Zur Verschleppung Abdullah Öcalans in die Türkei

Wer nahm Abdullah Öcalan in Kenia gefangen?

Interview mit Bülent Ecevit, RADIKAL September 2004

Interview mit dem ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit über die Hintergründe der völkerrechtswidrigen Verschleppung Abdullah Öcalans, geführt von Murat Yetkin, erschienen in der türkischen Tageszeitung „RADIKAL“ am 13. September 2004

Am Morgen des 16. Februar 1999 erfuhr die Weltöffentlichkeit durch die Erklärung des damaligen Ministerpräsidenten, Bülent Ecevit, dass der Führer der illegalen PKK, Abdullah Öcalan, in Kenia gefangen genommen worden sei und sich nun in der Türkei in Haft befinde. Bisher sind verschiedenste Versionen darüber verbreitet worden, auf welche Art Öcalan gefangen genommen worden sei. Heute wissen wir, dass davon ein großer Teil nicht der Wahrheit entspricht.
Bis vor kurzem war jedoch nicht bekannt, inwieweit die USA darin verwickelt waren. Die Annahme einer Involvierung der USA stützte sich mehrheitlich auf reine Vermutung. Eine offizielle Verlautbarung steht weiterhin aus. Durch einen Nebensatz eines amerikanischen Diplomaten erhielten die Vermutungen über eine Zusammenarbeit zwischen den USA und der Türkei neue Nahrung. Während einer Pressekonferenz anlässlich eines Zusammentreffens mit dem Vorsitzenden der DYP, Mehmet Agar, am 18. September 2003 in Ankara fügte der amerikanische Botschafter Eric Edelman in einer seiner Antworten auf die Fragen der Journalisten hinzu, dass „man bei der Auslieferung von Herrn Öcalan an die Türkei zusammengearbeitet habe“. Es war nur ein kurzer Satz, der dennoch sehr aufschlussreich war.
Ein weiters Eingeständnis kam vom ehemaligen türkischen Staatspräsidenten Süleyman Demirel. So wurde eine Reportage von mir am 16. August 2004 in der RADIKAL veröffentlicht, in der Demirel eingesteht, dass man Öcalan lediglich beobachtet habe. Die Amerikaner seien es gewesen, die Öcalan gefangen nahmen und ihn der Türkei übergaben. Das war ein Wendepunkt. Diese Erklärung erleichterte die Aufklärung der Umstände der Gefangennahme des PKK-Führers. Sie war aber auch in anderer Hinsicht wichtig. Ohne eine Aufklärung der Umstände der Gefangennahme wäre diese nur ein Beispiel für die internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus geblieben. Weitaus wichtiger war jedoch die politische Atmosphäre, die sich nach der Gefangennahme Abdullah Öcalans entwickelte. Sie bereitete den überfälligen politischen und rechtlichen Reformen den Boden, welche durchzuführen die Türkei über Jahrzehnte hinweg versäumte.
Eine Stellungnahme von Bülent Ecevit, der dem amerikanischen Vorschlag einer Zusammenarbeit bei der Gefangennahme Öcalans zustimmte und so eine der risikoreichsten Entscheidungen in der republikanischen Geschichte (die von 1974 zu Zypern nicht zu vergessen) zu treffen hatte, stand bislang jedoch aus.
Das hat Ecevit nun nachgeholt. So gibt er zu, jeder Nachfrage von Journalisten über die türkische Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Geheimdienst bewusst ausgewichen zu sein. Da das Thema nun öffentlich diskutiert werde, sei die Zeit gekommen das Wort zu ergreifen, so Ecevit. Das, was er zu sagen hat, ist für viele, ob Historiker oder Politiker, von Bedeutung. Einerseits zeigt dies die Unbestimmtheit der Entscheidungsprozesse des türkischen Verwaltungssystems auf, anderseits wird dadurch auch klar, dass man nach einer Entscheidung bis zum Letzten zu gehen bereit ist, selbst dann, wenn der Ausgang nicht abzusehen ist. Nachfolgend geben wir nun das Gespräch wieder, das wir mit Bülent Ecevit über die Hintergründe der Gefangennahme des PKK-Führers, Abdullah Öcalan, geführt haben:

RADIKAL: Von wem wurden Sie zuerst über den amerikanischen Wunsch nach Zusammenarbeit bei der Gefangennahme von Abdullah Öcalan unterrichtet?

ECEVIT: Am 4. Februar 1999 vom Chef des türkischen Geheimdienstes, Senkal Atasagun.

Was dachten Sie in diesem Moment?

Ich freute mich natürlich.

Was haben Sie geantwortet?

Wenn sich diese Lösung verwirklichen lässt, sollten wir es versuchen.

Wem haben Sie die Nachricht zuerst mitgeteilt?

Ich informierte umgehend den Staatspräsidenten, Süleyman Demirel, und den Generalstabschef, Hüseyin Kivrikoglu. Außer diesen beiden sagte ich zu niemandem etwas. Denn anders wäre diese brisante Information nicht zu kontrollieren gewesen. Ich erzählte nicht einmal meiner Frau Rahsan davon. An jenem Abend versammelten wir uns. Sowohl Demirel als auch Kivrikoglu waren der Meinung, dass wir es versuchen sollten. Danach beauftragten wir Atasagun mit der Ausführung.

Führte er persönlich die Operation an?

Ja. Wir standen jeden Tag in Verbindung. Täglich unterrichtete er mich über den Verlauf der Dinge. Unser Einsatzkommando war damals in Afrika. Täglich wechselte es seine Stellung. Zeitweise hatten wir Bedenken, dass es auch diesmal nicht klappen würde. Aber Herr Senkal vertraute seinen amerikanischen Geheimdienstkollegen. Er sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen und dass die Sache erfolgreich abgeschlossen würde.

Warum zog sich die Angelegenheit so lange hin? War vorher ein Zeitpunkt festgelegt worden? Warum verzögerte sich die Aktion?

Nein, es gab keinen festgelegten Zeitpunkt. Eigentlich war die Angelegenheit sehr kompliziert. Denn die Amerikaner führten schlussendlich eine inoffizielle Operation durch. Deshalb war es auch für sie wichtig, dass die Angelegenheit vertraulich blieb. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, wich ich bis vor kurzem jeder Nachfrage von Journalisten nach der türkischen Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Geheimdienst bewusst aus. Nachdem nun offen darüber diskutiert wird, kann ich darüber auch mit Ihnen sprechen.

Als Atasagun Ihnen den amerikanischen Vorschlag unterbreitete, fragten Sie sich nicht, was die amerikanische Regierung dazu bewegte?

Wir fragten nicht nach. Wir gingen auch nicht auf Einzelheiten ein. Vordringlichstes Interesse war der Erfolg der Operation. Außerdem war auch zu beachten, ob dieser Vorschlag auf Beschluss der amerikanischen Regierung hin unterbreitet wurde oder ob dieser eine Initiative des CIA war, der ein derartiges Vorgehen nicht im Widerspruch zu der Politik der USA und Türkei sah. Das war nicht klar.

Fragten Sie nicht nach?

Nein. Denn dies hätte eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der USA bedeutet. Ich konnte während meiner Amtszeit als Ministerpräsident interessante Beobachtungen über das Vorgehen von Geheimdiensten machen. Dies wird sie wahrscheinlich interessieren. Zwischen den Geheimdiensten einiger Länder bestanden eine engere Beziehung, ein intensiverer Dialog und eine engere Zusammenarbeit als dies zwischen den Regierungen ihrer Länder der Fall gewesen ist. Die am dringendsten benötigte Information kam immer im richtigen Moment von den Nachrichtendiensten einiger Länder, von denen man es nicht erwartet hätte. In diesem Zusammenhang wurden nicht nur Informationen, sondern auch Leute ausgetauscht. Sie belogen sich nicht. Sie hatten eine interessante Atmosphäre der beruflichen Solidarität und des Vertrauens geschaffen. Demzufolge wussten wir nicht, inwieweit der Vorschlag, welcher dem MIT unterbreitet wurde, der Initiative des CIA oder dem direkten Beschluss der amerikanischen Regierung entsprang. Uns blieb nichts anderes übrig als zu vertrauen. Eine Nachfrage hätte zu Komplikationen führen können.

Also, der Geheimdienstchef des MIT, Atasagun, kam zu Ihnen und sagte, die Amerikaner wollen Öcalan übergeben, und fragte, was man ihnen denn antworten solle. Sie haben wiederum im Vertrauen auf Atasagun ihre Zustimmung gegeben. War dem so?

Ja. Dem war so.

Wenn dem so war, haben das der Staatspräsident und der Generalstabschef nicht hinterfragt?

Nein. Wir beschäftigten uns nicht mit den Einzelheiten. Es war klar, was zu tun war. Wie ich schon sagte, wir beauftragten Herrn Senkal mit der Durchführung.

Beschlossen Sie damals Öcalan auf Imrali zu inhaftieren, vorausgesetzt, man kann seiner habhaft werden?

Diese Entscheidung musste schnell getroffen werden. Die auf Imrali inhaftierten Gefangenen mussten verlegt und militärische Einheiten dorthin entsandt werden, welche die notwendigen Vorbreitungen zu treffen hatten. Natürlich war dabei auch das Ressort des Justizministeriums betroffen. Trotz der begrenzten Zeit konnten die Arbeiten mit größter Geheimhaltung und hohem Tempo durchgeführt werden. Die Renovierung von Imrali wurde deshalb auch getarnt durchgeführt.

Es wird immer wieder kolportiert, dass die Amerikaner für die Übergabe Öcalans ein Absehen von der Hinrichtung bzw. seine Nicht-Tötung zur Voraussetzung gemacht hatten. War dies bei dem besagten Zusammentreffen ein Thema?

Während meiner Regierungszeit wäre das nicht in Frage gekommen. Im Programm der DSP war auch die Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe verankert. Die DSP war sowieso gegen die Todesstrafe. So war klar, dass wir noch bis zu den Wahlen vom 18. April im Amt bleiben würden. Soweit ich das in persönlichen Gesprächen mit Vertretern der türkischen Streitkräfte beurteilen konnte, war dies auch in ihrem Sinne, auch wenn das so offen nicht gesagt wurde. Später in der Koalitionsperiode wandte sich auch die ANAP gegen die Hinrichtung. Auch wenn die MHP eine andere Sichtweise vertrat, kam sie dennoch an den Punkt, dem nicht mehr im Wege stehen zu wollen.

Hatten Sie nach der Gefangennahme und Auslieferung Öcalans mit der amerikanischen Regierung Kontakt aufgenommen bzw. sich bedankt?

Nein. Haben wir nicht. Das hat Herr Senkal mit seinen Ansprechpartnern getan. Wir hätten dies nicht gekonnt. Denn in diesem Fall hätten wir die Angelegenheit als eine staatliche Politik der USA anerkannt. Das hätte die Amerikaner in Schwierigkeiten bringen können. Nicht nur im sicherheitsrelevanten Sinne, sondern auch im politischen Sinne war es notwendig, dass die Sache geheim blieb. Wir sagten, es soll nur so weit bekannt sein, wie es die Amerikaner selbst öffentlich machen. Wenn sich nun an diesem Punkt ein Staatsmann einmischt, gewinnt die Angelegenheit eine ganz andere Dimension.

Der Bürger fragt sich nun, wenn die Vertreibung Öcalans aus Syrien und seine Gefangennahme möglich war, warum man denn so lange damit gewartet hat bzw. warum noch so viel Blut vergossen werden musste? Hätte dies nicht schon viel früher geschehen können?

Vielleicht wäre es möglich gewesen. Hierfür hätte die Stärke der Türkei ausgereicht. Natürlich müsste man dies die vorherigen Regierungen fragen. Nun ist es aber so, dass sich während meiner Amtszeit als Ministerpräsident die Voraussetzungen für einen Zugriff ergaben. Als eine Umsetzung möglich schien, ergriffen wir die notwendigen Maßnahmen. Natürlich geschah dies mit der Hilfe der Amerikaner. Auf eine andere Art wäre es nicht möglich gewesen.

Was war das politische Interesse, das die Amerikaner zu solch einem Schritt bewog?

Das versuche ich immer noch zu verstehen. Vielleicht waren sie der Meinung, dass eine Bewegung, die nicht unter der Kontrolle der USA steht und zudem terroristisch und separatistisch agiert, sowohl der Türkei als auch den USA großen Schaden zufügen könnte. Denn wenn wir heute das Verhalten der USA im Nordirak betrachten, lässt sich dies als widersprüchlich klassifizieren. Weder unternehmen die USA etwas gegen die PKK noch erlauben sie es der Türkei. So, wie wir es befürchtet hatten, ist für uns die PKK im Nordirak zu einem Problem geworden.
Wenn die USA nichts gegen die kurdische Bewegung unternehmen, ist zu befürchten, dass dies vom türkischen Volk als Unterstützung dieser Bewegung ausgelegt wird, was anti-amerikanische Vorurteile schüren könnte. In dieser Hinsicht war der ehemalige amerikanische Präsident, Bill Clinton, völlig anders. Das Amerika der zweiten Bushperiode strebt nach der Kontrolle über den gesamten Mittleren Osten. Es entwirft ihr eigenes Projekt vom Mittleren Osten. Im Irak kommt Amerika kaum einen Schritt voran. Der palästinensische Staat soll de facto vernichtet werden. Sollen jedoch in der Region demokratische und säkulare Regime dominieren, kann dies nicht mit der Vernichtung des palästinensischen Staates geschehen. So wird nur das Chaos vertieft und der Terror angefacht.

Konnten Sie voraussehen, dass nach der Gefangennahme Öcalans die terroristischen Akte abnehmen werden?

Das war klar. Der Terror hörte auf. Öcalan war in unserer Hand ein wichtiges Faustpfand. So dachten seine Gefolgsleute, wenn sie in der Türkei weiterhin Terror verbreiten würden, könnte das Leben von Apo in Gefahr geraten. Jeder verstand, dass die Türkei gegen den Terror entschlossen und unerbittlich vorgeht.

Was wäre gewesen, wenn Öcalan im Laufe der Operation getötet oder später hingerichtet worden wäre?

Seine Sympathisanten hätten ihn zum Märtyrer ausgerufen. Der Terror hätte nicht aufgehört. Unsere außenpolitischen Beziehungen hätten großen Schaden genommen. Deshalb war eine Verhinderung der Hinrichtung lebenswichtig.

Inwieweit hat die Gefangennahme Öcalans den Reformprozess in der Türkei beeinflusst?

Es hat den Reformprozess erleichtert. Zusammen mit der Neutralisierung des Terrors konzentrierte sich die von mir geführte Regierung auf politische und soziale Maßnamen. Wir haben zwar nicht schnell genug reagiert, dennoch versuchten wir diese Gelegenheit zu nutzen. Herr Devlet Bahceli unterstützte das trotz der heftigen Gegenreaktionen aus seiner Partei. Das war für einen Vorsitzenden der MHP garantiert nicht leicht. Für den genannten Prozess wirkte sich das jedoch sehr konstruktiv aus.

Hat die Gefangennahme Öcalans bei Ihrem Wahlsieg vom 18. April 1999 eine Rolle gespielt?

Zu keiner Zeit hatte ich den Erfolg der Aktion allein beansprucht. Ich sagte stets, dass dies ein Erfolg des Staates war. Das wiederum stieß in der Öffentlichkeit auf ein positives Echo. Auch wenn es nicht der einzige Faktor war, die Gefangennahme Öcalans trug zum Erfolg der DSP bei. Wir erlebten aber auch schon früher derartige Wahlerfolge. Vor dem 12. September 1980 kamen wir zusammen mit der CHP auf 41 Prozent der Stimmen. Wäre der Militärputsch nicht gewesen, wären wir als Sieger aus der Wahl hervorgegangen.

Sie befanden sich an der Spitze der Regierung. Hat dies die amerikanischen Überlegungen hinsichtlich einer Auslieferung Öcalans beeinflusst?

Das habe ich noch immer nicht ganz begriffen. Möglich ist das schon. Unsere Beziehungen zu den USA waren sowohl freundschaftlich als auch kompliziert. Die USA sind ein mächtiges Land. Sie sind unsere Verbündeten. Von Zeit zu Zeit richteten die USA gewisse Ersuchen an uns. Solange diese nicht unseren nationalen Interessen entgegenstanden, bemühten wir uns sie zu erfüllen. In den amerikanisch-türkischen Beziehungen habe ich stets die nationalen Interessen der Türkei offen angesprochen, ich habe die Amerikaner nie angelogen. Diesbezüglich ließ ich die Amerikaner niemals im Unklaren. Deshalb konnte ich mit den Amerikanern entspannter und vertraulicher Beziehungen knüpfen, als dies manchen anderen europäischen Ländern möglich ist.

Das Interview mit Murat Yetkin ist ebenfalls dem Spezial-Dossier Nr. 1 der „Internationalen Initiative Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan“ entnommen.

Kontakt:
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Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan
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