Anmerkungen
zu einem Thema:
Kirkuk Kurdisch Jerusalem
Hans Branscheidt, EUTCC
Kirkuk ist kurdisch! – Dieser
Auffassung sind alle und fraktionsübergreifend: Nationalistische Kurden
in den USA oder England, Kurden aus allen Teilen Kurdistans, feministische
Kurdinnen und sozialrevolutionäre Kurden. Kirkuk bedeutet Reichtum und
weit mehr noch: bedeutet fundamentale Identität. Kirkuk ist ein patriotisches
Projekt, eine nationale Angelegenheit.
Offenbar sogar auch bei denen, die strikt anti-nationalistisch argumentieren.
Zwar unterscheiden sich die einzelnen Zukunftsbestimmungen der jeweiligen
politischen Fraktionen für Kirkuk durchaus – klar und unumstößlich aber
ist: Kirkuk ist nicht nur genuin kurdisch, sondern liegt auch auf dem
Terrain einer nationalen kurdischen Selbstverwaltung. Die Administration
der Stadt selber mag sich aus den diversen Gruppen und Ethnien und Religionsgemeinschaften
rekrutieren, – was aber eigentlich ohnehin nach den neuen irakischen
Gesetzen selbstverständlich wäre und daher eigentlich kein sonderliches
Zugeständnis bedeuten würde.
Wie immer es ist oder kommt: Kirkuk ist nicht Irak, Kirkuk ist die Tendenzmetropole
eines zukünftigen Kurdistans jenseits des arabischen Irak.
Das ist die geltende Auffassung und wer möchte dabei nicht an kurdisches
nation building denken?
Kirkuk ist tatsächlich eine kurdische Angelegenheit. Es waren andere,
die diese Tatsache negieren und die Provenienz dieser Metropole unterlaufen
und umdeklarieren wollten. Durch Eroberungen, durch begleitende massive
Umsiedlungen. 1879 annektierte das Osmanische Reich das Wilayet von
Mosul nebst Kirkuk und wir lesen in der Enzyklopädie „Qamusl Al A’ala’m“
des Eroberers Shamsadin Sami: „Das neu eroberte Gebiet um Kirkuk ist
gelegen inmitten des Verwaltungsbezirks (Wilayet) von Mosul und dies
ist ein Teil von Kurdistan. Dieses Kirkuk liegt lokalisiert 25 pharsings
(100 Meilen) südöstlich der Stadt Mosul. Man erblickt die Stadt inmitten
einer Reihe von parallel laufenden Bergzügen und ganz nahe eines großen
Tals mit Namen Vale of Adham. Es ist dies (Kirkuk; der Verf.) die Verwaltungshauptstadt
für das Sharazur Wilayet und kennt eine Population von 30 000 Menschen.“
Der Historiker und zugleich Eroberer vergisst nicht hinzuzufügen, dass
2/3 der Bewohner Kurden sind, der Rest ergibt sich aus erstens Turkmenen,
danach den Arabern und anderen. Shamsadin Sami zählt am Ende noch 760
jüdische Familien.
Die Geschichte der Stadt vollzieht sich nun weiter von Tragödie zu Tragödie:
durch die Zeit der osmanischen Beherrschung, danach interessierten sich
die Briten erstmals für Kirkuk (und verzichteten dafür auf Sulaimania),
weil es um Kirkuk herum Öl gab. Folgende deals zwischen Frankreich und
England, in Kontroverse mit deutschen und türkischen Interessen, deklarierten
Kirkuk als Teil des künstlich geschaffenen Irak. Die Bewohner hatte
nie jemand gefragt.
Sofern sie Kurden waren, ereignete sich nun an ihnen die gnadenlose
Odyssee des Vertreibens und Verdrängens, des Umsiedelns und im Kontrazug
die Neuansiedlung von arabischen Populationen.
Wie stark die kurdische Identität dieser Stadt ist, die allen Versuchen
ihrer Auslöschung widerstand, zeigt sich in diesen Tagen, wo wieder
nichts anderes aus jeder demografischen Untersuchung und jeglichem Referendum
entspringen würde als: Kirkuk bekennt sich kurdisch.
So eindeutig die Sache ist, so schwierig ist es, Status und Zukunft
der kurdischen Schicksalsmetropole zu definieren.
Die Einbeziehung der Stadt in das Gebiet der Kurdischen Regionalverwaltung
(KRG) wäre vielleicht zu Beginn der US-Intervention möglich gewesen.
Sie wurde versäumt, weil falsch kalkuliert wurde: Nämlich, dass man
am Ende mit amerikanischem Zuspruch per Referendum automatisch über
Kirkuk werde verfügen können.
Aus dem seinerzeit materialisierbaren Anspruch auf Kirkuk ist aktuell
Phraseologie geworden.
Der zentrale Irak beansprucht Kirkuk. Die Türkei möchte die Stadt als
Teil des Irak anerkennen. Die Europäer denken genauso, die in diesem
September die Kirkuk-Turkmenen im EU-Parlament mit Verständnis bedachten.
Der Iran sieht es nicht anders. Die arabischen Staaten denken so. Die
Vereinten Nationen haben das de-Mistura-Konzept vorgelegt, das die Kurden
tief enttäuschte. Die christlichen und anderen Minderheiten beklagen
das neue (zurückgestellte) Regionalwahlrecht, das ihnen nach ihrer Auffassung
gerade nicht die Minderheits-Rechte gewährt, die angeblich sie in Kirkuk
wahrnehmen könnten. Und Celal Talabani favorisiert in seinem Herzen
ebenfalls eher einen irakischen Status für die Stadt, auf die er und
die PUK womöglich unter solchen Umständen mehr Einfluss nehmen können,
als wenn diese unter die Hoheit der KRG geriete.
Niemand von Macht und Bedeutung setzt sich zurzeit dafür ein, dass Kirkuk
den Status einer kurdischen Stadt in Kurdistan erhält. Zurzeit bleibt
tatsächlich nur die patriotische Phraseologie.
Was aber kann wirklich und was sollte vielleicht aus Kirkuk werden?
Am 3. September 2008 kam es zu einer interessanten Begegnung eines kleinen
Kreises von Nah-Ost-Experten, Wissenschaftlern und Politikern im holländischen
Außenministerium in Amsterdam.
Hauptreferent war der im Mittleren Osten bekannte Martin Indyk. Indyk,
ein früherer Berater Clintons fungiert zurzeit übergangsweise als Chef
des SABAN Centers für den Mittleren Osten und, das macht die Sache aufschlussreich,
unterstützt den Wahlkampf Obamas, der ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit
zu seinem Nah-Ost-Beauftragten machen wird.
Was sagte er? - Im Wortlaut: „Beide, Obama wie McCain, sind und werden
in einer fortdauernden Beziehung den Kurden verbunden bleiben. Dies
jedoch nicht ohne Erwartungen und Voraussetzungen: Die kurdischen Parteien
des Irak sollten die PKK nicht tolerieren. Das ist das eine, zum anderen
sollten sie ihre Aspirationen nicht nach Norden richten, sondern ihre
Zukunft als Teil des Irak erkennen. Wir sind gewiss, dass sowohl Barzani
wie auch Talabani diese Ansicht mit uns teilen. Es mag sein, dass die
Kurden gute historische Gründe haben, mit dem Irak zu brechen: aber
sie sollten dennoch realistisch Teil des Irak sein, wenn sie wollen
als Föderation. Wir erwarten von beiden Führern, die dies auch wissen,
dass sie diesbezüglich andere Erwartungshaltungen ihrer Bevölkerung
dämpfen. Noch einmal, es ist im höchsten Interesse der Kurden, Teil
des Irak zu sein. Was den Plan von Senator Biden angeht, der ja älteren
Datums ist und wo von einer Teilung des Irak die Rede ist: Nun, dieser
Plan gilt nicht mehr, aber (lachend) er hatte durchaus einen aktuellen
Nutzen, um ein wenig Druck auf die Maliki-Regierung auszuüben, wenn
es um den Abzugsvertrag unserer Truppen ging.“
Der prospektive künftige Nah-Ost-Mann des wahrscheinlichen Präsidenten
Obama wusste im Übrigen nicht genug zu betonen, dass sein kommender
Chef mehr als andere US-Präsidenten die bedeutsame Rolle der Türkei
zu schätzen wissen wird: „Obama wie allerdings auch McCain werden sich
stärker positiv auf die Türkei konzentrieren, die unbedingt eine entscheidende
und gestaltende Rolle im gesamten Mittleren Osten übernehmen sollte.
(….) Was die Kirkuk-Frage angeht, so ist auch hier eine klare Entscheidung
jeder neuen US-Administration zu erwarten: Sie wird im Wesentlichen
dem Demstore-Bericht und den Auffassungen der Vereinten Nationen entsprechen,
die ja in diesem Fall Ausdruck nicht nur des Westens, sondern auch der
Araber, der Iraner und der Türken sowie die Russlands sind. Weshalb
sollten sich die USA hier konträr verhalten? Kirkuk wird nach internationalem
Recht ein Teil des Irak sein und bleiben. Im äußersten Fall käme für
eine Übergangszeit ein UN-Mandat in Frage. Wer das anders will und wer
dagegen handelt, wird dauerhafte und blutige sezessionistische Auseinandersetzungen
erleben.“
FAZIT
Die nationalpatriotisch gedachte Integration Kirkuks in den Verbund
der Kurdischen Regionalregierung wird faktisch zurzeit nicht durchsetzbar
sein.
Ökonomisch ist das kein Problem: würden nur jene 17 % der Öl-Revenuen,
die auf alle Fälle an die Kurden gehen, sinnvoll und entwicklungspolitisch
richtig investiert, Kurdistan könnte blühen.
Man muss nicht Kirkuk kontrollieren, um Kurdistan zu entwickeln, sondern
die Korruption in Kurdistan und die ökonomische Inkompetenz Süd-Kurdistans.
Bliebe aber immer noch, den Status von Kirkuk zu definieren.
Wer brüderlich und geschwisterlich im Mittleren Osten leben will, sollte
sich in allen Fällen auch antinationalistisch verhalten und sollte eher
an „Vereinigte Staaten des Mittleren Ostens“ denken und weitreichende
Entwicklungsperspektiven. Solche, die von der unendlich alten und überdauernden
Realität von Vielvölker-Ländern ausgehen, deren Zukunft niemals friedlich
und demokratisch sein wird, wenn geschieden, getrennt und apart zugeordnet
wird: Das gehört dem, dies gehört jenen.
Mit Kirkuk könnte ein weitreichendes, ein überzeugendes, ein leuchtendes
Zeichen auf diesem Weg der allgemeinen Verständigung gesetzt werden:
„Freie Stadt Kirkuk!“
Konkret besäße dann die Metropole Kirkuk den Status einer autonomen
Stadt und könnte und sollte als solche Teil von Kurdistan sein, auf
dessen Territorium sie liegt.
Konstruktionen solcher Art hat es in der Vergangenheit des Öfteren gegeben,
mit Zustimmung des UN-Vorläufers Völkerbund, man denke an die “Freie
Stadt Danzig“.
Die nationalen kurdischen Gemüter müssten nicht traurig sein: Die „Freie
Stadt Kirkuk“ läge in Kurdistan. Die emanzipatorisch orientierten Vertreterinnen
und Vertreter einer modernen kurdischen Zukunft inmitten aller Populationen
und Gemeinschaften des neuen Nahen Ostens sollten dies gerade propagieren:
sie hätten damit ein Zeichen gesetzt, das die Berechtigung ihrer Anerkennung
als Kurden in der Weltgeschichte auf bedeutsame Weise unterstreichen
würde.
Weit mehr als durch die bloße physische Kontrolle über eine Stadt, deren
Öl ohnehin auf dem Lande liegt.