Die
Folgen von 20 Talsperren und Wasserkraftwerken in der kurdisch-alevitischen
Provinz Dersim
Dersim – wenn eine ganze Provinz überflutet wird
Ercan Ayboğa
Mitte August 2009 begann
mit dem Uzunçayır-Staudamm die Stauung des Flusses Munzur in der Provinz
Dersim (türk. Tunceli). Sogleich erhob sich in der Bevölkerung dieser
kurdisch bewohnten Provinz ein Aufschrei; mit der Stauung von fünfzehn
Kilometern Flussstrecke wurde ihnen unmissverständlich deutlich, was
für gravierende Folgen die weiteren vorgesehenen Talsperren- und Wasserkraftwerkprojekte
haben würden. Diese von der Bevölkerung abgelehnten Projekte am Munzur
– ein Nebenfluss des Euphrats – und seinen Nebenarmen würden viele schwerwiegende
und irreparable Auswirkungen auf die seit Jahrhunderten unterdrückten
Menschen, ihre spezifische Kultur und die vielfältige Natur haben. Bei
der Realisierung dieser staatlich verordneten Projekte würde mit der
Überflutung fast aller Täler die Zukunft einer ganzen Provinz zunichtegemacht
werden, weshalb seit Jahren Menschen inner- und außerhalb Dersims immer
wieder protestieren. Zuletzt gingen am 10. Oktober 2009 über 20 000
Menschen in Dersim auf die Straße.
In
der Türkei gibt es keine andere Provinz, deren Bevölkerung sich so eindeutig
und aktiv gegen die Talsperren- und Wasserkraftprojekte und ihre negativen
sozialen, kulturellen und ökologischen Folgen stellt wie die in der
kurdisch-alevitisch bewohnten Provinz Dersim1; selbst
nicht am Schwarzen Meer oder am Tigris, wo ebenfalls ähnliche Projekte
mit desaströsen Auswirkungen geplant worden sind. Es gibt ebenfalls
keine andere Provinz, deren Menschen dem Staat vorwerfen, er verfolge
ausschließlich politische Absichten und überhaupt keine sozio-ökonomischen
Entwicklungsziele. Weil demnach sich die Bevölkerung seit der osmanischen
Zeit in der Mehrheit ununterbrochen gegen die Politik der Unterdrückung
verschiedener Kulturen stellt, soll sie durch die Überflutung der Täler
und mit der Vertreibung ihrer BewohnerInnen endlich unterworfen werden.
Die Bevölkerung Dersims hat in den letzten hundert Jahren mit dem Zentralstaat
viele politisch-bewaffnete Auseinandersetzungen ausgefochten; zuletzt
wurden 1994 im Rahmen des heute noch andauernden Aufstandes gegen die
Unterdrückung der KurdInnen rund die Hälfte der Dörfer vom türkischen
Militär zerstört und ihre EinwohnerInnen daraus vertrieben. Nun soll
mit insgesamt zwanzig Talsperren- und Wasserkraftprojekten2
der immer noch politisch, wirtschaftlich und sozial leidenden Provinz
der endgültige Schlag versetzt werden. So die Meinung der meisten aus
Dersim stammenden Menschen.
Verschiedene Dokumente zeigen, dass 1930 der damalige türkische Generalstabschef
Fevzi Çakmak vorschlug, gegen das aufständische Dersim die Täler mittels
Talsperren zu überfluten, damit ihre BewohnerInnen in ferne türkisch
bewohnte Orte gebracht werden können.3 Damit griff
er eine schon 1875 geäußerte Idee wieder auf, denn nach der Zerschlagung
von mehreren kurdischen Aufständen im Anschluss an die Gründung der
Türkei war Dersim die einzige kurdische Provinz, die nicht unter der
Kontrolle des Staates stand. Schließlich wurde 1938 nach zwei Jahren
Widerstand der Bevölkerung die Provinz mit einem Genozid unter die totale
staatliche Kontrolle gebracht. Aus diesem Grund ist das Jahr 1938 fest
im Gedächtnis der Menschen aus Dersim verankert. Dieses Massaker, mit
seinen 50 000 bis 80 000 Ermordeten, wurde bis heute nicht durch den
türkischen Staat anerkannt und aufgearbeitet.
Zur
Geografie von Dersim und zum Fluss Munzur
Die bergige Provinz Dersim ist das nördlichste Gebiet des nördlichen
Ausläufers des Ost-Taurusgebirges. Dersim grenzt im Westen an das anatolische
Plateau, im Osten an das Ararathochland (armenisches Hochland) und im
Norden an die südlichen Ausläufer des Ostschwarzmeergebirges. Weil es
im Einzugsgebiet des Euphrats liegt, kann es auch als die nördlichste
Region Obermesopotamiens bezeichnet werden.
Die geografische Höhe variiert zwischen ca. 850 m im Süden und 3642
m im Norden. Im Norden und Nordwesten grenzt die Provinz die bis zu
3462 Meter hohe Munzur-Bergkette ab. Auf der anderen Seite dieser Bergkette
liegt der nach Süden fließende Euphrat. Im Süden war der Fluss Murat
die Provinzgrenze, doch nach dem Bau des Keban-Staudamms 1974 ist dies
nun der Keban-Stausee. Im Südosten bildet der Fluss Peri und im Ost-Nordosten
bilden hohe Berge der Provinz Bingöl die Grenze der Provinz.
Nach Süden hin werden die Berge zerklüfteter, niedriger und bewaldeter.
Besonders in den Flusstälern ist Waldbewuchs verbreitet. Ursprünglich
war Dersim viel bewaldeter als heute. So bewirkte der Keban-Stausee,
dass die angrenzenden Berghänge wegen veränderter klimatischer Bedingungen
entwaldet wurden.
Der Fluss Munzur entspringt im Nordwesten der Provinz nahe der Bezirksstadt
Pulur und fließt bis zur Provinzhauptstadt Dersim, wo der größte Nebenfluss
Pülümür (auch „Harçîk“ genannt) einmündet. Hier beginnt auch der neu
entstandene Uzunçayır-Stausee. Der frei fließende Munzur existiert
hier nicht mehr. Kurz nach dem Uzunçayır-Staudamm schließt sich stromabwärts
der Keban-Stausee an. Der Munzur führte kurz vor seiner Mündung in den
Keban-Stausee im Jahr durchschnittlich 87 m³/s Wasser; im April hat
er mit 398 m³/s den meisten, im Oktober hingegen mit 44 m³/s den geringsten
Durchfluss. Der Munzur hatte vor den Stauungen eine gesamte Länge von
etwa 144 km, der ungestaute Harçîk-Fluss ist nach wie vor etwa 69 km
lang. Die Qualität des Munzur-Wassers ist auch heute noch bis zur Stadt
Dersim sehr gut und besitzt annähernd Trinkwasserqualität.
Nicht
acht, sondern zwanzig Talsperren- und Wasserkraftwerkprojekte!
Das dem türkischen Umwelt- und Forstministerium unterstehende Staatliche
Wasseramt (DSI) plant in der Provinz Dersim insgesamt zwanzig Wasserkraftwerkprojekte,
um Strom zu produzieren. Einen anderen Nutzen wie Bewässerung oder Trinkwasserbereitstellung
sollen sie nicht erbringen. Acht der Wasserkraftwerkprojekte werden
zusammen mit je einer Talsperre gebaut. Die anderen zwölf Projekte bestehen
aus je einem kleineren Absperrbauwerk bzw. einem Ausleitungskanal.
Bis zum Jahr 2009 waren der Bevölkerung insgesamt neun Talsperren- und
Wasserkraftwerkprojekte bekannt. Doch jetzt kamen elf weitere hinzu.
Die vor über zehn Jahren geplanten Projekte sollten insgesamt 362 MW
Strom pro Stunde erzeugen, mit den neuen Projekten ist eine Kapazität
von etwa 534 MW4 anvisiert.
Das allererste realisierte Projekt ist das kaum bekannte Wasserkraftwerk
Çemişgezek im Südwesten der Provinz mit einer sehr kleinen Kapazität
von 0,1 MW. Das erste weitgehend bekannte realisierte Projekt ist das
Mercan-Talsperren- und
-Wasserkraftwerkprojekt am Mercan-Fluss im oberen Einzugsbereich des
Munzur. 2003 wurde ein fünf Meter hohes Bauwerk mit einer Kapazität
von 19,2 MW fertiggestellt. Im Jahre 2009 wurde im Süden der Provinz
am Munzur nach 15-jähriger Bauzeit das Uzunçayır-Talsperren- und -Wasserkraftwerkprojekt
komplett errichtet. Das auf 74 MW ausgelegte und 58 m hohe Projekt wurde
mit der Füllung des Stauraums im August 2009 begonnen und im November
2009 abgeschlossen. Der 13,43 km2 große und ca. 15–16 km lange Stausee
reicht bis in die Provinzhauptstadt Dersim. Im Jahr 2009 wurde auch
mit dem Bau des Tatar-Talsperren- und -Wasserkraftwerkprojekts am Grenzfluss
Peri im Südosten der Provinz begonnen.
Das nächste geplante Projekt am Hauptfluss Munzur soll der Konaktepe-I-Staudamm
(Höhe 111,4 m; 90 MW) mit Wasserkraftwerk sein, das am Oberlauf oberhalb
der Provinzhauptstadt mitten im Munzur-Nationalpark gebaut werden soll.
Es gehört wie auch Uzunçayır zu den größten Projekten in Dersim und
würde einen bis zu 15 km langen Stausee erschaffen, der bis zur Bezirksstadt
Pulur reichen würde. In direkter Verbindung damit steht das Wasserkraftwerkprojekt
Konaktepe II (Fallhöhe 112 m; 50 MW), wohin das Wasser mit Hilfe eines
Tunnels durch das Gebirge von Konaktepe I geleitet werden soll. Auf
einer Strecke von mehr als 10 km würde das Tal (beinahe) austrocknen.
Danach sollen stromabwärts die zwei Talsperren Kaletepe (60 m; 60 MW)
und Bozkaya (30 m; 30 MW) folgen, am Nebenfluss Pülümür – der fast ebenso
groß wie der Munzur selbst ist – ein gleichnamiger Staudamm (50 m; 6
MW) kurz oberhalb der Provinzhauptstadt. Am Pülümür-Fluss sind stromaufwärts
zwei weitere Wasserkraftwerke (Pülümür und Haskar) geplant, an Kleinflüssen
und Großbächen weitere Wasserkraftwerkprojekte, womit die Zahl von zwanzig
erreicht wird. Darunter fallen Hakis, Derman und Mutu im Nordosten (Bezirk
Pülümür), Dinar, İnköy und Çobanyurdu im Süden (Bezirke Hozat, Pertek
und Zentrum), Gökçeköy und Tağar im Südwesten (Çemişgezek) der Provinz.
Die Projekte in der Provinz Dersim sollen zumeist am Munzur – dem größten
Fluss – oder an seinen Nebenarmen – wie dem Pülümür (Harçîk) – errichtet
werden, fünf der Projekte an anderen Flüssen oder Bächen.
Das
Südostanatolienprojekt (GAP) und die Projekte in Dersim
Wenn es um Talsperren in der Türkei und insbesondere in den kurdischen
Provinzen geht, ist international das Südostanatolienprojekt (GAP) mit
seinem Investitionsvolumen von 32 Mrd. US-Dollar bekannt, welches das
größte Investitionsprojekt in der Geschichte der Türkei darstellt. Auch
wenn Dersim und seine Flüsse im oberen Einzugsgebiet des Euphrats liegen
und alle menschlich verursachten Veränderungen sich auf den gesamten
Euphrat auswirken, so ist es doch kein offizieller Teil des GAP, das
sich auf die weiter südlich liegenden Regionen konzentriert. Das GAP
wurde 1982 beschlossen und umfasst 22 große Talsperren und 19 Wasserkraftwerke
im Einzugsgebiet des Euphrats und des Tigris. Im Laufe der Jahre sind
viele weitere Projekte im Einzugsgebiet der beiden Flüsse beschlossen
worden, ohne jedoch Teil des GAP zu werden, so auch die in Dersim. Die
infolge der Umsetzung des GAP aufgetretenen Auswirkungen – vor allem
am Euphrat – zeigen, welche katastrophalen Veränderungen in Dersim auftreten
werden.
Hauptentwicklungsziele des GAP sind die Devisenbeschaffung durch exportorientierte
Landwirtschaft (Bewässerung von 1,8 Mio. ha Land), die Stromproduktion
(Kapazität von 7 600 MW) und die Erhöhung des regionalen Einkommensniveaus.
Diese Ziele dürften für sich kaum zu realisieren sein, denn Einkommenssteigerungen
sind vor allem für die am Projekt beteiligten Firmen, die türkischen
Eliten und regionale Großgrundbesitzer zu sehen. Die breite Masse der
Bevölkerung der Region kann durch das Projekt ihre ökonomische Situation
nicht verbessern. Besonders die Nichtbeachtung ökologischer und sozialer
Folgekosten durch Umweltschäden und erzwungene Migration macht das Projekt
ökonomisch höchst riskant. Eine nachhaltige Entwicklung im Sinne einer
dauerhaft verträglichen Nutzung der regionalen Ressourcen und der Verbesserung
der ökonomischen Situation breiter Bevölkerungsgruppen, besonders Unterprivilegierter,
unter Mitbestimmung der Betroffenen findet nicht statt. Weiterhin kommt
hinzu, dass mit dem GAP die Türkei die Kontrolle über die beiden größten
Flüsse des Mittleren Ostens erhält. Es ist anzunehmen, dass die Türkei
das Wasser sowohl als Waffe einsetzen und als Ware behandeln könnte,
denn sie hat nicht die UN-Konvention über die nicht-schiffbare Nutzung
grenzüberschreitender Wasserwege von 1997 ratifiziert.
Finanzierung
Die vom DSI geplanten Projekte müssen dem Gesetz nach durch Ausschreibungen
vergeben werden. Da im Falle von Dersim die meisten Projekte ohne Ausschreibung
vergeben und/oder praktisch keine Informationen an die Öffentlichkeit
gegeben werden, erfährt die Bevölkerung die Angaben zur Unternehmerbeteiligung
sehr spät und zumeist unvollständig. Alle zwanzig Talsperren- und Wasserkraftwerkprojekte
in Dersim kosten nach ersten Schätzungen mindestens 2,5 Mrd. US-Dollar.5
Nach vorliegenden, aber vorsichtig einzuschätzenden Informationen ist
am Bau des mehrere hundert Mio. Euro teuren Projektes Konaktepe I+II
neben den beiden türkischen Unternehmen „Limak“ und „Soyak Uluslararası
Inşaat ve Yatırım A.Ş.“ die österreichische „Strabag AG“ beteiligt.
Über die Strabag könnte auch das österreichische Unternehmen „Andritz
AG“ in gewissem Maße involviert sein. Bis etwa 2005 waren die türkische
„Ata Inşaat“ und die US-amerikanische „Stone & Webster“ bei Konaktepe
I+II beteiligt; jetzt möglicherweise nicht mehr. Bis Dezember 2009 ist
kein offizieller Antrag auf eine Exportkreditversicherung an die österreichische
Regierung bzw. die österreichische Exportkreditagentur ÖKB gestellt
worden.6 Zum Konaktepe-I+II-Projekt schweigt die Regierung
am meisten.
Die auf dem Peri-Fluss gebaute Tatar-Talsperre wird vom türkischen Unternehmen
„Darenhes Limak Elazığ Bilgin İnşaat“ gebaut. Ob für das Wasserkraftwerk
auch ausländische Unternehmen beauftragt worden sind, ist unklar.
Soziale
Auswirkungen
Die geplanten und umgesetzten Talsperrenprojekte würden in Dersim zahlreiche
Dörfer überfluten, deren Zahl vorsichtig geschätzt einige Dutzend betragen
dürfte. Die Zahl der umzusiedelnden Menschen liegt wahrscheinlich bei
einigen Tausend. Sie mag angesichts der zwanzig Projekte relativ gering
erscheinen, doch wenn die indirekt Betroffenen hinzugezählt werden,
wird es sich etwa um die Hälfte der Provinzbevölkerung handeln, die
sich zu über 90 % alevitisch-kurdisch zusammensetzt, was in der Türkei
einmalig ist.
Um die sozialen Auswirkungen der Talsperrenprojekte zu verstehen, muss
sich vor Augen gehalten werden, dass seit den 60er Jahren wegen weitverbreiteter
Armut und wirtschaftlicher Benachteiligung durch den Staat Menschen
aus den Dörfern ständig in die Großstädte auswandern. Vor allem ist
zu berücksichtigen, dass Anfang/Mitte der 90er Jahre die türkische Armee
die BewohnerInnen aus rund der Hälfte der ländlichen Siedlungen in Dersim
zwangsweise vertrieben hat, um die erstarkte kurdische Guerilla der
PKK zu bekämpfen. Auch wurden systematisch viele Waldflächen niedergebrannt
und den NomadInnen die Weideflächen auf den hohen Bergen verboten. Durch
diesen Staatsterror und die Flucht von Zehntausenden in die Großstädte
reduzierte sich die Bevölkerungszahl der Provinz von etwa 150 000 um
fast die Hälfte. Ab 2000 nahm die Zahl der BewohnerInnen zwar wieder
leicht zu – sie liegt heute bei 90 000 –, doch ist fast niemand der
Vertriebenen in die Dörfer zurückgekehrt. Seit dieser Zerstörungswelle
liegt die Wirtschaft der Provinz darnieder, da sich die land- und viehwirtschaftliche
Produktion auf dem Land nie spürbar erholen konnte.
Wenn die jetzt geplanten Talsperren realisiert werden, würde dies verhindern,
dass die meisten Vertriebenen aus den 90er Jahren zurückkehren könnten,
und zwar nicht nur in die überfluteten, sondern auch in die in der Nähe
bzw. oberhalb der Stauseen liegenden Dörfer. Bei einer politischen Lösung
der kurdischen Frage, einer ernsthaften Entschädigung der Vertriebenen
und einer gezielten wirtschaftlichen Förderung der Region könnte eine
Entwicklung für die Rückkehr in die Dörfer gefördert werden. Doch ist
die jetzige Politik weit davon entfernt. Somit tragen die Talsperren
zur Entvölkerung breiter Landstriche bei. Dies bedeutet also, dass die
Verstädterung und somit die seit den 30er Jahren durchgeführte Assimilation
der Menschen weiter befördert wird. Der Kirmancki-Dialekt (Zazaki) wird
ohnehin wenig gesprochen, nun wird er in Dersim noch weiter aus dem
Leben gedrängt.
Das vor Kurzem fertiggestellte
Uzunçayır-Projekt hat von allen Talsperrenprojekten in Dersim die negativsten
sozialen und ökologischen Auswirkungen. Durch die Flutung von Gebäuden
und landwirtschaftlichen Flächen in sechs Dörfern mussten mehrere Hundert
Menschen umziehen. In den Jahren zuvor verließen angesichts der bevorstehenden
Flutung insbesondere junge Menschen die Dörfer in Richtung der Städte.
In den anderen gefährdeten Dörfern dürften Tausende Menschen direkt
betroffen sein.
Die Umsiedlungspraxis in Dersim sieht so aus, dass den Betroffenen nur
Geld und kein neuer Siedlungsort angeboten wird. Entschädigungsgelder
werden nur ausgezahlt, wenn entsprechende Landtitel vorliegen. In nicht
wenigen Fällen kommt es vor, dass nicht alle Grundstücke, aus den unterschiedlichsten
Gründen, Titel erhalten haben. Der ausgezahlte Betrag reicht in der
Regel nicht aus, um an einem anderen Ort die Lebensqualität aufrechtzuerhalten.
Das Geld wird in den ersten Jahren oft ausgegeben, ohne wirklich neue
perspektivische Einkommensquellen zu schaffen.
Wie auch bei vielen anderen
Talsperrenprojekten in der Türkei werden im Falle von Dersim weder die
Direktbetroffenen noch die Bevölkerung der Stadt Dersim in die Planung
der Talsperren einbezogen. In keiner Form fragte der Staat nach der
Meinung der Menschen, der Kommunen oder Zivilorganisationen. Im Gegenteil
– er versuchte so lange wie möglich zu verheimlichen, um einen eventuellen
Protest zu vermeiden. Selbst als ab 2001 erste große Proteste stattfanden,
bewegte sich das DSI überhaupt nicht. Heute weiß weder die Bevölkerung
noch die Stadtverwaltung von Dersim Genaues über den Stand der Projekte,
zum Beispiel ob und wann die Talsperren Konaktepe I, Bozkaya, Kaletepe
gebaut werden sollen. Nur bei den neu hinzugekommenen neun Wasserkraftwerkprojekten
werden seitens der Unternehmen einmalige Anhörungen der Betroffenen
durchgeführt, weil die Gesetze dies fordern. Dies geschah z. B. am 20.
Januar 2010 für das Pülümür-Wasserkraftwerkprojekt in der Gemeinde Kirmiziköprü,
woran viele Menschen und Organisationen teilnahmen, um gegen dieses
und andere Projekte zu protestieren.
Da viele Siedlungen Dersims
in den Flusstälern liegen, das sozial-kulturelle Leben sich hier abspielt,
die Freizeitaktivitäten sich auch hier konzentrieren, die Fernstraßen
sich zumeist an den Flussläufen orientieren, werden die Wirtschaft und
die soziale Struktur grundsätzlich leiden. So würde die Stadt Dersim
von einigen anderen Regionen abgeschnitten und wäre als Halbinsel schwieriger
zu erreichen. Sie würde ihre Bedeutung für die Provinz verlieren. Ob
und inwiefern Ersatzstraßen gebaut werden, ist wegen der fehlenden Informationspolitik
unklar. Wie nicht überflutete, aber nahe der Stauseen liegende Siedlungen
erreicht werden sollen, ist nicht beantwortet. Angesichts der Tatsache,
dass hier wenige Menschen leben, wird sich für den Staat natürlich die
Frage nach der Wirtschaftlichkeit neuer Straßen stellen. Die Verkehrswege
sind ohnehin durch die natürlichen Gegebenheiten sehr eingeschränkt.
Um über diese Befürchtung ein besseres Bild abzugeben: Alle, die von
Dersim nach Ovacık (Pulur) und umgekehrt gelangen möchten, müssten eine
Strecke von etwa 200 km anstatt wie bisher 70 km zurücklegen. Auch die
Zufahrt nach Pilemori (Pülümür) und Nazimiye würden abgeschnitten. Eine
Befürchtung wegen dieser Zerstückelung in Dersim ist, dass ihnen der
Provinzstatus aberkannt werden könnte und sie an die Nachbarprovinzen
angeschlossen werden.
Kulturelle
Auswirkungen und der Fluss Munzur
Neben der Versorgung mit Wasser für Mensch und Tier, dem an ihr orientierten
Personen- und Güterverkehr, guten – wenn auch spärlichen – landwirtschaftlichen
Flächen, Freizeitmöglichkeiten und anderen Aspekten besitzen der Fluss
Munzur und sein Tal in den Augen der Menschen eine „heilige“ Stellung,
eine seit Jahrhunderten herausragende Stellung im kulturell-religiösen
Leben der alevitischen Bevölkerung. Der Munzur wird mit vielen wichtigen
Mythologien, Sagen und Liedern in direkte Verbindung gebracht. Die Munzur-Sage
gehört zusammen mit der Dûzgîn-Bava-Sage zu den bekanntesten Erzählungen.
Darüber hinaus liegen in den Flusstälern auch mehrere religiöse Stätten
– vor allem Wasserquellen –, die von den Menschen regelmäßig besucht
werden. So wurde zuletzt die Stätte „Gole Çetu“ durch den Uzunçayır-Stausee
im November 2009 überflutet, was für Proteste sorgte. Der Munzur hat
mehr als materielle Bedeutung im Leben der Menschen von Dersim, er ist
die wichtigste Quelle für ihr geistiges Leben.
Darüber hinaus hat der Nieder-Munzur aus archäologischer Sicht auch
eine große Bedeutung. Als nördlichster Teil Obermesopotamiens gehört
er zu den Flussgebieten, wo Menschen sich zum ersten Mal niedergelassen
und früheste Formen der Landwirtschaft entwickelt haben. Auch wenn sich
höchstwahrscheinlich die meisten frühen Siedlungen mehr auf die unteren
Euphrat- und Tigrisstrecken konzentriert haben, dürfte die Munzur-Region
zu einer umfangreichen Erforschung des Neolithikums beitragen. Im Munzur-Tal
sind bisher keine Geländeerkundungen zur Erfassung archäologischer Stätten
durchgeführt worden.
Ökologische
Konsequenzen
Die katastrophalen Auswirkungen auf die Ökologie stehen im Falle von
Dersim mehr im Vordergrund als bei anderen kritisierten Talsperrenprojekten,
was an der vielfältigen und wundervollen Natur liegt. Wie schon zuvor
angedeutet, würden durch die zwanzig Talsperren- und Wasserkraftwerkprojekte
der Munzur, der Harçîk und die anderen Fließgewässer durch die Stauung
in künstliche Seen oder in trockene Täler verwandelt. Der Munzur und
der Harçîk wären nur noch auf den ersten 10–15 km in einem natürlichen
Zustand.
Die bisherigen Untersuchungen lassen annehmen, dass ein großer Reichtum
verloren gehen würde, wenn es auch bisher keine systematische Aufnahme
des ökologischen Zustandes der Region gab. Was genau verloren gehen
würde, ist nicht bekannt, weil bisher keine Umweltverträglichkeitsprüfung
(UVP) durchgeführt wurde. Da dies nach türkischen Gesetzen im Falle
von Dersim nicht erforderlich ist, wird auch nicht erwartet, dass sie
erfolgen wird. Denn alle vor 1993 beschlossenen Infrastrukturvorhaben
benötigen in der Türkei keine UVP, egal wie schwerwiegend die Folgen
auch sein mögen. Damit ist der Bevölkerung nicht die Möglichkeit gegeben,
irgendwelche Einsprüche im Rahmen eines UVP-Prozesses einzulegen.
Zunächst sei zu erwähnen, dass die Biodiversität in Dersim und dabei
vor allem im Munzur-Tal und auf den hohen Almen zur höchsten nicht nur
in der Türkei, sondern im gesamten Mittleren Osten, zählt. Die neuesten
Untersuchungen aus dem Jahr 2009 gehen von insgesamt 1 518 Pflanzenarten
aus. Bei 227 Arten handelt es sich um endemische Arten, d. h. sie kommen
nur in der Türkei vor. Von diesen Arten existieren wiederum 43 Arten
nur in Dersim, d. h. sonst nirgendwo in der Welt. Die in diesem Rahmen
zumeist aufgeführte Art ist der Munzur-Knoblauch. Neben diesen Arten
würden höchstwahrscheinlich unzählige endemische und nichtendemische
Arten verschwinden bzw. in ihrem Lebensraum erheblich zurückgedrängt
werden.7 In jedem Fall würde einer der wildesten und
reichhaltigsten Naturräume im Mittleren Osten verloren gehen.
In den Bergen Dersims leben heute zum Beispiel folgende Tiere: Bergziegen,
Bergschafe, Bären, Wildschweine, Wölfe, Schakale, Füchse, Steinmarder,
Stinktiere, Dachse, graue Eichhörnchen, Igel, Eidechsen, Schlangen,
Luchse, Fischotter, Schildkröten, Frösche, Falken, Wanderfalken, Wachteln,
Sperber, Geier, Adler, Eulen, Rebhühner, Kraniche, Störche, Papageien,
Nachtigallen, Schwalben, Spechte, Wiedehopfe, Amseln, Raben, Fledermäuse.
Darüber hinaus sind die Berge mit Hunderten verschiedener Pflanzen bedeckt:
Tulpe, Hyazinthe, Narzisse, gemeines Schneeglöckchen, echte Kamille,
Veilchen, wohlriechender Gänsefuß, Anafatma, Tragant, wilder Thymian,
Hagebutte, wild wachsender Apfel, Birne, Pflaume, Walnuss, Zeder. Folgende
Baumarten wachsen in Dersim: Eiche, Buche, Weide, Pappel, Walloneneiche,
Spitzahorn, Birke, Nadelbaum, Schwarzerle.8
Die rot gefleckte Forelle,
viele weitere Fische und andere an das Fließgewässer angepasste Arten
im und am Fluss werden verschwinden, wenn die Stauseen und unüberwindbare
Absperrbauwerke errichtet worden sind. Dann würden nur noch wenige an
stehende Gewässer angepasste Arten überleben können. Aber auch an den
neuen instabilen – betriebsbedingtes ständiges Auf und Ab des Stauziels
– Ufern der stehenden Gewässer würde sich eine neue Pflanzen- und Tierwelt
ansiedeln, die in ihrem Artenreichtum ärmer sein wird.
Mit den Stauseen in Dersim wird sich das regionale Klima erheblich verändern,
wie im Falle der am Euphrat bereits errichteten Stauseen zu erkennen
ist. Es wird feuchter und milder werden, was u. a. mehr Regen und weniger
Schnee bedeuten würde. Wenn deutlich weniger Schnee auf die Munzur-Berge
fällt, kann sich das direkt auf die Munzur-Quellen auswirken. Denn der
Munzur entsteht am Fuß der Munzur-Berge auf einer Länge von etwa 300
m und führt schon gleich einen Großteil der gesamten Fließmenge. Dies
ist eine sehr oft geäußerte Befürchtung in der Bevölkerung. Diese Veränderung
könnte durch den allgemeinen Klimawandel zukünftig beschleunigt werden.
Der zu erwartende spürbare regionale Klimawandel könnte sich negativ
auf die Wälder in den Flusstälern auswirken. Wie im Falle des Keban-Stausees
könnte er eine weitverbreitete Entwaldung bewirken.
Eine andere Gefahr durch die künstlichen Seen entsteht durch die fehlende
Selbstreinigungskraft der Flüsse. In Pulur und besonders in Dersim werden
Abwässer ungeklärt in den Munzur geleitet, da es bisher keine Kläranlagen
in Dersim gibt. In dem stehenden Gewässer werden sich Fäkalien und chemisch-biologische
Schadstoffe anreichern, was zu einer großen Gesundheitsgefahr für die
umliegende Bevölkerung führen wird. Denn durch die ständige Absenkung
und Erhöhung des Stauziels werden Flächen freigelegt, die für tropische
Krankheiten – Malaria und Typhus – verbreitende Mücken insbesondere
im Sommer ideal sind. Dabei geht es vor allem um die Stadt Dersim, die
jetzt durch den aufgestauten Uzunçayır-Stausee genötigt ist, eine Kläranlage
auf eigene Kosten zu bauen. Natürlich ist das generell zu begrüßen,
doch muss sie für die Kosten selbst aufkommen, obwohl sie nicht für
das Uzunçayır-Projekt verantwortlich ist und auch keine Ausgleichszahlungen
erhält.
Die Stauseen werden zu Sedimentfallen. Die erste Folge wäre, dass direkt
unter den Talsperren eine Tieferlegung des Flussbettes erfolgen wird.
Während in diesen Fließabschnitten und in den durch Ausleitung trockengelegten
Flussbereichen das Grundwasser absinken würde, wäre es um die Stauseen
herum erhöht. Dies wird sich auf die Landwirtschaft, aber auch auf viele
Wasserquellen in einer großen Region und schließlich auf die Ökosysteme
auswirken. Eine weitere Folge des Rückhaltens der Sedimente wäre die
schnelle Füllung der Stauseen angesichts der nicht geringen Sedimentmengen.
Dies würde auch bedeuten, dass sich die Stauseen in einigen Jahrzehnten
so weit füllen würden, dass eine wirtschaftliche Bewirtschaftung nicht
mehr rentabel wäre. In diesem Fall hätten wir riesige Altlasten in den
Landschaften.
Durch den Bau der Talsperren sollen insgesamt 720 Mio. m³ Erde und Felsen
bewegt werden. Dies ist eine sehr erhebliche Größe, was zu weiteren
ökologischen Verlusten in der Landschaft führen würde.
Die
Zerstörung des Nationalparks Munzur
Am 21. Dezember 1971 wurde nach Gesetz Nr. 6831 eine Landschaft zum
„Munzur-Nationalpark“ erklärt, die mehrere Kilometer nordwestlich der
Stadt Dersim beginnt und sich entlang des Munzur stromaufwärts in Richtung
Pulur über mehrere Dutzend Kilometer bis hinein in das Mercan-Tal erstreckt.
Mit seinen 42 000 Hektar ist er der sechstgrößte Nationalpark der Türkei.
Als der Nationalpark Munzur entstand, wurden alle Tiere bis auf den
Wolf, den Schakal, den Raben und das Wildschwein unter besonderen Schutz
gestellt. Einige Vögel dürfen nur zu bestimmten Jahreszeiten gejagt
werden, andere überhaupt nicht.
Nach dem Nationalpark-Gesetz darf eigentlich das ökologische und natürliche
Gleichgewicht in keinem Fall gestört oder zerstört werden. Das natürliche
wilde Leben im Nationalpark darf demnach nicht beeinträchtigt werden.
Jedes Vorhaben, das sich mit diesen Zielen nicht vereinbaren lässt,
ist zu untersagen. Doch die Regierung beruft sich auf Gesetze, wonach
ein starkes öffentliches Interesse – hier Stromproduktion – solche Projekte
erlaubt.
Strom
für wen? Eine Kosten-Nutzen-Betrachtung
Wie oben erwähnt, sollen die Projekte in Dersim ausschließlich Strom
produzieren. Die geplante Kapazität von 534 MW ist angesichts der Investitionskosten
von etwa 2,5 Mrd. US-Dollar9 – die Umsiedlungskosten
sind nicht mit einberechnet – extrem hoch. 534 MW entsprechen etwa einem
Prozent der aktuellen türkischen Stromkapazität und machen somit nur
einen Bruchteil des Stromverbrauchs aus. Zum Vergleich: Das ebenfalls
abzulehnende Ilısu-Wasserkraftwerkprojekt am Tigris wäre sogar mit etwa
3 Mrd. US-Dollar Kosten und einer Kapazität von 1 200 MW wirtschaftlich
effektiver.
Dersim wird von der geplanten Stromproduktion überhaupt nicht profitieren,
weil diese für die Großstädte und die Industrie im Westen der Türkei
gedacht ist. Es ist auch nicht vorgesehen, dass die Provinz aus den
Stromeinnahmen einen Betrag erhalten soll, obwohl sie die Kosten dafür
trägt. Der Keban-Staudamm wurde 1974 fertiggestellt, doch wurden die
Dörfer in Dersim erst um 1989 elektrifiziert. Nur während des mehrjährigen
Baus finden einige Menschen vorübergehend Arbeit, die überdies schlecht
bezahlt ist. Anschließend bleiben praktisch keine Arbeitsplätze übrig
– die wenigen werden in der Regel von Fachkräften von außerhalb besetzt.
Von regionaler Entwicklung ist nicht mal ansatzweise zu sprechen.
Neben den politischen Gründen ist ein falsches Energiekonzept der Türkei
für so viele zerstörerische Wasserkraftwerkprojekte verantwortlich.
Die auf Erdgas und Erdöl basierenden thermischen Kraftwerke werden zusammen
mit den Wasserkraftwerken systematisch ausgebaut, während der Entwicklung
erneuerbarer Energien bewusst Steine in den Weg gelegt werden. Doch
das Potenzial an Wind und Sonne in der Türkei ist sehr hoch – auch in
Dersim – und es gibt viele Interessierte, die investieren würden, wenn
sie dürften. Weiterhin müsste die Türkei die elektrische Energie in
den Haushalten und in der Industrie effektiver nutzen. Doch wo zuerst
investiert werden müsste, ist in die Überholung der vorhandenen verlustreichen
Stromleitungen. Wenn die 2,5 Mrd. US-Dollar hier investiert werden würden,
könnte der momentane Verlust von etwa 21 % um bis zu ein Drittel reduziert
werden, was wirtschaftlich sinnvoller wäre als die Projekte in Dersim.
Ein weiterer möglicher Grund für die Talsperrenprojekte in Dersim ist
die weit vorangeschrittene Sedimentierung des Keban-Stausees. Der 1974
fertiggestellte Keban-Stausee füllt sich mit hoher Geschwindigkeit,
er wird wahrscheinlich aus ökonomischer Perspektive nicht mehr lange
Sinn machen. Der Munzur ist ein Fluss mit nicht geringer Sedimentführung,
denn er kommt aus sehr bergigen Gebieten, doch der Eintrag aus Dersim
ist insgesamt relativ klein. Um den Sedimenteintrag zu verringern, sollte
vielmehr umfassend aufgeforstet werden, damit die Erosion an den Hängen
unterbunden wird (hier sei anzumerken, dass in der Türkei die Aufforstung
oft mit günstigen klimafremden Bäumen durchgeführt wird).
Eine umfassende Bilanzierung von volkswirtschaftlichen Nutzen und Kosten
liegen hier, wie auch bei den Staudämmen des GAP-Projekts, nicht vor.
Welche
Alternativen für eine sozio-ökonomische Entwicklung gibt es denn für
Dersim? Die Wirtschaft basiert(e) vor allem auf der Viehwirtschaft,
die Landwirtschaft trägt nur im Süden der Provinz viel bei. Zunächst
müssten viele der in den 90er Jahren Vertriebenen ausreichende Entschädigungen
erhalten, damit sie in ihren Dörfern zur wirtschaftlichen Produktion
etwas beitragen können. Gleichzeitig könnte eine auf Vieh- und Landwirtschaft
basierende Verarbeitungsindustrie aufgebaut werden. Die Milchprodukte,
der Honig und einige Pflanzen sind seit Jahren im ganzen Land bekannt.
Die bewaldete und vielfältige Natur mit dem Munzur und den bewaldeten
Bergen zieht seit 2000 immer mehr Menschen als TouristInnen an. Ein
ökologisch verträglicher Ökotourismus könnte viel zum Einkommen der
Menschen beitragen. Alternative Energien wie Solar- und Windenergie
haben in Dersim ein sehr großes Potenzial. Der hohe Bildungsstandard
der Bevölkerung könnte für gewisse Forschungseinrichtungen oder Dienstleistungen
interessant sein.
Aktivitäten
gegen die Talsperren
Im Jahre 2000 nahm die Bevölkerung Dersims die Bedrohung durch die Talsperren-
und Wasserkraftwerkprojekte erstmals umfassend wahr. Dies hatte zwei
Gründe. Zum einen mussten die Menschen mit ansehen, dass wegen des Baus
des Uzunçayır-Staudamms viel Erde und Fels bewegt bzw. gesprengt wurde
und die Population der rot gefleckten Forelle schrumpfte. Zweitens blieb
bis 1999 wegen der verbreiteten Repression gegen die Bevölkerung (Verbote
von Vereinen, Verhaftungen, Folter und Lebensmittelembargo) durch den
Staat dieses Thema im Hintergrund und es gab keinen Spielraum für Aktivitäten.
Anfang 2000 kamen Menschen aus Dersim in Istanbul im Rahmen von Vereinen
(z. B. Tudef und Munzur-Umweltverein) zusammen und begannen, zu den
Talsperren Untersuchungen und Infoveranstaltungen durchzuführen. Kurze
Zeit später engagierten sich Menschen auch in Dersim. Ab 2001 wurden
in Dersim alle Aktivitäten vom „Verein zum Erhalt des Munzur-Tals und
natürlichen Lebens“ koordiniert. 2003 gründete sich in Istanbul die
Studierendengruppe „Die Verrückten von Munzur“ (Bome Munzurî), die mit
ihren Protesten bis Anfang 2006 viel Aufsehen erregten. Parallel zu
den Aktivitäten in Dersim und der Türkei wurden Menschen und Gruppen
auch in Europa – vor allem in der BRD und in Österreich – aktiv. Ab
2005 jedoch nahmen die Proteste gegen die Talsperren sowohl in Dersim
als auch in den Metropolen ab, weil die vielen Initiativen untereinander
kaum koordiniert waren, die Kampagnen ohne langfristige Zielsetzungen
arbeiteten und seit 2000 kein neuer Bau von Talsperren oder Wasserkraftwerken
begonnen und die Flutung durch den Uzunçayır-Staudamm immer wieder
hinausgezögert worden war. Ab 2006 waren nur noch zwei Vereine in Istanbul
sporadisch aktiv.
Um 2000/2001 wurden zwei Verfahren gegen die Talsperren in Dersim eröffnet.
Als Hauptargument dafür diente der Nationalpark Munzur, der nach türkischen
Gesetzen nicht erheblich verändert werden darf. Zweimal wurden durch
Gerichtsbeschlüsse die Projekte Konaktepe I+II gestoppt. Doch jedes
Mal klagte das DSI bzw. die Regierung erfolgreich dagegen.
Erst die Stauung durch den Uzunçayır-Staudamm im Sommer 2009 und die
zusätzlichen Wasserkraftwerkprojekte in Dersim haben die Menschen dazu
bewegt, erneut aktiv zu werden. Auch die vielen neuen talsperrenkritischen
Bewegungen in der Türkei tragen dazu bei, dass sie durch ihre laufenden
Kontakte die Menschen in Dersim zu mehr Aktivität bewegen. Im September
2009 hat sich eine Koalition von 37 Organisationen aus Dersim und den
Metropolen gebildet, die am 10. Oktober eine Protestdemonstration mit
über 20 000 Menschen organisierte, was als die bis dahin größte Anti-Talsperren-Demonstration
in die Geschichte der Türkei einging. Aus diesem Bündnis wurde schließlich
die „Umweltinitiative Dersim“. In dieser neuen Koalition sind u. a.
die Stadtverwaltung Dersim, Gewerkschaften, soziale und Frauenorganisation,
politische Parteien und auch die kürzlich gegründete Gruppe „Naturaktivisten
Munzur“. Parallel dazu bildet sich auch in Europa ein Netzwerk aus mehreren
Gruppen und Einzelpersonen, um den Projekten in Dersim von Europa aus
entgegenzuwirken. So entsteht eine große Kampagne mit vielen AktivistInnen,
die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die weiteren Projekte stoppen
werden, das Bewusstsein für das ökologisch-kulturelle Erbe in Dersim
erweitern und eine neue Diskussion über die regionale Entwicklung dieser
Provinz anregen können, die auch Früchte tragen wird. t
Fußnoten:
1 Dersim ist die unter den 81 Provinzen einzig mehrheitlich alevitisch
bewohnte.
2 Antwort des Staatlichen Wasseramtes (DSI) an die Stadtverwaltung Dersim,
Januar 2010
3 Günlük Gazetesi: 134 yıllık sürgün plan, 13.10.2009
4 Internetseite des Staatlichen Wasseramtes DSI, Link: HES Su Kullanım
Anlaşmaları, http://www.dsi.gov.tr/ska/ska.htm
5 Diese Information basiert auf Angaben einiger MitarbeiterInnen des
DSI, die nicht offiziell und daher mit Unsicherheit zu genießen sind.
Siehe auch: Turna, Celal: Das Munzurtal und das Problem der Staudämme,
im Auftrag des Tunceli-Solidaritätsausschusses und der Dersim-Initiative,
Istanbul 2000
6 Mündliche Anfrage der österr. Organisation ECA-Watch an die Österreichische
Kontrollbank ÖKB
7 Fırat News Agency (ANF): Munzur Vadisi Dünya Mirasıdır; Untersuchung
des Vereins „Uygulanabilir Yaşam Derneği“ Artikel vom 08.02.2010, www.firatnews.com
8 Turna, Celal: s. o.
9 Turna, Celal: s. o.