Essa Moosa: Nicht einmal Mandela war so isoliert wie Öcalan

MHA, Mesopotamische Nachrichtenagentur, 23. Januar 2005

Am 16. Februar 2005 reiste eine deutsch-südafrikanische Menschenrechtsdelegation in die Türkei, um die Isolationshaftbedingungen von Abdullah Öcalan zu untersuchen. Die sechsköpfige Delegation führte Gespräche mit verschiedenen Vertretern aus Politik, Menschenrechts- und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Eines der Hauptanliegen, auf der Gefängnisinsel Imrali mit Öcalan zusammen zu treffen, konnte nicht verwirklicht werden. Das türkische Justizministerium verweigerte ohne Angaben von Gründen die Besuchserlaubnis. MHA sprach mit Essa Moosa, Richter am Obersten Gerichtshof in Südafrika und ehem. Rechtsanwalt von Nelson Mandela, sowie mit em. Prof. Dr. Norman Paech, einem renommierten Völkerrechtler aus der Bundesrepublik Deutschland, über die ersten Eindrücke von ihrer Reise.

In den 1980er Jahren nahmen Sie als Rechtsanwalt die Interessen Ihres Mandanten, Nelson Mandela, wahr. Später arbeiteten Sie auch politisch zusammen. Wie haben Sie Nelson Mandela kennen gelernt? Können Sie unseren Lesern etwas über seinen Prozess erzählen?

Damals, als die weiße Regierung an der Macht war, war in Südafrika die Kultur des Nationalismus weit verbreitet. Grundlage dieser Weltanschauung waren die Apartheid und der Rassismus. Nelson Mandela stellte sich gegen diese Weltanschauung. 1952 berief er den Afrikanischen Nationalkongress (ANC) ein. Dort richtete er auf der Grundlage der gefassten Beschlüsse an die Öffentlichkeit einen Aufruf, der den Charakter eines „Freiheitsmanifestes“ hatte. In dem Aufruf formulierte er die demokratischen Prinzipien eines freien Südafrikas. Kurz darauf wurde gegen die Organisatoren des Kongresses, unter denen sich auch Nelson Mandela befand, ein Verfahren eröffnet. Die von ihm formulierten demokratischen Prinzipien wurden als „Vaterlandsverrat“ charakterisiert. Einige Jahre später wurde der ANC, aber auch andere Parteien, verboten und ihnen die politische Betätigung untersagt. Daraufhin beschloss der ANC die Aufnahme des bewaffneten Kampfes, den er so lange fortführte, bis ihm wieder Eintritt in die politische Arena gewährt wurde.
Damals verließen viele Angehörige des ANC das Land, um sich in Algerien und Palästina im Gebrauch an der Waffe unterrichten zu lassen. Bei ihrer Rückkehr überzeugten sie breite Teile der schwarzen Bevölkerung von der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes. Damit begannen die Sabotageaktionen, Bombenattentate und Angriffe auf die staatlichen Sicherheitskräfte. Im Verlauf dieser Aktionswellen wurden Mandela, aber auch andere Führer des ANC, gefangengenommen und vor Gericht gestellt. Diejenigen Führer, derer man nicht habhaft werden konnte, verließen das Land. Mandela sprach während seines Prozesses nur ein einziges mal. In seiner Rede legte er die Beweggründe des bewaffneten Kampfes und die eigenen langfristigen Ziele seiner Bewegung dar. 1989 nahm er Verbindung mit der Regierung auf, indem er zu einer Waffenruhe aufrief und zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes aufforderte.

Wie wurde der Aufruf Mandelas, die Waffen schweigen zu lassen und eine friedliche Lösung für den Konflikt zu suchen, vom Staat beantwortet? Wie gestalteten sich die Friedensbemühungen Mandelas während seiner Haftzeit?

Zuerst wies der Staat das Friedensangebot weit von sich. Viele waren gegen eine friedliche Lösung. In dieser Zeit nahm Mandela mit den im Ausland befindlichen Verantwortlichen des ANC Verbindung auf. Er überzeugte sie davon, dass ein Frieden nicht den Ausverkauf der eigenen Ideale und Ziele bedeuten muss. Er rief die Führung des ANC zur Rückkehr nach Südafrika und zur Niederlegung der Waffen auf, damit sich diese am politischen Leben des Landes beteiligen. Im Gegenzug ließ die Regierung immer mehr politische Gefangene frei, später auch Mandela selbst. Mandela, der die Friedensgespräche führte, konnte seine Organisation von dem eingeschlagenen Kurs überzeugen. Zwar gab es keine schriftliche Übereinkunft mit der Gegenseite. Vielmehr schritt dieser Prozess der Annäherung unabhängig voneinander voran.
So schrieb Mandela, der mittlerweile in ein anderes Gefängnis verlegt worden war, Briefe an den Präsidenten und Ministerpräsidenten. Die ersten Briefe wurden nicht einmal ernst genommen. Als dies Mandela erkannte, setzte er seine beständigen Bemühungen fort, indem er weitere Briefe an die Abteilung des Justizministeriums sendete, die für das Strafvollzugswesen verantwortlich war. Er verstand es, über diese Abteilung eine Verbindung zur Regierung aufzunehmen.
 
Der Staatssekretär für den Strafvollzug begann seine Eindrücke an den Ministerpräsidenten zu übermitteln, die er in den langen Gesprächen mit Mandela auf der Gefängnisinsel gewonnen hatte. Während dieser Zeit wurden einerseits die großen Proteste, Aktionen und Widerstand gegen die Apartheid fortgeführt, andererseits hielt der Staat seine Politik der extralegalen Hinrichtungen und Tötungen aufrecht.
Als nach geraumer Zeit Mandela erlaubt wurde, einige seiner Kampfgenossen zu Gesprächen zu empfangen, beschleunigte dies den Friedensprozess ungemein. Denn diese Führer des ANC waren noch nicht vom Friedenskurs Mandelas überzeugt. Danach kam es zu einer Reihe von Veränderungen. Nunmehr wurden die Organisationen, denen diese Führer angehörten, nicht mehr als illegal angesehen. Alles Weitere ist bekannt. 1994 wurden Wahlen abgehalten, aus denen der ANC als Sieger mit absoluter Mehrheit hervorging. Mandela wurde Präsident, eine demokratische Verfassung wurde verabschiedet.

Gibt es Ihrer Meinung nach Ähnlichkeiten zwischen den Fällen von Abdullah Öcalan und Mandela?

Nelson Mandela war nicht derartigen Isolationshaftbedingungen ausgesetzt, wie dies bei Abdullah Öcalan der Fall ist. Dennoch ist es gut möglich, dass es auch in seinem Fall zu ähnlichen Entwicklungen kommen kann. Dies hängt jedoch davon ab, inwieweit Öcalan Verbindung mit der Regierung aufnehmen kann bzw. wie sehr er dazu entschlossen ist. Ich sehe jedenfalls keinen Grund, weshalb das nicht möglich sein sollte. Zwar war auch Mandela auf einer Gefängnisinsel gefangen, er hatte jedoch die Möglichkeit, Kontakt zu anderen Gefangenen zu pflegen. Dies ist Öcalan nicht möglich. Früher war der ANC verboten und seine Führer waren als Terroristen diskreditiert. Einige frühere Freiheitskämpfer bzw. als Terrorist gebrandmarkte Führer von Befreiungsbewegungen sind heute Präsidenten ihres Landes. Wir sehen also, dass nichts unmöglich ist.

Herr Paech, Sie beschäftigen sich schon länger mit einer Lösung der kurdischen Frage. Wie bewerten Sie die diesbezüglichen Entwicklungen?

Vor zwei Jahren kam ich in die Türkei und bereiste die Gegend um Wan (Van) und Culemêrk (Hakkari). Das war in der Zeit des Wahlkampfes. Die Bevölkerung war einem enormen Druck ausgesetzt. Eine derartige repressive Atmosphäre war auch bei der letzten Wahl festzustellen. Ein demokratischer Umgang war nicht existent. Mein erster Eindruck aus den Gesprächen mit Vertretern von zivilgesellschaftlichen Organisationen ist jedoch, dass die jetzige Regierung dazu eine positivere Haltung einnimmt. Zwar setzen sich die Menschenrechtsverletzungen weiterhin fort, die jetzige Regierungspartei scheint jedoch aus den Erfahrungen gelernt zu haben und bewusster zu handeln. Leider musste ich dennoch feststellen, dass sich die Mentalität und das Denken der türkischen Regierung nicht wirklich geändert haben.
 
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass Ihnen vom Justizministerium der Besuch auf Imrali verwehrt wurde?
Anfänglich hofften wir, dass man es uns erlauben wird, mit Herrn Öcalan zusammenzutreffen. Wir sind betrübt darüber, dass es zu einem solchen Zusammentreffen nicht gekommen ist. Einerseits behauptet das Justizministerium, dass es dem internationalen Standard gerecht würde. Andererseits sprechen menschenrechtliche und zivilgesellschaftliche Institutionen davon, dass gegenüber Herrn Öcalan massive Isolation angewandt wird. Natürlich widerspricht Isolationshaft den universellen Menschenrechten, weshalb derartige Maßnahmen nicht hingenommen werden dürfen. Wären wir mit Abdullah Öcalan zusammengetroffen und hätten wir die dortigen Bedingungen mit eigenen Augen sehen können, dann könnten wir auch einen ausgewogenen Untersuchungsbericht erstellen. Nicht nur, dass die Regierung das Gesuch für einen Besuch bei Abdullah Öcalan zurückgewiesen hat, sie hat uns auch keinen Gesprächstermin gegeben, aus Zeitmangel, wie sie sagt.
Das Verhalten des Justizministeriums entsprach nicht seiner Position, es war oberflächlich und unreif. So glaube ich nicht, dass die Ursache hierfür beim Justizministerium lag, sondern vielmehr bei den Stellen, die gegenüber dem Justizministerium weisungsberechtigt sind. Zwischen den Auffassungen der Vertreter der AKP und den Auffassungen der Vertreter der Menschenrechtsorganisationen besteht ein großer Unterschied. So stellt die AKP die Menschenrechtslage und die Demokratisierungsfortschritte sehr positiv dar, dem wiederum die Menschenrechtsorganisationen jedoch vehement widersprechen.

Wie sehen Sie die politischen Hintergründe der gegen Abdullah Öcalan angewandten Isolationshaft?

Isolation ist eine Methode, um oppositionelle Führer über Jahre hinweg von ihrem Volk zu trennen. Gleichzeitig soll dies die Auflösungserscheinungen ihrer Organisationen forcieren. Mit dieser Methode soll die Persönlichkeit dieser Führer gebrochen werden, weshalb ich diese Methode als „weiße Folter“ bezeichne.
 
Werden Sie Ihre Untersuchungen fortsetzen?

Ja, wir werden sie fortsetzen. Unsere Absicht ist Fakten zu diesem Thema zu sammeln. So widerspricht, für meine Begriffe, das gegen ihn verhängte Urteil dem internationalen Recht, da seine Entführung illegal war. Ein solches Vorgehen ist nicht durch internationales Recht gedeckt. Würde man eine solche Missachtung dulden, könnte jeder Staat der Welt seine Oppositionellen aus dem Ausland entführen und verurteilen.
Im Urteil aus erster Instanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (ECHR) fand die Entführung Abdullah Öcalans keine Erwähnung. Demnach konnte der Gerichtshof keinen Rechtsverstoß feststellen. Aus diesem Grund werden wir unsere Untersuchungen fortführen, um die Angelegenheit etwas mehr zu erhellen. In Südafrika gab es z. B. in der Vergangenheit einen ähnlichen Fall. Dort wurde ein Führer der oppositionellen Bewegung, mit dem Namen Es Ibrahum, von Swaziland nach Südafrika verschleppt. Infolgedessen wurde Es Ibrahum zu einer Haftstrafe von 18 Jahren verurteilt. Dieses Urteil wurde in höherer Instanz wieder aufgehoben, da das betreffende Gericht zum Schluss kam, dass der Prozess gegen ihn illegal war, weil auch seine Verschleppung illegal war. Es Ibrahum wurde freigelassen.