Gedichte und Erzählungen

15. Hüseyin-Çelebi-Literaturveranstaltung

Meral Çiçek

Tiefe Stille hat alle Seiten überzogen
Nur das Surren einer Ameise durchbricht diese Stille
Und dein Ein- und Ausatmen
Die kühle Luft hält deinen Körper frisch
Gleich dämmert es
Ein letztes Mal schaust du auf deinen Genossen
Eure Hände treffen sich
Dann umschlingst du deine Waffe, ganz eng
Dein Finger geht zum Abzug
Dir gegenüber die Stellung des Feindes
In der unbewussten Stille des kommenden Moments
Gleich wird die Stille durchbrochen werden
Wird das Getöse einer klaren Zukunft losgehen
Hüseyin Çelebi

Ein kleiner Blick auf die Tagebuchaufzeichnungen, die Hüseyin Çelebi in den Bergen Kurdistans geführt hat, reicht aus, um den Stellenwert von Literatur in seinem Leben zu erkennen. Ein kleines Tagebuch, gezeichnet vom Leben in den Bergen. Der Umschlag mit Klebeband versehen, um es vor Nässe zu schützen. Die Seiten faltig, wie vom Wind gezeichnet. Und in kleiner Schrift, um Platz zu sparen, Gedichte – geschrieben unter einem Baum, auf einer Klippe beim Sonnenaufgang, im Flammenlicht eines Feuers oder während einer Pause, auf dem Marsch von einem Lager zum nächsten.

„Ich weiß: Gedichte sind nicht das Wasser in der Feldflasche, sind nicht das Brot im Sack, und auch nicht das Blei im Gürtel. Doch können Gedichte diejenigen auf den Beinen halten, die kein Wasser in der Feldflasche, kein Brot im Sack, kein Blei im Gürtel mehr haben.“

Manch einer sagt, Gedichte seien die Sprache des Herzens. Und auch für Hüseyin Çelebi mag Lyrik solch eine Bedeutung gehabt haben. Aus der kurzen Zeit, die er in den Bergen Kurdistans verbracht hat, ist eine Reihe von Gedichten zurückgeblieben. Und das Andenken eines gefüllten Lebens, das viel zu früh ein Ende gefunden hat. Jeder Tod kommt zu früh. Aber Hüseyin Çelebis Tod war viel, viel zu früh. Umso wichtiger war es, seinem Andenken gerecht zu werden und dieses lebendig zu halten. Umso nahe liegender schien es, dies durch die Sprache des Herzens, durch Gedichte und Erzählungen zu verwirklichen.

Hüseyin Çelebi fiel am 11. Oktober 1992 im Süden Kurdistans bei einem Gefecht mit den Peschmerge-Einheiten der KDP. Auf dem 2. Kongress des Verbands der Studierenden aus Kurdistan e.V. (YXK) im Dezember 1992 wurde er zum Ehrenvorsitzenden des Verbands erklärt. Zugleich wurde der Beschluss für die „Hüseyin Çelebi Gedichte und Erzählungen“-Preise gefasst. Diese fanden dann 1993 zum ersten Mal statt. Was damals als amateurhafte Veranstaltung mit einer Handvoll Gedichten und Erzählungen anfing, ist heute qualitativ und quantitativ die größte und älteste literarische Veranstaltung von KurdInnen.
Die „Hüseyin Çelebi Gedichte und Erzählungen“-Preise stellen aus vielerlei Sicht eine Besonderheit dar. Es handelt sich um eine Veranstaltung, die nur von Studierenden organisiert und durchgeführt wird. Die gesamte Organisation, die gleich mit dem Ende der vorherigen Veranstaltung beginnt, wird von jungen KurdInnen, die in Deutschland studieren, übernommen.

Des Weiteren handelt es sich um einen bilingualen Wettbewerb – wobei wir den Begriff Wettbewerb in dem Sinne gar nicht nutzen wollen, da wir der Meinung sind, dass Gedichte und Erzählungen nicht in Wettbewerb gesetzt werden können. Vielmehr geht es darum, jungen Talenten den Weg zu ebnen. Die TeilnehmerInnen haben die Möglichkeit, mit Gedichten und Erzählungen auf Kurdisch und auf Türkisch am Wettbewerb teilzunehmen. Momentan ist es möglich, die literarischen Werke in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Dimilki zu verfassen. Da diese Veranstaltung vor allem das Ziel hat, für die kurdische Literatur einen Beitrag zu leisten und die Menschen, vor allem junge Menschen, dazu anzuregen, in ihrer Muttersprache zu schreiben, machte der YXK die Teilnahme auch in den kurdischen Dialekten Sorani und Gorani möglich.

Erfreulich ist an dieser Stelle vor allem, dass durch diese Veranstaltung der kurdischen Literatur neue Autoren hinzugewonnen werden konnten. Viele Preisträger haben anschließend die Möglichkeit bekommen, ihre Werke zu veröffentlichen. Als Beispiel kann hier das diesjährige Jurymitglied Fatma Savcı genannt werden, die vor einigen Jahren selbst Preisträgerin war und mittlerweile zu einer gefragten kurdischen Dichterin geworden ist.

Dass die Teilnahme auf Türkisch auch möglich ist, ist oft ein Kritikpunkt am YXK. Doch dieser scheinbare Widerspruch macht das zweite Hauptziel der Veranstaltung aus. Ein großer Teil der TeilnehmerInnen besteht aus politischen Gefangenen in der Türkei. Deren kurze Biographien lassen sich wie ein Geschichtsbuch der letzten 20 Jahre der Türkei lesen. Während jede/r Einzelne eine eigene Lebensrealität, eine eigene Geschichte zu erzählen hat, machen diese zusammen doch die Realität eines gesamten Landes aus. Diese Menschen, die eine der offenen Wunden der Türkei darstellen, sollen in kalten und feuchten Kerkern stumm gemacht werden. Sie sollen aus der Gesellschaft gerissen werden. Dabei hat jede/r von ihnen eine Geschichte, die erzählt werden muss. Ohne Zweifel würden wir es vorziehen, die gesamte Veranstaltung nur auf Kurdisch durchzuführen. Da die kurdische Sprache jedoch – vor allem in der Türkei – trotz aller Gesetzesänderungen auf dem Blatt noch immer Grund zu Verfolgung ist, die kurdische Sprache noch immer nicht in staatlichen Schulen gelehrt wird und aus diesem Grund nur ein kleiner Teil der KurdInnen auf Kurdisch schreiben und lesen können, ist ein Wettbewerb nur auf Kurdisch momentan noch nicht möglich.

Zudem sehen wir die mögliche Teilnahme auf Türkisch auch als Möglichkeit für Solidarität und gegenseitiges Verstehen. Hüseyin Çelebis Vater war Kurde, seine Mutter war Türkin. Aus diesem Grund ist das Pflanzen von Geschwisterlichkeitssprossen zwischen dem kurdischen und dem türkischen Volk aus unserer Sicht ein wesentlicher Teil der Bewahrung des Andenkens an Hüseyin Çelebi.
Dieses Jahr hat die 15. Verleihung der „Hüseyin Çelebi Gedichte und Erzählungen“-Preise stattgefunden. Diese Verleihung stellt in diesem Jahr aus zweierlei Sicht eine Besonderheit dar. Würde Hüseyin noch leben, wäre er dieses Jahr 40 Jahre alt geworden. Außerdem jährte sich sein Todestag zum 15. Mal. In diesem Jahr konnte man erstmals neben Kurmanci und Türkisch auch auf Dimilki am Wettbewerb teilnehmen. Außerdem hatten wir in diesem Jahr Grund dazu, uns über eine weitere Entwicklung zu freuen: Dieses Jahr erreichten uns mehr als 650 Gedichte und Erzählungen. Noch nie zuvor hatten so viele Menschen an diesem Wettbewerb teilgenommen.

Die Jury setzte sich folgendermaßen zusammen:
Gedichte Kurmanci: Fatma Savcı, Gulizer und İrfan Amida
Gedichte Türkisch: Birhan Keskin, Lale Müldür und Metin Kaygalak
Gedichte und Erzählungen Dimilki: Mehmet Çetin, Lerzan Jandil und Kamer Söylemez
Erzählungen Kurmanci: Lorin S. Doğan, Dilaver Zeraq und Reşad Sorgul
Erzählungen Türkisch: Aslı Erdoğan, Perihan Mağden und Müge İplikçi

Die Preisverleihung selbst fand dieses Jahr in Köln statt. Zuvor fand diesmal zum ersten Mal auch eine kleine Veranstaltung im Vorfeld der Hauptveranstaltung statt, zu der VertreterInnen von kurdischen Institutionen, kurdische SchriftstellerInnen, LehrerInnen und KünstlerInnen eingeladen worden waren. An diesem Abend wurde neben einer musikalischen Darbietung der Künstler Memo und Merdan auch ein Projekt zur kurdischen Sprache vorgestellt. Der YXK beabsichtigt, gemeinsam mit verschiedenen kurdischen Institutionen und Einzelpersonen ein Projekt durchzuführen, mit dem die kurdische Sprache in Europa von einer gesprochenen zu einer gelehrten und geschriebenen Sprache gemacht werden soll.
Am 10. November fand dann die Preisverleihung in der Stadthalle Köln-Mülheim statt. Im Rahmen des Vorprogramms wurden zwei Panels durchgeführt. Beim ersten diskutierten Fatma Savcı, Loqman Turgut und Cemil Denli über den Stand der kurdischen Literatur und Schwierigkeiten. Bei einer zweiten Veranstaltung unterhielten sich der türkische Dichter Şükrü Erbaş und Ilhan Bakir über die aktuelle Situation in der Türkei und trugen einige Gedichte vor. Innerhalb des Rahmenprogramms hatten verschiedene Vereine und Organisationen Infostände aufgebaut und Künstler wie Ali Zülfikar und der Karikaturist İlhami Erdoğan ihre Bilder bzw. Karikaturen ausgestellt. Für das Bühnenprogramm angereist waren die Künstler Aram Tigran, Suavi und Mehmet Atlı. Das Programm und somit die diesjährige Hüseyin-Çelebi-Literaturveranstaltung endete mit der Preisverleihung.

15. Hüseyin-Çelebi-Literaturpreise

Kurdische Gedichte
1. „Şîrhelalî“ Abdullah Oral
(aus Bolu, Gefängnis)
2. „Lêvên Tî mayî“ Şêrko
(aus Qoser, Kurdistan)
3. „Mîrê Xeyalan“ Kadir Çelik
(aus Stockholm, Schweden)
Besonders erwähnt: „Mahsere“
Murat Yapıştıran
(aus İstanbul, Türkei)
Jury: Fatma Savci, Gulizer İrfan Amida
Türkische Gedichte
Spezialpreis „Kayıp Şiir“ Ayşegül Laçi
(aus Diyarbakır, Kurdistan)
Spezialpreis „Yas ve Tay“ Yalçın Hafçı
(aus Kırşehir, Gefängnis)
Spezialpreis „Dört bin yıllık yalnızlık“
Enver Özkartal
(aus Diyarbakır, Gefängnis)
Jury: Orhan Alkaya, Metin Kaygalak, Lale Müldür
Kurdische Erzählungen
1. „Çîroka Rikûnî“ Ergin Opengin
(aus Yüksekova-Hakkari)
2. „Berxwedana belavkarekî biçûk û azadî“ Dawud Rêbiwar
(aus İstanbul, Türkei)
3. „Bêdengî“ Netîce Altûn
(aus Diyarbakır, Kurdistan)
3. „Xwedî“ Nihat Ekmez
(aus Elbistan, Gefängnis)
Jury: Lorin S. Dogan, Dilaver Zeraq
Türkische Erzählungen
1. „Kış Kapısı“ İlhan Bakir
(aus İzmir, Türkei)
2. „Pariluys Agavni / Selam Guvercin“
Ruşen Özkan
(aus Sivas, Gefängnis)
2. „Kambur“ Eylem Ata Güleç
(aus Diyarbakır, Kurdistan)3. „Hayat, Çoçuk ve Mahpus“
Kamil Görkem
(aus Adıyaman, Gefängnis)
Jury: Aslı Erdoğan, Müge Iplikçi, Perihan Mağden
Dimilki Gedichte
1. „Ez Kamıre Bıberbene“
Halis Yurtsever (aus Hatay, Türkei)
2. „Haleta Tu’ya“ u. „Xane Zerza Mı“
Zeycan Kaya
(aus Oberhausen, Deutschland)
Jury: Kamer Söylemez, Lerzan Jandil, Mehmet Çetin
Dimilki Erzählungen
1. „Xafılbela“ Murat Canşad
(aus Edirne, Gefängnis)
Jury: Kamer Söylemez, Lerzan Jandil, Mehmet Çetin