Hammurabis besagt eine Bestimmung: „Wenn die Tochter eines freien Mannes auf dem Weg vergewaltigt wird, ihre Eltern nicht wussten, dass sie unterwegs war, und sie ihren Eltern erzählt, dass sie vergewaltigt wurde, dann werden die Eltern sie gewaltsam dem Mann als Frau geben.“ Das heißt, dass sie es verdient hat, wenn sie ohne Einverständnis der Eltern draußen war. Dies gibt es in Gesetzen auch heute noch. Wenn sie ihren Vergewaltiger heiratet, dann entfällt das Verfahren. Ein fast viertausend Jahre altes Gesetz ist noch gültig. Mit zivilisatorischen Werten kann nicht gegen Vergewaltigung gekämpft werden. Denn solange die Zivilgesellschaft ethische Aspekte beinhaltet, kann sie sich nicht institutionalisieren. Sie kann die Gesellschaft nicht der Ausbeutung gegenüber öffnen. Daher kämpft die Zivilisation in ihrer Entwicklung gegen die Ethik. Ich rede nicht von der Ethik, die durch die Rückständigkeit der Gesellschaft bedingt ist, sondern von der Ethik der Muttergesellschaft. Denn auch die auf gesellschaftlicher Rückständigkeit aufgebaute Ethik beruht auf der Objekt-Subjekt-Dialektik. Subjekt bedeutet, offen zu sein für Besitztum und Zerstörung. Dies entspricht Vergewaltigung. Objekt und Subjekt sind in jeglicher Hinsicht offen für Missbrauch. Das Subjekt nimmt sich das Recht auf Vergewaltigung. Hinter jeder Vergewaltigung kann man die Beziehung zwischen Objekt und Subjekt deutlich erkennen. Dass Vergewaltigung in der Ehe nicht [überall] unter Strafe steht, hängt damit zusammen. Realität ist, dass die Menschheit aktuell einer noch größeren Bedrohung durch Vergewaltigung gegenübersteht. Die kapitalistische Gesellschaft, vielfach als freiheitlich angesehen und angestrebt, erlebt Vergewaltigung häufig intensiver. Wenn Kapitalismus Freiheit und Fortschritt bedeutet, warum gibt es dann so viele Vergewaltigungen? Denn die Machthaber passten die Vergewaltigungskultur dem kapitalistischen Fortschritt äquivalent an. Dafür haben sie einen heftigen Kampf gegen die ethische Gesellschaft geführt. Durch die Vernichtung derjenigen, die Widerstand leisteten, haben sie gesellschaftliche Strukturen zerstört. Der Kapitalismus entwickelte sich zur Zeit der Hexenverbrennungen. Hexen können eigentlich Widerstand leistenden, sich nicht ergebenden weiblichen Werten gleichgesetzt werden. Nach den Hexenverbrennungen verbreiteten sich in Europa, wo der Kapitalismus sich entwickelte, Prostitution und zeitgleich Bordelle. An die Stelle von Widerstand leistenden Frauen wurden gekaufte Frauen zum Weiterverkauf gesetzt. Prostitution ist eine feine Form der Vergewaltigung. Gemeinsames Ziel ist es, die Weiblichkeit der Frau zum Objekt zu machen und für die Zerstörung der ethischen Gesellschaft zu missbrauchen. In beiden Fällen gibt es einen, der missbraucht, und einen, der missbraucht wird. Der Kapitalismus hat getan, was keine Zivilisation zuvor tat. Er hat sich in der menschlichen Mentalität kulturell und geistig eingenistet. Der Mensch hat sich in einer Umgebung ohne Utopien, Liebe, Geist und Freiheit für einen freien Menschen gehalten und ist so Bestandteil des Systems geworden. Das System erscheint im Menschen, der Mensch im System. Daher konnte sich Vergewaltigung so sehr ausbreiten. In Pervari vergewaltigt ein 15-Jähriger eine 4-Jährige. In Manisa vergewaltigt ein 60-jähriger Mann ein einjähriges Baby. In keiner Epoche hat es einen solchen Verfall gegeben. Das kapitalistische Zeitalter ist dasjenige von Zeus und Enlil geworden. Für sein Fortbestehen beharrt das System stärker auf Zeus und Enlil. Daher müssen wir Vergewaltigung im Hinblick auf die Zivilisation kulturell betrachten. Wenn Vergewaltigung bedeutet, zum Objekt und Sklaven zu werden, dann ist ihr Gegenteil die Freiheit. Die Gefahr und die Kultur der Vergewaltigung, der die Frauen und die Gesellschaft ausgesetzt sind, erfordern einen Kampf dagegen. Der Kern der Zivilisation und der Kapitalismus als ihr Höhepunkt stützen sich darauf. Ein angemessener Kampf muss mit der Radikalität geführt werden, die an die Größe dieser Gefahr heranreicht. Wir müssen als Frauen nicht nur unsere Körper, sondern alle angegriffenen Werte verteidigen. Wir müssen außerhalb des zivilisatorischen Systems ein Leben erschaffen. Denn Vergewaltigung hat eine Geschichte. Der können wir entgegenwirken, indem wir unsere eigene Geschichte schreiben. |