Enthüllungen aus der Hisbollkontra-Zeit

„Gestern kein Mord unbekannter Täter!“

Deniz Eroglu

Im Jahr 1994 lautete die Schlagzeile einer Ausgabe der lokalen Zeitung „Batman“: „In Batman wurde gestern kein Mord unbekannter Täter begangen.“ Der Journalist, von dem der Bericht stammte, wurde von der Zeitung „Cumhuriyet“ mit dem „Bülent-Dikmener-Journalismuspreis“ ausgezeichnet.

Es war eine Phase, in der die kurdische Nationalbewegung immer stärker wurde. Islamistische Gruppen wurden vom türkischen Spezialkriegsamt als paramilitärische Kräfte in Diyarbakir, Batman und den Nachbarstädten gegen patriotische Kurden eingesetzt. Sie wurden vom Staat mit Waffen ausgerüstet, in Zentren von Sondereinheiten und der JITEM [damals verleugneter Gendarmerie-Geheimdienst] sowie in Militärhauptquartieren ausgebildet. Von der Bevölkerung wurden sie als „Hisbolkontra“ bezeichnet. Vor allem in den Jahren 1991 bis 1993 haben sie als wahre Mordmaschinerie über 2000 Menschen ermordet.
Den Berichten des Menschenrechtsvereins IHD zufolge wurden im Zeitraum zwischen 1990 und 1999 annähernd 4000 „Morde unbekannter Täter“ begangen. Neu zugänglich gemachte Archive der türkischen Hisbollah/Hizbolkontra, auf deren Konto diese Morde gehen, belegen die Verbindung dieser Organisation zum türkischen Staat.
Die Hisbollah konnte in den 90er Jahren problemlos in militärischen Einheiten und Polizeidienststellen ein- und ausgehen. Sie erhielt vom Staat unbegrenzte Unterstützung. General Teoman Koman, der, sei es in seiner Zeit als Staatssekretär für den türkischen Geheimdienst MIT, sei es in seiner Zeit als Generalkommandant der Gendarmerie, die Verbindungen zwischen JITEM und Hisbollah stärkte, antwortete Journalisten, die ihn darauf ansprachen: „Welche Hisbollah? Einmal gibt es eine Hisbollah im Iran und einmal gibt es Staatsbürger mit starkem religiösem Glauben, welche sich vor den Angriffen der PKK schützen ...“
Tansu Ciller, Premierministerin von 1993–1996, erklärte während eines Interviews hierzu: „Im Jahr 1994, einer Zeit, in der der Antiterrorkampf seinen Höhepunkt erreicht hatte, habe ich alles unterschrieben, was diesen Kampf unterstützen sollte. Ich würde es heute wieder machen.“ Der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel kommentierte damals die Beziehung zwischen Hisbollah und Staat: „Der Staat kann die Routine manchmal beiseite lassen.“
Die vom türkischen Parlament eingesetzte Kommission zur Untersuchung der „Morde unbekannter Täter“ bietet in ihrem Abschlussbericht ein ausgezeichnetes Beispiel für die staatliche Unterstützung: „Der Polizeipräsident und der Vizegouverneur von Batman erklärten am 27. Juli 1993: Sie hätten gehört, dass sich in den Dörfern Seki, Gönüllü und Cicekli, welche zur Kreisstadt Gercüs gehören, Lager der Hisbollah befänden und dass diese von staatlichen Einheiten Unterstützung erhalten würden. In diesen Lagern würden Hisbollahmitglieder politisch und militärisch geschult werden. Sie hätten aufgrund dieser Informationen mit Zuständigen aus der Gendarmerie gesprochen, diese hätten daraufhin behauptet: ‚Diese Militanten stellen die Tatsachen ständig anders dar, deshalb haben wir unseren Kontakt zu ihnen abgebrochen.’ Anschließend habe man an den Generalkommandorat der Gendarmerie geschrieben. In der Antwort habe gestanden, dass diese Behauptungen der Realität nicht entsprächen, es keine Hisbollahlager im genannten Gebiet gäbe und die Hisbollah im ländlichen Gebiet keine Aktivitäten verfolgen würde.“
Man muss an dieser Stelle unterstreichen, dass es sich bei den genannten Dörfern Seki, Cicekli und Gönüllü um die Heimatdörfer des Hisbollahführers Velioglu, des in Ankara geschnappten Rädelsführers Mahmut Demir und Isa Altsoys, von dem es heißt, er sei der neue Anführer der Organisation, handelt. Nicht zu vergessen, dass bei späteren Operationen in diesen Dörfern eine Reihe von Verstecken gefunden wurden.
Nachdem der Hisbollahführer Hüseyin Velioglu Anfang 2000 in Istanbul getötet worden war, wurde der Militante Emin Ekici erwischt. Bei seiner Anhörung gab er zu, dass Velioglu Kontakte zu Major Cem Ersever und Mahmut Yildirim (Deckname Yesil) gehabt habe. Bei Cem Ersever handelt es sich zugleich auch um den Gründer des JITEM, der innerhalb der kurdischen Bevölkerung als zweite staatliche Kontra-Guerilla-Einheit bezeichnet wurde.
Der ehemalige Gouverneur von Batman, Sarman, gab einmal zu: „Wir haben mit dem JITEM sehr gut zusammengearbeitet. Ich habe nicht verstanden, warum gesagt wird, er würde nicht existieren. Unserer Ansicht nach war es ein richtiges Modell.“ Sarman, der zu den mächtigsten Vollstreckern des schmutzigen Krieges gehörte und 1993 Gouverneur von Batman war, führte außerdem aus: „Man hatte gesagt: ‚Beendet den Terror, egal wie.’ Batman lag auf der Nachschubroute des Terrors. Wir erstellten ein Projekt und legten es der Premierministerin Ciller vor, ebenso dem Generalstab, dem Generalkommandorat der Gendarmerie und dem OHAL-Gouverneur [der Ausnahmezustandsgebiete]. Das Projekt wurde sofort genehmigt. Nach einiger Zeit kam von Ankara der Befehl ‚kümmert euch selbst um eure Bedürfnisse’. Wir kümmerten uns um den Waffenimport. Wir haben vier Posten Waffen aus China und Bulgarien besorgt. Die Waffen wurden mit Militärflugzeugen in die Türkei gebracht. Türkische militärische Flugzeuge sind wegen der Waffen zum ersten Mal nach Bulgarien geflogen. Ich wählte aus, wer von den Dorfschützern seinen Militärdienst als Angehöriger der Kommandoeinheiten leisten könnte. Aus denen haben wir kleine Einheiten gebildet. Auf diese Weise kannten wir das Gebiet innerhalb von vier Monaten in- und auswendig. In kurzer Zeit hatten wir ganz Batman gesäubert. Bei diesen Einheiten handelte es sich nicht um meine Privatarmee. Es waren die Einheiten des Staates. Man plante, sie auch in anderen Provinzen aufzubauen. Jede staatliche Einheit wusste Bescheid. Diejenigen, die uns zuvor applaudierten, kannten uns plötzlich nicht mehr.“
Was hatten diese Einheiten, von denen Sarman erzählt, damals gemacht? Auch wenn er sich hierzu nicht detailliert äußert, ist die Wahrheit allgemein bekannt. Sarman hatte bei Treffen mit Dorfschützern und Clanchefs aus den kurdischen Städten eine Horde von Mördern zusammengestellt. Diese wurden dann mit Waffen ausgerüstet und zogen in ihren Uniformen in den Kampf. Batman war damals in der Türkei die Stadt mit der höchsten Rate an „Morden unbekannter Täter“. Der kurdische Abgeordnete der DEP, Mehmet Sincar, der zur Untersuchung dieser Morde nach Batman kam, wurde kurze Zeit später selbst ermordet. Batman war einer der Hauptstützpunkte der Hisbollah. Die „tausend Operationen“, die Mehmet Agar [ehem. Innenminister und Parteivorsitzender der Partei des Rechten Weges DYP] gern – sich selbst rühmend – erwähnt, wurden von dieser schmutzigen Kriegsbande ausgeführt. Nahezu 3000 Dörfer sind zerstört und anschließend angezündet worden. Hunderttausende mussten ihre Dörfer verlassen und aus ihrem eigenen Land flüchten. Zehntausende wurden gefoltert, Tausende sind aus politischen Gründen verhaftet worden.
Die Hisbollah geriet dem Staat um das Jahr 2000 außer Kontrolle. Sechs Jahre später ist ihr Archivmaterial teilweise öffentlich gemacht worden. Aus diesen Dokumenten geht eine klare Verbindung zwischen Hisbollah und Staat hervor.
Haydar Kaya, einer der Auftragsmörder der Organisation, schilderte bei seiner Aussage, dass er 1993 von Sondereinheiten für den Sicherheitsdienst geschult worden sei. Dabei seien 26 männliche und 4 weibliche Personen ausgebildet worden. Sämtliche Kosten seien vom JITEM übernommen worden. Kaya nannte außerdem die Namen einiger Teilnehmer an der gleichen Schulung: Medahi Akar (arbeitete 1995 bei der Toprak-Bank), Nurettin Siro (Deckname Namik) und Özcan Yamahan.
Ein weiteres Hisbollahmitglied, Recep Buttanri, sagte aus, dass eine Person namens Necdet Siro für den JITEM, außerdem ein Necdet Turan für den MIT gearbeitet habe. Aus anderen Dokumenten geht hervor, dass die Hisbollahmitglieder Zübeyir Özkartal und Necdet (der Nachname ist nicht bekannt) für den MIT gearbeitet haben und als Busfahrer zwischen Batman und Diyarbakir beschäftigt waren.
Es gibt noch unzählige Dokumente mit den Namen von Hisbollahkämpfern, die unter der Kontrolle und Teilnahme von Kontra-Einheiten des türkischen Staates Kurden getötet haben. Jedoch gibt es für den Staat keinerlei Bedarf und Veranlassung für eine juristische Verfolgung. Keiner der damaligen staatlichen Funktionäre ist aufgrund dieser Mordserie vor Gericht gelandet, geschweige denn bestraft worden.