Ein neues Gesellschaftssystem: Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan Selahattin Erdem Die Vereinbarung der Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan [Koma Komalên Kurdistanê] bedeutet einen neuen und wichtigen Schritt in der Geschichte des Freiheitskampfes Kurdistans. Es ist ein bedeutsamer Erfolg, dass die kurdische Freiheitsbewegung nach der Vollendung ihrer ideologischen Geburt, ihrer Parteiwerdung, der Gründung der Guerillabewegung und nach der Revolution der nationalen Wiedergeburt den Schritt zur demokratischen Volksorganisation auf der Grundlage der Prinzipien des demokratischen Konföderalismus getan hat. Es ist äußerst wichtig, die Realität zu erkennen, zu verstehen und zu definieren. Die ideologische Geburt bedeutete, die KurdInnen und Kurdistan zu erkennen, zu verstehen, sie zu definieren, sich ihrer bewusst zu werden und dies in bestimmtem Umfange weiterzugeben. Sie wurde allein durch die Führung [Abdullah Öcalan] bestimmt. Wir haben diese Phase auch als die ideologische Gruppenphase bezeichnet. Gegen ein System, welches das Bewusstsein auslöscht und die KurdInnen und Kurdistan vernichtete, sollten die Tatsachen ans Licht gebracht und diese Begriffe wieder mit Leben gefüllt und authentisch definiert werden. Dieser Abschnitt kann auch als eine Phase der Bewusstwerdung, theoretischen Definition und ideologischen Verwirklichung charakterisiert werden. Alles begann mit zwei Worten Selbstverständlich steht hinter allem: Ohne eine Ideologie, eine
wissenschaftliche Definition der Begriffe „KurdInnen“ und
„Kurdistan“, eine theoretische Analyse dieser Realität
und ohne daraus resultierende ideologische Richtung und politisches Ziel
könnte weder von Partei, Guerillaarmee, Volkswiderstand noch von
Freiheit und Demokratie die Rede sein. Mit der Guerilla gewann die Bewegung eine Taktik Der Parteiwerdung folgte der Aufbau der Guerillaorganisation. Damit hat
die Bewegung taktische Möglichkeiten in die Hand bekommen. Anders
ausgedrückt: Die Entstehung der Guerilla bedeutete, ein Werkzeug
zu schaffen, um die revolutionäre Linie dem Volk nahe zu bringen
und sich zu organisieren gegen ein System wie das faschistische Militärregime
vom 12. September 1980, das außer bewaffnetem Widerstand keine anderen
Möglichkeiten ließ. Also wurde auf der Grundlage des Vorstoßes
vom 15. August 1984 – trotz großer Schwierigkeiten und eines
hohen Preises – fest entschlossen, selbstlos, heldenhaft der Schritt
zur Organisierung der Guerillaarmee getan. Wechsel zu neuem Denkmodell In der Phase seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts musste das erreichte
Niveau weiterentwickelt, systematisiert werden, neue Schritte mussten
folgen. Mit einem Verständnis und ideologischer Annäherung hergebrachter
Art, mit traditionellen politischen Zielsetzungen und organisatorischen
Prinzipien war dies nicht zu realisieren, entsprach auch nicht mehr der
weltweiten Situation. Genau an dieser Stelle hat die Freiheitsbewegung
Kurdistans eine Erneuerung, Entwicklung und Restrukturierung erfahren.
Dem Vorsitzenden Öcalan sind unter den Bedingungen des internationalen
Komplotts und Imralis enorme Anstrengungen zu verdanken, diese Veränderung,
Erneuerung und Entwicklung theoretisch zu verwirklichen und in seinen
Verteidigungsschriften festzuhalten. Diese Arbeit bedeutet eine gewichtige
mentale Revolution und Vertiefung für die Menschen am Anfang des
21. Jahrhunderts. Zweifellos war das kein Selbstläufer. Er machte
sich die geistigen Errungenschaften unterschiedlicher historischer Menschheitsphasen
zur Grundlage, interpretierte sie gemäß den Bedingungen des
21. Jahrhunderts, bildete daraus eine Synthese. Er entwickelte diese zu
einem Handbuch, das von Unterdrückten, Völkern, der Menschheit
genutzt werden kann. Komplott gegen die Restrukturierung Die Bewegung hat mit Reorganisierungsarbeiten begonnen, eine sehr schmerzhafte Phase. Während sie sich mit neuem Verständnis erneuern wollte, haben ihre Gegner sie natürlich mit vielfältigen Angriffen zu liquidieren versucht. Das ist die Bedeutung des internationalen Komplotts, das zuvor den Vorsitzenden zum Ziel hatte, um dessen Wirkung zu brechen. Anschließend wurde die Guerilla angegriffen, 2000 sollte sie militärisch zermürbt und zur Kapitulation gebracht werden. Als auch das erfolglos blieb, wurde 2003 versucht, die Linie der Kollaboration, Kapitulation und Provokation aufzuzwingen. Damit sollte die Umwandlung sabotiert, die Bewegung sich selbst entfremdet und so liquidiert werden. Die Freiheitsbewegung musste auch gegen diese Angriffe einen heftigen Abwehrkampf führen. Als Führung, als Kader, als Guerilla, als Volk – vielfältig und unerbittlich wurde Widerstand geleistet und die Reorganisierungsarbeiten wurden fortgesetzt. Restrukturierung bei der Organisierung Theoretisch ist das KONGRA-GEL-System erreicht, die Liquidierungstendenzen während der Bemühungen, den KONGRA-GEL praktisch zu realisieren, führten ins Leere. Auf der 3. Vollversammlung wurde die Gründung eines neuen Gesellschaftssystems vollzogen. Wir haben es Koma Komalên Kurdistanê (Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan) genannt. Es kommt einer Organisierung gleich, der Schaffung eines Systems revolutionären demokratischen Zusammenkommens gemäß den Prinzipien des demokratischen Konföderalismus. Anders definiert: des demokratischen Organisationsgebäudes des kurdischen Volkes. Damit soll ein freiheitliches demokratisches kämpferisches Leben verbunden sein. Dieser Schritt ist mit der 3. Vollversammlung des KONGRA-GEL auf vielfältige Weise verwirklicht worden. Es handelt sich sozusagen um die Transformation des demokratischen Potentials der Menschen, welche die nationale Revolution der Wiederbelebung bewirkt haben, zu einem demokratischen Organisationssystem im Leben und im Kampf. Inzwischen änderten sich Denkweisen, die PKK wurde neu gegründet, die Guerilla umstrukturiert und entsprechend der ideologischen und politischen Leitlinie auf den legitimen Widerstand ausgerichtet. Auch für die Bevölkerung, die ihren zentralen Platz einnimmt, wurde ein bedeutender Schritt auf ein tiefgründiges System des demokratischen Konföderalismus hin getan, für die vielfältige Organisierung der gesamten Gesellschaft. Dies schließt zum einen die Reorganisierung bereits bestehender Organisierungen entsprechend der neuen Paradigmen ein, zum anderen neue Organisationsformen. Der Vorsitzende hat hierfür den Namen Koma Komalên Kurdistanê (KKK) gewählt. Die jüngste Vollversammlung hat die Weichen für die Realisierung gestellt. Grundgesetz der kurdischen Demokratie Mit dem Vertrag der Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan
entstand ein System, das wir als Grundgesetz der kurdischen Demokratie
bezeichnen können. Es handelt sich hierbei nicht um ein vollständiges
demokratisches Volksgesetz, aber es ist der erste Entwurf. Ein Volkssystem bis zu den Kommunen Was bedeutet der Rahmen dieses demokratischen Organisationsplans bzw. der Vereinbarung? Es gibt ein Entscheidungsgremium mit dem KONGRA-GEL voran als praktischem Ausdruck. Weiter verzweigt sich das Modell in Volksräte, Räte Freier BürgerInnen und in die Kommunen, die die Organe der direkten Demokratie darstellen. Darin drückt sich die Legislative, die Entscheidungsgewalt, aus. Es soll ein Entscheidungsmechanismus geschaffen werden, der demokratische Partizipation auf allen Ebenen der Gesellschaft gewährleistet. Auf der übergreifenden institutionellen Ebene hat der KONGRA-GEL – trotz durchlebter schwieriger Phase – Gestalt angenommen. Ein Statut wurde verabschiedet, das diesem Vertrag entspricht. Die 3. Vollversammlung wurde sehr systematisch, geordnet, mit wichtigen Diskussionsbeiträgen und Beschlüssen abgehalten, in einer demokratischen Arbeitsweise. Damit hat sich der KONGRA-GEL sozusagen als Beschlussorgan auf der obersten Konföderalismusebene institutionalisiert. Im Weiteren werden in Zukunft gemäß dem System des KONGRA-GEL Volksräte bis hin zu den Kommunen entwickelt werden. Koordinierende Exekutive Ein weiterer Bereich von Bedeutung ist die Exekutive der Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan. Ausführendes Organ ist der Exekutivrat des KONGRA-GEL. Dieses Gremium hat die Aufgabe, das gesamte demokratische Leben der kurdischen Gesellschaft zu koordinieren. D. h. dass in allen vier Teilen Kurdistans die Exekutivorgane auf allen Ebenen – sowohl die demokratisch-ökologischen Gesellschaftskoordinationen als auch die Freien BürgerInnenkoordinationen bis hin zu den kommunalen Leitungsorganen – in koordinierter Weise zusammenarbeiten. Die Ausführung erfolgt über diese Organe in einer Art Arbeits- und Rollenkoordinierung. Natürlich gehört es auch zu den Aufgaben der Exekutive, die Gesellschaft auf vielfältige Weise zu organisieren, dafür zu sorgen, dass verschiedene Gruppen ihre eigene, spezifische Organisierung erhalten und sich in diesem Sinne selbst organisieren, verwalten und ihr Leben in die Hand nehmen. Es ist Ausdruck der Frauen- und Jugendorganisierung, der Organisierung der legitimen Selbstverteidigung, der ArbeiterInnen und BeamtInnen, der Dorforganisierungen, d. h. der Organisierung aller Gesellschaftsschichten. Sie umfasst auch die Organisierung der Literatur, Kunst, Politik, aller Bereiche des sozialen Lebens, alle in ihren Eigenheiten. Aufsicht auf zweierlei Art Als dritten Bereich können wir die Kontrolle anführen. Beschlussgremium,
Ausführungsgremium und Kontrollgremium. Die Vereinbarung sieht zweierlei
Kontrollmechanismen vor. Zum einen die ideologische Aufsicht, d. h. sie
hat die Aufgabe, die ideologische Richtung vorzugeben bzw. in die richtige
Richtung zu lenken. Erfahrungen haben gezeigt, dass es ohne klare Orientierung
an der Grundlinie keine demokratische Volksorganisierung geben kann und
sie bei Angriffen zusammenbricht. Auch die 30-jährige Praxis hat
bewiesen, dass ohne ideologische und politische Avantgarde auch die freie
demokratische Entfaltung der Bevölkerung ausbleibt. Das realisiert
die Vereinbarung durch ein Führungsgremium. Die Führung (Apo)
ist die Schöpferin all dieser Ideen, die Theoretikerin der Bewegung.
Sie legt die Richtung fest und überwacht entsprechend die Ausführung.
Die Rolle des Führungsgremiums hat die PKK inne. In diesem Sinne
stellt die PKK die ideologische Kraft der Gemeinschaft der Kommunen
in Kurdistan dar. In diesem System fällt die Aufgabe allen u Der demokratische Konföderalismus ist ein System, das sich aus
den genannten Bereichen zusammensetzt und in seinen Grundrissen durch
den Vertrag erfasst wird. Nun muss es organisiert und umgesetzt werden.
Jede/r, alle PatriotInnen, DemokratInnen, SchriftstellerInnen, Intellektuellen,
Werktätigen, Frauen, Jugendlichen, ArbeiterInnen, BeamtInnen und
DorfbewohnerInnen sind nun gefragt, hierzu die Initiative zu ergreifen.
Niemand wird von woanders kommen, um diese Aufgaben zu erfüllen.
Die Vorarbeiten sind durch die Führung und den KONGRA-GEL als Beschlussorgan
geleistet worden. Jetzt bleibt nur die demokratische politische Institutionalisierung
zu tun. Die Bevölkerung wird diese Aufgaben in einer Art Generalmobilisierung
in die Tat umsetzen. Frauen und Jugend als strategische Kräfte Der demokratische Konföderalismus verfügt über Institutionen,
Regeln und Organisationen, außerdem über Kräfte, die bei
der Errichtung der Volksdemokratie eine Führungsrolle auf strategischer
Ebene innehaben. Die grundlegendsten Kräfte hierbei sind die Frauen
und die Jugend. Vor allem die Freie Frauenbewegung nimmt aktiv am demokratischen
Konföderalismus teil, sie ist in allen seinen Organen vertreten,
übernimmt eine Führungsrolle, um auf der Basis der Frauenbefreiungsideologie
und Ökologie die kurdische Demokratie zu entwickeln. Dasselbe gilt
auch für die Jugend. |