Wenn der Staat sich nicht über die Freilassung seiner Soldaten freuen kann Hätten uns doch nur ihre Särge erreicht Songül Karabulut Normalerweise kennt man diese Art von Äußerungen eher aus chauvinistischen und nationalistischen Kreisen, wenn sie über ihre „Feinde“ reden. Unter den Neonazis heißt es z. B. „Ein toter Türke ist ein guter Türke“ oder unter den türkischen Nationalisten „Ein toter Kurde ist ein guter Kurde“. Aber was bewegt einen Staat dazu, etwas in dieser Richtung über seine eigenen Soldaten zu sagen? Ein
Staat, der seine Staatsbürger in seinem Dienste sieht anstatt sich im
Dienste seiner Bürger, ist ohne Weiteres zu solch einem Spruch fähig.
Er fühlt sich in seiner „Ehre“ verletzt, wenn seine Soldaten in die
Hände „feindlicher Kräfte“ fallen. Er erinnert an einen patriarchalen
feudalen Vater, der seine Tochter lieber tot sehen würde, als erleben
zu müssen, dass sie entführt und „entehrt“ wird. Ihm geht es nicht darum,
wie er seine Tochter befreien kann, sondern um seine verletzte Ehre
und darum, wie er sie wieder herstellen könnte. Denn für ihn ist seine
Tochter in erster Linie SEINE Tochter. Sie ist kein freies Individuum,
sondern hat die Aufgabe, für den Ruf ihres Vaters und ihrer Familie
zu leben. Das allein ist ihre Lebensaufgabe. Die Familien der Soldaten waren froh, ein Lebenszeichen ihrer Kinder zu haben, und zugleich hilflos, weil der türkische Staat sich nicht um sie kümmerte und nichts für ihre Freilassung unternahm. Allein die Familien waren zusammen mit einigen NGOs und der Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) bemüht, die Freilassung der Soldaten zu erreichen. Jede Aktivität dieser Art wurde sowohl von der Armee als auch von der Regierung behindert und in den Medien öffentlich diskreditiert.
Erneut wandten sich die Soldaten über Videoaufnahmen an die Öffentlichkeit.
Sie erklärten, dass sie keine schlechte Behandlung erleiden müssten,
und sprachen sich für eine politische Lösung des Problems aus. Des Weiteren
appellierten sie an die Staatsvertreter, sich für ihre Freilassung einzusetzen. Der türkische Staat konnte sich nicht über die Freilassung der acht freuen und sah auch keinen Grund, das zu verheimlichen. So sagte der türkische Justizminister Mehmet Ali Şahin: „Als türkischer Staatsbürger bedauere ich sehr, dass Mitglieder der türkischen Armee in die Hände der separatistischen Terrororganisation gefallen sind. Kein Personal der türkischen Streitkräfte sollte je in solch eine Lage geraten. Daher habe ich mich über ihre Freilassung nicht freuen können.“ Der stellvertretende Ministerpräsident Cemil Çiçek hingegen griff die DTP-Abgeordneten an, weil sie die Freilassung vermittelt hatten. Er sagte während einer Fernsehsendung bei CNN-Türk, als die Bilder von der Übergabe der Soldaten ausgestrahlt wurden: „Die Täter sind auf frischer Tat ertappt.“ (bezogen auf die DTP-Abgeordneten). Unmittelbar nach dieser Äußerung leitete die Staatsanwaltschaft in Ankara ein Ermittlungsverfahren gegen Osman Özçelik, Aysel Tuğluk und Fatma Kurtulan ein. Der Vorsitzende der Arbeiterpartei der Türkei, Doğu Perinçek, – ermutigt durch die Äußerung des Justizministers – brachte es mit den Worten auf den Punkt: „Hätten uns doch nur ihre Särge erreicht.“ Somit war eigentlich das gesagt, was politische und militärische Vertreter der Türkei dachten. Das Militärgericht in Van verhängte allen Medien einen Maulkorb bezüglich der Soldaten. Zudem beschloss es bis zum Ende der Ermittlungen ein Verbot für Nachrichten, in denen Informationen zum Thema eingeholt und verbreitet sowie kritisiert oder bewertet werden. Während all diese Diskussionen und Entwicklungen um die Freilassung der Soldaten die Tagesordnung bestimmten, wurden diese selbst am 11. November vor das Militärgericht in Van gebracht. Nach der Verhandlung wurde ihre Verhaftung angeordnet. Die Begründung für diesen Beschluss ist genauso absurd wie der Fall selbst: Die HPG hatten nach dem Gefecht erklärt, dass die Guerilla die Soldaten abgewehrt habe, als diese die Grenze überschreiten wollten. Jetzt wird den Soldaten vorgeworfen, ihr Vergehen der Befehlsverweigerung habe die militärische Diziplin extrem erschüttert, außerdem sei ohne Erlaubnis ein anderes Land betreten worden. Der ganze Vorfall ging den Familien sehr nahe. Die Mutter von Mehmet Şenkul, einem der Entführten und anschließend Verhafteten, sagte gegenüber der Presse: „Ich habe meinen Sohn mit großer Freude und in Begleitung von Davul [Pauke] und Zurna [Flöte] zum Militär geschickt. Wir sind im letzten Monat regelrecht zusammengebrochen. Sie sollen uns sagen, welches Vergehen unser Sohn sich zu Schulden kommen ließ. Sie haben ihm eine Waffe an den Kopf gehalten. Er sagte mir: ´Mutter, ich bin aufgrund deiner Gebete am Leben. Die Kugeln sausten neben und über mir.` Ich verweise diejenigen, die nun meinen Sohn beschuldigen, an Gott. Während die Kommandanten unten gegrillt haben sollen, haben unsere Kinder oben gekämpft. Während wir unseren Sohn in Ankara erwarteten, bekam ich einen Anruf, in dem man mir lediglich mitteilte, dass mein Sohn verhaftet ist.“ Auch der Vorsitzende der Anwaltskammer Batman, Sedat Özevin, kritisierte die Art und Weise, wie mit dem Leben der Soldaten umgegangen wird: „Die Angelegenheit hat eine noch bedenklichere Form angenommen, weil die Sichtweise, die anstelle des Menschenlebens den Tod heiligt und den Tod dem Leben vorzieht, von einer Stelle zur Sprache gebracht wurde, die eigentlich die Gerechtigkeit vertreten sollte.“ Inzwischen haben zwei Familien der verhafteten Soldaten einen Antrag beim Menschenrechtsverein IHD gestellt. Die Familien von İlhami Demir und Ramazan Yüce haben den IHD in Van beauftragt, juristische Schritte gegen die Festnahme ihrer Söhne einzuleiten. Diese Geschichte reicht aus, um einen Staat zu charakterisieren. Während in anderen Ländern dieser Erde die Würde eines Staates daran gemessen wird, wie er seinen entführten Staatsbürgern unversehrt zur Freiheit verhilft, so ist die Würde der Türkei nur über den Tod aufrechtzuerhalten. Staaten, Gesellschaften, Religionen, Gruppen und Familien, in denen demokratische Werte gar nicht oder sehr schwach ausgeprägt sind, neigen dazu, rückständige Eigenschaften an den Tag zu legen. Die Rückständigkeiten der Türkei springen einem in sehr vielen Bereichen ins Auge. Diese Geschichte wirft natürlich auch für mich die Frage auf, inwieweit ein Staat, der so mit seinen Staatsbürgern umgeht, tatsächlich in der Lage ist, gegen die patriarchal-feudalen Strukturen innerhalb der Gesellschaft vorzugehen. Dieser Staat produziert Hass, Gewalt, Intoleranz und Machtherrschaft auch innerhalb der Gesellschaft. Warum also wird nicht auch die Rolle des Staates hinter all den Frauenmorden in der Türkei und in Kurdistan gesehen und angeprangert? |