Eine Perle erstmals komplett auf Deutsch:

Musa Anter: Meine Memoiren

Reimar Heider

Musa Anter war ein Relikt aus einer anderen Zeit. Er hatte vieles noch erlebt, was andere nur vom Hörensagen kannten. Die Gründungsjahre der Republik, den Sêx-Seid-Aufstand und die Massaker von Dêrsim erlebte er als Schüler, den Zweiten Weltkrieg als Student. Er war einer der Protagonisten des kurzen Frühlings der kurdischen Nationalbewegung Ende der 1950er Jahre, verbrachte einige Jahre im Gefängnis. Liebevoll wurde er von den KurdInnen Apê Musa, Onkel Musa, genannt, oder auch „Çinar”, was „Platane“ bedeutet, ein mächtiger Baum mit tiefen Wurzeln und weit reichenden Ästen.

In den letzten Jahren seines Lebens schrieb er bissige, humorvolle Kolumnen in den neu entstandenen oppositionellen kurdischen Tageszeitungen in der Türkei. Wie so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Blätter wurde auch Musa Anter zum Schweigen gebracht, die kurdische Platane gefällt.

Erstmals auf Deutsch liegen jetzt seine „Memoiren“ vor, die bereits 1990 in Istanbul erschienen waren. Ein Teil der von Ernst Tremel gut übersetzten und überaus reich kommentierten „Memoiren“ ist kurdischen Persönlichkeiten gewidmet, der Rest den vielfältigen Erlebnissen Anters in Freiheit, Gefängnis und wieder in Freiheit.

Anters vielfältige Beziehungen, die Konflikte, die er schlichtete, und die Auseinandersetzungen, an denen er beteiligt war, lassen vor den Augen der LeserInnen ein lebendiges Panorama der kurdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Türkei entstehen.

Anter betont, mit seinen Freunden und Genossen immer den legalen Kampf für die Rechte der Kurden geführt zu haben. Das Buch ist Zeugnis der begrenzten Erfolge bzw. des Scheiterns dieses Versuchs. Anter selbst beschreibt das in Zusammenhang mit dem Prozess der „49“ nach dem Putsch von 1960 so:

„Weil wir die natürlichen Rechte der Kurden nicht offen einforderten, wie unsere jungen Leute, die heute unsre Söhne, ja sogar Enkel sind, so ist das unser historischer Fehler. Aber, so glaube ich doch, dass wir den Jungen ein stabiles Fundament gelegt haben. Und – um einen Ausdruck aus der Architektensprache zu verwenden – wir haben den Bau bis fast an die „Wasserschwelle“ hochgezogen.“

Anters ironischer Schreibstil kommt auch in der Übersetzung gut zur Geltung. Selbst dort, wo aus seinen Erinnerungen Wut und Schmerz sprechen, beispielsweise in der Schilderung der Gefängnisjahre, konzentriert er sich auf die wenigen heiteren Begebenheiten, die den Schrecken und die Absurdität der Situation umso deutlicher spüren lassen. Diese anekdotische Erzählweise macht die „Memoiren“ zu einer unterhaltsamen und überaus informativen historischen Lektüre. Dort, wo einem die Namen der Akteure nicht geläufig sein mögen, helfen die ausführlichen Fußnoten des Übersetzers, den Zusammenhang herzustellen.

Am 20.9.1992 wurde Musa Anter im Alter von 74 Jahren in Diyarbakir von der Konterguerilla ermordet. Die kurdische Platane wurde gefällt. Apê Musa muss vorausgesehen haben, dass man ihn nicht würde am Leben lassen, nachdem er seine Sympathie für die PKK in diesem Buch und anderswo offen hatte durchscheinen lassen. So findet sich in den „Memoiren“ der 1948 zusammen mit vier Freunden geleistete Schwur: „Ich schwöre, dass ich unter keinen Umständen zum Verräter werde. [...] Deshalb könnte man mich töten, wenn man wollte! Mit ist das egal! Ganz im Gegenteil! Es wäre eine Ehre für mich und mein Volk.“

Musa Anter war nicht das erste Mordopfer der „unbekannten Täter“. Trotzdem wirkte seine Ermordung wie ein symbolischer Startschuss für das, was kommen sollte. Viele sagten sich damals: „Wenn der Staat schon Greise ermorden lässt, dann gibt es kein Halten mehr.“ Sie sollten Recht behalten. Allein in Diyarbakir wurden viele wie er auf offener Straße ermordet.

In Kurdistan und in der Türkei lebt jedoch das Andenken an Apê Musa weiter. Zum Gedenken an „Musa Anter und die Gefallenen der Presse“ werden jedes Jahr Preise für die Pressefreiheit vergeben. Umso erfreulicher, dass mit diesem Buch nun auch im deutschsprachigen Raum an eine Epoche kurdischer Geschichte aus der Sicht eines der Protagonisten erinnert wird.

Die „Memoiren“ sind unter der Adresse:
http://www.skytower.org/~ernstjtremel/downloadableKurdishFiles/MAnterFIX.pdf zu finden.
Eine gedruckte Fassung ist noch nicht erhältlich.

Musa Anter: Meine Memoiren
263 Seiten
Mit einem Vorwort von Yasar Kaya