Türkei
ist Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse
Zeugnis der Türkei über Pressefreiheit
Günay
Aslan, Journalist
Am 14. Oktober 2008 wird der türkische Staatspräsident Abdullah Gül
mit dem türkischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk an
der Eröffnung der Buchmesse teilnehmen. Gemeinsam mit Gül und Pamuk
werden an der Messe Tausende von SchriftstellerInnen und VerlegerInnen
aus der Türkei teilhaben. Im Rahmen der Buchmesse werden fast täglich
Werbefeierlichkeiten für die Türkei und für die türkische Literatur
stattfinden.
Türkei legt großen Wert auf die Buchmesse
Die Türkei ist bemüht, die demokratische Gesellschaft, die sie mit ihrer
antidemokratischen Praxis gegenüber den Minderheiten, unterschiedlichen
Religionen, Sprachen und Kulturen gegen sich aufgebracht hat, mit dieser
Messe erneut für sich zu gewinnen. Für dieses Ziel scheut sie keinerlei
finanzielle Kosten und betreibt eine umfangreiche Lobbyarbeit.
Mit diesem Artikel soll das Gastland der diesjährigen Buchmesse aus
Sicht der Pressefreiheit unter die Lupe genommen werden. Mit Fakten
und Sachverhalten anhand von Gerichtsentscheidungen wollen wir die Situation
der Pressefreiheit aufzeigen.
Inhaftierte JournalistInnen
In der Türkei befinden sich am heutigen Tage, dem 22. September 2008,
zwanzig Journalistinnen und Journalisten aufgrund ihrer Artikel im Gefängnis:
1) İbrahim Çiçek, Journalist und Schriftsteller sowie Herausgeber der
Tageszeitung Atılım, F-Typ-Gefängnis Tekirdağ 2 Nolu
2) Sedat Şenoğlu, Jornalist und Schriftsteller sowie Koordinator der
Zeitung Atılım, F-Typ-Gefängnis Edirne 1 Nolu
3) Füsun Erdoğan, Sendekoordinator des Radiosenders Özgür, Sondergefängnis
von Gebze/Kocaeli
4) Hasan Coşar, Publizist der Zeitung Atılım Gazetesi, F-Typ-Gefängnis
Sincan/Ankara
5) Ziya Ulusoy, Publizist der Zeitung Atılım, F-Typ-Gefängnis Tekirdağ
1 Nolu
6) Bayram Namaz, Publizist der Zeitung Atılım, F-Typ-Gefängnis Edirne
1 Nolu
7) Hatice Duman, Zeitungsinhaberin und Geschäftsführerin der Zeitung
Atılım, Sondergefängnis von Gebze/Kocaeli
8) Behdin Tunç, Berichterstatter der Nachrichtenagentur DIHA für Şırnak,
D-Typ-Gefängnis Diyarbakır
9) Faysal Tunç, Berichterstatter der Nachrichtenagentur DIHA für Şırnak,
D-Typ-Gefängnis Diyarbakır
10) Haydar Haykır, Berichterstatter der Nachrichtenagentur DIHA für
Şırnak, M-Typ-Gefängnis Batman
11) Ali Buluş, Berichterstatter für Mersin, E-Typ-Gefängnis Mersin
12) Mehmet Karaaslan, Mitarbeiter der Mersin-Vertretung der Tageszeitung
Gündem, E-Typ-Gefängnis Mersin
13) Mahmut Tutal, Mitarbeiter der Tageszeitung Gündem aus Urfa, E-Typ-Gefängnis
Urfa
14) Erol Zavar, Dichter und Inhaber und Geschäftsführer der Zeitschrift
Odak, F-Typ-Gefängnis Sincan/Ankara
15) Mustafa Gök, Ankara-Vertreter der Zeitschrift Ekmek ve Adalet, F-Typ-Gefängnis
Sincan/Ankara
16) Barış Açıkel, Inhaber und Chefredakteur der Zeitung İşçi Köylü,
F-Typ-Gefängnis Kandıra 1 Nolu, Kocaeli
17) Hüseyin Habip Taşkın, Publizist für die Zeitschriften Güney und
Sosyalist Mezopotamya und die Zeitung Çoban Ateşi, Gefängnis Manisa
18) Mehmet Bakır, ehemaliger Herausgeber der Zeitschrift Güney, F-Typ-Gefängnis
Bolu
19) Erdal Güler, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Devrimci Demokrasi,
E-Typ-Gefängnis Amasya/İstanbul
20) Murat Coşkun, Autor des Frauenbuches „Acının Dili“ („Die Sprache
des Schmerzes“), Gefängnis Adana
Geschlossene Zeitungen, TV- und Radio-Sender
Am 19. September 2008 wurde die Tageszeitung Alternatif für einen Monat
eingestellt, weil sie eine Erklärung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan
veröffentlicht hatte. Das Urteil wurde in Istanbul verhängt. Die seit
dem 19. Mai 2008 erscheinende Zeitung war bereits am 26. Mai zum ersten
Mal für einen Monat geschlossen worden.
Am heutigen Tage (22. September 2008) wurde auch die Zeitschrift Özgür
Halk ebenfalls für einen Monat geschlossen. Sie hatte ihre Arbeit im
August 2008 aufgenommen. Innerhalb der letzten zwei Jahre wurden insgesamt
27 Schließungsurteile gegen die kurdische Presse, darunter auch die
Zeitung Alternatif, verhängt:
1) Ülkede Özgür Gündem wurde am 4. August 2006 für 15 Tage geschlossen,
2) am 16. November 2006 für 15 Tage,
3) Gündem wurde am 6. März 2007 für 1 Monat geschlossen,
4) am 9. April 2007 für 15 Tage,
5) am 12. Juli 2007 für 15 Tage,
6) am 8. September 2007 für 1 Monat,
7) am 9. September 2007 für 1 Monat,
8) am 14. November 2007 für 1 Monat,
9) Yaşamda Gündem erhielt am 10. März 2007 Erscheinungsverbot,
10) Güncel am 30. März 2007,
11) Güncel wurde am 17. Juli 2007 für 12 Tage geschlossen,
12) am 17. Oktober 2007 für 1 Monat,
13) Gerçek Demokrasi wurde am 16. Oktober 2007 für 1 Monat geschlossen,
14) am 21. November 2007 für 1 Monat,
15) YedinciGün wurde am 12. November 2007 für 15 Tage geschlossen,
16) am 27. November 2007 für 1 Monat,
17) am 12. Januar 2008 für 1 Monat,
18) am 3. März 2008 für 1 Monat,
19) Haftaya Bakış wurde am 8. Dezember 2007 für 1 Monat geschlossen,
20) am 2. Februar 2008 für 1 Monat,
21) am 18. März 2008 für 1 Monat,
22) Yaşamda Demokrasi wurde am 16. Dezember 2007 für 1 Monat geschlossen,
23) am 17. Februar 2008 für 1 Monat,
24) Toplumsal Demokrasi wurde am 5. Januar 2008 für 1 Monat geschlossen,
25) am 25. Februar 2008 für 1 Monat,
26) Azadiya Welat wurde am 23. März 2007 für 20 Tage geschlossen,
27) Zeitschrift Özgür Halk am 22. Oktober 2008 für 30 Tage.
Zudem werden Fernsehsender wie ROJ-TV, der zwar nicht an die türkische
Gesetzgebung gebunden ist, weil er mit einer Sendegenehmigung in Europa
(Dänemark) ausstrahlt, behindert. Der Empfang wird in kurdischen Provinzen
wie Diyarbakır, Batman, Hakkari, Siirt, Van, Dersim und Mardin durch
Störsignale sabotiert. Es ist zwar bekannt, dass diese Störsignale von
Militärstützpunkten ausgehen, aber bislang wurde nichts dagegen unternommen.
Auch wenn Experten das Senden von Störsignalen als rechtswidrig erklären,
so behindert der türkische Staat das Recht der kurdischen Bevölkerung
auf Information.
Außerdem musste der in der Türkei ansässige Fernsehsender Hayat TV seine
Arbeit für 20 Tage einstellen.
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden in den letzten
zwei Jahren 108 Radiosender für annähernd 3500 Tage geschlossen. Zumeist
war davon Özgür Radyo betroffen, das die Gedichte des im Exil gestorbenen
Nâzım Hikmet und Songs des ebenfalls im Exil gestorbenen Ahmet Kaya
sendet. Die Radiosender Mir und Nur wurden endgültig geschlossen.
Zwischen 2006 und 2008 wurden gegen 200 SchriftstellerInnen und AkademikerInnen,
darunter 72 Journalistinnen und Journalisten, Verfahren wegen „Meinungsvergehen“
eingeleitet. Einer von ihnen war der armenische Journalist Hrant Dink,
der wegen „Beleidigung des Türkentums“ nach Artikel 301 des türkischen
Strafgesetzbuches verurteilt wurde.
Hrant Dink wurde damit zur Zielscheibe erklärt und am 17. Januar 2007
ermordet. Auch wenn die Verbindung der Täter zum Staat aufgedeckt wurde,
blieb dies bislang ohne Folgen.
Auch der Schriftsteller Orhan Pamuk, der am 14. Oktober mit dem türkischen
Staatspräsidenten an der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse teilnehmen
wird, wurde nach diesem Artikel verurteilt und während des Verfahrens
von Faschisten angegriffen.
Die Türkei hat infolge der Reaktionen aus der EU diesen Artikel 301
des türkischen Strafgesetzbuches modifiziert. Aber die Änderungen beziehen
sich nicht auf seinen Inhalt. Es wurde lediglich die Zuständigkeit für
eine Verfahrenseinleitung nach Artikel 301 von der Staatsanwaltschaft
auf das Justizministerium übertragen. Der türkische Justizminister Mehmet
Ali Şahin scheint sehr scharf auf diese Genehmigung zu sein. So stimmte
er letzten Monat einem Verfahren gegen den Schriftsteller Temel Demirer
zu. Demirer wird nun verurteilt.
Gesetz ist geändert, Anwendung aber nicht
Die Türkei führt mit der EU Beitrittsverhandlungen und besitzt den Status
einer Beitrittskandidatin. Aus diesem Grunde ist sie gezwungen, einige
Gesetzesänderungen vorzunehmen und das Presserecht dem Standard Europas
anzugleichen. So verabschiedete sie, in der Kritik internationaler Menschenrechtsorganisationen
sowie Presseorgane stehend, im Juni 2004 ein neues „Presse-Gesetz“.
Die Funktionsträger der AKP-Regierung, die es ausgearbeitet hatten,
erklärten seinerzeit, dass Pressevergehen der Vergangenheit angehören
würden. Leider wurde dieses Versprechen nicht eingehalten. Wie auch
die obige Liste belegt, existiert die Gesetzesgrundlage, die die Freiheit
der Presse einschränkt, noch immer.
Die Veränderungen im Pressegesetz sind mehr formeller als inhaltlicher
Natur. Das Gesetz wurde zwar geändert, der Inhalt jedoch nicht. Sein
dritter Artikel zeigt, was der türkische Staat unter Pressefreiheit
versteht.
Dort heißt es: „Entsprechend den Notwendigkeiten einer demokratischen
Gesellschaft ist rechtlich garantiert, dass die Pressefreiheit eingeschränkt
werden kann, um den Ruhm und die Rechte anderer, Wohlergehen und Ethik
der Gesellschaft, die nationale Sicherheit, öffentliche Ordnung, öffentliche
Sicherheit und Einheit des Landes zu schützen, um den Verrat von Staatsgeheimnissen
und das Begehen von Straftaten zu unterbinden, sowie zur Sicherung der
Stärke, Autorität und Unabhängigkeit der Justiz. Danach können entsprechende
zuständige Instanzen die Freiheit der Presse einschränken, wenn im Falle
von Veröffentlichungen Angriffe auf die nationale Sicherheit, öffentliche
Sicherheit, öffentliche Ordnung, die Einheit des Landes ‚festgestellt’
werden oder um Straftaten vorzubeugen und die Stärke, Autorität und
Unabhängigkeit der Justiz zu sichern.“
Dieser Artikel ist aus Sicht von Journalistinnen und Journalisten wie
ein Minenfeld. Denn eine Nachricht oder ein Kommentar von ihnen kann
die militärische nationale Sicherheit, das Herrschaftssystem des Staates
oder die vom militaristischen System festgelegte Einheit des Landes
gefährden. Oder als Verrat von Staatsgeheimnissen oder als Schädigung
der staatlichen Autorität befunden werden. In diesem Fall würde die
Pressefreiheit eingeschränkt werden. Allein dieser Artikel zeigt, dass
es in der Türkei keine Pressefreiheit gibt.
Des Weiteren schränken viele Bestimmungen des türkischen Strafgesetzbuches
und der Antiterrorgesetze die Freiheit der Presse ein.
Wenn Sie – wie in meinem Falle – die Repressionen und Folterungen der
türkischen Sicherheitskräfte gegenüber den Kurdinnen und Kurden in Ihren
Artikeln thematisieren, können Sie im Gefängnis landen, weil Sie damit
„die Moral der Sicherheitskräfte schädigen“ oder „Propaganda für eine
Terrororganisation betreiben“.
Vorher war es noch finsterer
Dieses Stadium der Pressefreiheit hat die Türkei im Rahmen der EU erreicht.
Aber es gibt auch die Situation davor. Die Türkei stand noch bis vor
kurzem an der Spitze der Staaten mit den meisten ermordeten und inhaftierten
Journalistinnen und Journalisten. In den Jahren 1990 bis 1995, Jahren
des sehr gewaltsamen Krieges gegen die Kurdinnen und Kurden, wurden
annähernd 50 JournalistInnen, ZeitungsverteilerInnen und BerichterstatterInnen
ermordet.
Im November 1994 wurde auf das Gebäude der Tageszeitung Özgür Ülke ein
Bombenanschlag verübt. Eine Zeitung wurde schon nach sieben Tagen geschlossen.
Über 30 Journalisten mussten ins Ausland fliehen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof
hat die Türkei mehrmals wegen der ermordeten kurdischen JournalistInnen,
wegen der Anschläge und Schließungen kurdischer Zeitungen verurteilt.
In der Türkei gibt es noch immer antidemokratische Gesetze und eine
Praxis gegen die freie Presse. Aber trotz dieser Realität wird diesen
Verletzungen in der europäischen Presse nicht derselbe Platz eingeräumt
wie früher. Es ist offensichtlich, dass die wirtschaftlichen Beziehungen
einiger EU-Staaten, allen voran Deutschlands, hierbei eine Rolle spielen.
Es gibt aber noch ein Problem: Die Türkei sieht sich nicht als ein Land,
das Probleme mit Presse- und Meinungsfreiheit hat. Sie stempelt die
JournalistInnen und Intellektuellen als „Verräter“ ab, die die Realitäten
ihres Landes zur Sprache bringen. Aus diesem Grunde schafft sie zwar
formell Gesetzesreformen im Rahmen der EU-Verhandlungen, aber die Mentalität
bleibt unverändert. Der gegenwärtige faschistische Terror bedroht zusätzlich
ernsthaft die Presse- und Meinungsfreiheit.
Neben den antidemokratischen Gesetzen, staatlichen und faschistischen
Repressionen ist ein weiterer Faktor für die Behinderung der Pressefreiheit
das Pressemonopol. In der Türkei gibt es jeweils eine islamistische
und eine laizistisch-kemalistische Unternehmergruppe, die von der Bauwirtschaft
bis zur Erdöllieferung in diversen Bereichen tätig sind. Diese haben
in der Türkei gegenwärtig fast alle Presseorgane in der Hand.
Tageszeitungen mit hoher Auflage unter ihrer Kontrolle verfolgen das
Ziel, die Interessen ihrer Besitzer auf Kosten der Presseethik zu vertreten.
Sie spielen zudem die Rolle innerer Quartiere der psychologischen Kriegsführung
gegen die Bevölkerung.
Als ich mit diesem Artikel begann, betrug die Zahl der inhaftierten
JournalistInnen und SchriftstellerInnen 20. Soeben habe ich per E-Mail
die Nachricht von einer weiteren Festnahme erhalten. Der Schriftsteller
Hamit Baldemir wurde in Batman festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.
Er ist bekannt für seine Recherchen über die kurdische Sprache.
In einer Presseerklärung kurdischer demokratischer Institutionen zur
Festnahme Baldemirs wird unter anderem darauf verwiesen, dass für die
kurdische Politikerin und ehemalige DEP-Abgeordnete Leyla Zana wegen
einer Rede 70 Jahre Gefängnis gefordert werden.
Mahmut Alinak, ehemaliger Abgeordneter aus Şırnak, befindet sich auch
unter denen, die den August im Gefängnis verbracht haben, weil er zu
„Ungehorsam“ angestiftet haben soll. Trotz seiner Freilassung am 13.
September laufen die Verfahren gegen ihn weiter.
Ebenso wurde der Autor Hasan Basri Aydın aufgrund eines Antrags an den
ehemaligen Justizminister Cemil Çiçek bestraft. Der Schriftsteller,
schon früher wegen angeblicher Beleidigung Çiçeks verurteilt, erhielt
zwei 15-monatige Gefängnisstrafen. Das Verfahren ist gegenwärtig in
Revision.
Auch gegen Kasım Çakan, Autor des Buches „Als Unteroffizier Soldat sein“,
und gegen seinen Verleger Mehdi Tanrıkulu wurde ein Verfahren nach Artikel
7 des Anti-Terror-Gesetzes eröffnet.
Das ist das Presse-Zeugnis des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter
Buchmesse.
Ich hoffe, dass der türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei der Eröffnung
der Buchmesse am 14. Oktober 2008 auch nach den inhaftierten JournalistInnen
und SchriftstellerInnen, den geschlossenen Zeitungen, TV- und Radio-Sendern
gefragt werden wird. Auch wenn die Antworten Güls abzuschätzen sind,
so ist es doch wichtig, das Thema auf der Tagesordnung zu halten und
die Wahrheit zur Sprache zu bringen.