Verschiedene Welten und Zeiten interessant miteinander verwoben Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul Buchbesprechung von Susanne Roden Asya Kazancı ist 19 Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter in einer feinen, aber leicht baufälligen Istanbuler Villa, unter einem Dach mit insgesamt vier Generationen. Die Kazancı-Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein: Da ist Petite-Ma, die feinsinnige Urgrossmutter, ihre verbitterte Tochter Gülsüm und deren vier Töchter, die fromme Wahrsagerin Banu, die humorlose Geschichtslehrerin Cevriye, die Exzentrikerin Feride und das Nesthäkchen Zeliha, die sich mit dem Betreiben eines Tattoo-Studios nicht einordnen lassen will, Miniröcke und Stöckelschuhe trägt, einen Nasenring hat und niemandem verrät, wer der Vater ihrer unehelichen Tochter Asya ist. Asya, 19 Jahre alt, leidet sehr darunter, ein „Bastard“ zu sein. Sie schwärmt für die Musik von Johnny Cash, fühlt sich zu einem Intellektuellenzirkel hingezogen und flüchtet sich in den Nihilismus. Da alle männlichen Mitglieder die Familie Kazancı durch frühzeitiges Ableben verließen, glaubte man schnell an böse Kräfte und entschied daher, den einzigen Sohn der Familie, den vor Zeliah geborenen Mustafa, im Alter von 18 Jahren von Istanbul direkt zum Studium des Agrar- und Bioingenieurwesens nach Arizona zu schicken, damit er vom Unheil verschont bliebe. Einziges männliches Mitglied im Haushalt der Kazancı-Frauen ist der weiße Persianerkater Pascha III. Armanoush
Tchakhmakhchian ist 19 Jahre alt, intelligent, schön – und unglücklich.
Da die Eltern geschieden sind, wächst sie abwechselnd in San Francisco
bei ihrem Vater Barsam und dessen armenischer Großfamilie, die nach
dem Völkermord an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts nach San
Fransisco ausgewandert war, und in Arizona bei ihrer Mutter Rose, die
inzwischen einen Türken geheiratet hat, auf. Während die Familie des
Vaters sehr bemüht ist, die Tradition des armenischen Erbes an Armanoush
weiterzugeben, ist die Mutter Rose, einziges Kind eines Südstaatler-Ehepaares,
durch ihre Erlebnisse mit eben dieser Familie äußerst angespornt, ihrer
Tochter „Amy“ die amerikanische Lebensweise beizubringen und sie vor
dem Einfluss der armenischen Mammutfamilie zu bewahren. Asya fällt die Aufgabe zu, sich um die „armenische Amerikanerin“ zu kümmern und ihr „die Türkei“ zu zeigen. So macht sie sich zuerst nur widerwillig, bald aber mit wachsendem Interesse daran, Armanoush bei ihrer Suche nach Spuren der einst in Istanbul ansässigen Familie zu helfen. Asya stellt dabei fest, dass sie, durch die völlige Ignoranz ihrer Familie, gar nichts über die türkisch-armenische Geschichte weiß. Für die eigene Identitätsfindung und die Zukunft der jungen Frauen Asya und Amy ist es wichtig, sich mit der Vertreibung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich auseinanderzusetzen. Durch verschiedene Unternehmungen stellen die beiden jungen Frauen mit den verschiedenen kulturellen Hintergründen fest, dass die osmanische Vergangenheit auch auf ihren Schultern lastet, und sie erhalten neue und überraschende Erkenntnisse über ihr Land und ihre Wurzeln. Und so beginnt die Einleitung mit dem Text: Es war einmal; es war keinmal. Gottes Kreaturen waren so zahlreich wie Getreidekörner, und zuviel zu reden war eine Sünde … Beginn einer türkischen Geschichte … und einer armenischen. 1. Zimt, 2. Garbanzobohnen, 3. Zucker, 4. geröstete Haselnüsse.
Und der Leser taucht auch ein in eine Welt von Gewürzen, Speisen und
eine Lebenskultur, in der das gemeinsame Zubereiten von Speisen und
das gemeinsame Mahl eine ganz zentrale Bedeutung haben. Die kosmopolitische Prägung und die dadurch erfahrene Entfremdung der Sprache bei ihrer Rückkehr in die Türkei führten zu einer anderen neuen Auseinandersetzung mit der Sprache. Der reiche linguistische Hintergrund ermöglichte Elif Shafak eine intensive Auseinandersetzung mit den Feinheiten der Sprache, den Wendungen, der Melodie. Sie, immer schon fasziniert von Sprachen, begann, die historische türkische Sprache, Osmanisch, zu erforschen, begann, alte Ausdrücke und idiomatische Redewendungen zu verfolgen. Elif Shafak empfand nach ihrer Rückkehr eine Dissonanz. Sie stellte fest, dass sie Einheimische und Ausländerin zugleich war, sie wurde zur Heimat-Ausländerin. Dieses Gefühl wurde zwar strukturell umgewandelt, aber es ist niemals völlig entschwunden.
Sie habe sich selbst ins Exil geschickt, erklärt sie und möchte nicht
in Schubladen abgelegt werden. Sie wird beschuldigt, einer Zuhörerschar
im Ausland Honig um den Bart zu streichen und das diakretische „Ş“ in
ein „sh“ im Namen Shafak verändert zu haben, wiederum in den USA aber
hat sie das Gefühl, sie werde oft schnell eingepfercht in die Fantasievorstellung
über eine „schreibende Frau aus dem Nahen Osten“. Den Namen Shafak hat sie angenommen, denn es gab für sie keinen Punkt, sich mit dem Namen des Vaters, der sie im Stich gelassen hatte, zu identifizieren. Sie wurde von ihrer Mutter in harter Arbeit allein aufgezogen und lehnt auch heute jeden Kontakt zum Vater ab. Sie hat bereits fünf Romane veröffentlicht, Hunderte von Artikeln. Sie publiziert regelmäßig in renommierten Zeitschriften soziokulturelle und politisch-philosophische Texte, ihre Romane werden aufeinander folgend verlegt und sie hält landesweit Lesungen und Vorträge. „Mein eigener Sinn von Beständigkeit kommt von meinem Schreiben“, so sagt sie in einem Interview mit dem Journalisten Andrew Finkel. Elif Shafaks neu erschienenes Buch „Der Bastard von Istanbul“ ist sowohl ein zeitgenössischer Roman als auch ein sehr spannend geschriebenes Zeitdokument. Es geht um die Aufarbeitung von Geschichte, dem Thema Völkermord an den Armeniern in der Türkei im Ersten Weltkrieg. Durch die geschickte Verlagerung des Themas auf die Romanfiguren und deren Dialoge zwischen Türken und Armeniern wird so eine wunderbare Form gefunden, um die vielen Facetten des Themas darzustellen: die Totalleugnung des Genozids, das lebenslange Verdrängen des Genozids und das Lebendighalten des Geschehenen und sich nicht Lösen können und wollen davon. Es
werden verschiedene Welten und Zeiten interessant miteinander verwoben,
Ironie und Witz kommen nicht zu kurz und machen das Buch zu einer spannenden
Lektüre. Elif Shafak wurde nach der Veröffentlichung des Buches wegen „Beleidigung des Türkentums“ (Strafparagraph 301) angeklagt. Bei einer Verurteilung hätten der Autorin drei Jahre Haft gedroht. Sie wurde am 21.9.2006 vom Vorwurf der Anklage freigesprochen und das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt. Nach der Urteilsverkündung kam es zu Handgreiflichkeiten mit Nationalisten. Ein starkes Sicherheitsaufgebot um das Gerichtsgebäude sollte gewalttätige Aktionen türkischer Nationalisten verhindern, die die Romanautorin zur „Türkenfeindin“ erklärt haben. Sara Whyatt, Leiterin des Komitees „Schriftsteller im Gefängnis“ des International PEN, sieht eine Veränderung der Situation in der Türkei seit Einführung des § 301 im letzten Jahr, wonach Schriftsteller wie Orhan Pamuk, Perihan Mağden und Elif Shafak strafrechtlich verfolgt werden. Der federführende ultranationalistische Staatsanwalt Kemal Kerinçsiz, Mitglied der Gruppe „Plattform der nationalen Stärke“ und bekennender EU-Gegner, machte den Einfluss „ausländischer Kräfte“ für das Urteil verantwortlich. Elif Shafak:
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