Mêrdîn – die Vielfalt der Kulturen

Dersim Munzur

Historie

Die Stadt Mêrdîn (türk. Mardin), die unterhalb der gleichnamigen Burg liegt, hat eine lange, mehr als 2 000-jährige Geschichte. Wenn man zur 1 500 m über dem Meeresspiegel gebauten Mêrdîn-Burg hochsteigt, überblickt man die Ebenen und Tiefebenen, durch die der Fluss Tigris – aus östlicher Richtung kommend – fließt, vorbei an der Stadt Cizîra Botan (türk. Cizre), in Richtung der Städte Hezex (türk. Idil), Nisebîn (türk. Nusaybin), Qoser (türk. Kiziltepe), Dirbesiyê (türk. Senyurt) und Serê Keniyê (türk. Ceylanpinar). Die Mêrdîn-Burg, deren Namen ebenso wie der Name der Stadt Mêrdîn wahrscheinlich auf Maria – Tochter eines römischen Kaisers – zurückgeht, wurde in der Zeit der Besatzung durch die Römer gebaut.
In der Geschichte bildete das Gebiet von Mêrdîn wegen seiner vorteilhaften geographischen Lage einen Verbindungsknoten der Handelsstraßen. Deshalb war es immer wieder der Schauplatz von Kriegen und Kämpfen zwischen verschiedenen Imperien. Es war den Invasionen und Besetzungen jeder neuen militärischen Macht, die sich entwickelte, ausgesetzt, wurde verbrannt und verwüstet. Die geographische Beschaffenheit des Gebietes mit seinen ausgedehnten Ebenen verschaffte den fremden Kräften wichtige Vorteile.
Das Gebiet von Mesopotamien, in dem Mêrdîn liegt, gilt auch als die Wiege des Ackerbaus und der Viehzucht. Auch aus diesem Grund war Mêrdîn das Ziel kriegerischer Angriffe.
Mêrdîn ist eines der ersten Siedlungsgebiete der Kurden. Historisch erwiesen ist, dass in dem Gebiet von Mêrdîn vor den Medern die Hurri-Mittaner (sie können als die Ureinwohner dieser Region betrachtet werden), Babylonier und Assyrer ihr jeweiliges Reich errichtet hatten. Seit 550 v. u. Z., nach dem Zerfall des medischen Reiches, das ein Zentrum dort hatte, war das Gebiet von Mêrdîn, wie alle übrigen Gebiete Kurdistans, in den folgenden Jahrhunderten der Reihe nach den Überfällen und Besetzungen durch die Perser, das griechisch-makedonische Königreich, die Armenier, Römer, Sassaniden und Parther ausgesetzt. Lange Zeit kämpften die Parther bzw. Sassaniden und Römer von 50 bis 400 n. u. Z. um das Gebiet von Mêrdîn. Der Streit zwischen diesen beiden Reichen dauerte bis zur Invasion der Araber an.
Ein Machtvakuum entstand, da weder Parther/Sassaniden noch die Römer das Gebiet dauerhaft erobern und ihre Herrschaft darüber errichten konnten. Davon profitierten die Assyrer und siedelten sich dauerhaft und längerfristig an. Die Gegend zwischen Mîdyat, Hezex und Nisêbîn wird zum Ansiedlungsgebiet der christlichen Assyrer. Sie wird von ihnen „Tur Abidin“, von den Kurden „Tor“ bezeichnet. Die Verbreitung des Islams in diesem Gebiet, eine Folge der arabischen Invasion, und die zwangsweise Übernahme der islamischen Religion durch die Kurden, führten zur Schwächung der Assyrer und Armenier. Das Gebiet von Mêrdîn ist eines der ersten Gebiete Kurdistans, das von der arabischen Invasion, deren Ziel u. a. die Verbreitung des Islam war, betroffen war.
Ein großer Teil der Kurden, speziell die Jezidi-Kurden, haben lange Zeit gegen die arabischen Eroberungen Widerstand geleistet. Hervorgehoben werden muss die Tatsache, dass sich die Jezidi-Kurden trotz der Massaker, denen sie ausgesetzt waren, nicht den Arabern ergeben haben. Nachdem der Islam vom Großteil der Kurden angenommen worden war, wuchsen die Bemühungen, speziell der kurdischen herrschenden Klassen, das Arabertum als erhaben und das Kurdentum als minderwertig zu beurteilen. Scheichtum und Seyidentum waren damals weit verbreitet. Damit zusammen entwickelte sich bei denen, die Beg, Aga, Mir und Emir (Fürsten usw.) sein wollten, eine starke Arabisierung. Eine Schicht, die Mahalmi (Araber) genannt wird, entstand in Mêrdîn als Ergebnis dieser Arabisierungsbemühungen. Fast alle Angehörigen dieser Schicht sind Kurden und einige Tausend von ihnen leben heute im Libanon.
Als sich türkische Nomadenstämme im 11. Jahrhundert in Kurdistan niederließen, siedelten sich die Artukogullari in Mêrdîn an. Ähnlich wie in anderen Gebieten von Kurdistan konnten auch die Artukogullari ihre Eigenständigkeit nicht behaupten. Sie wurden von den Kurden assimiliert, die in dieser Periode eine wichtige kulturelle Entwicklung erlebten.
Mêrdîn wurde von dem kurdischen Fürstentum Mervanî, später Eyubî und dem Fürstentum Cizîra Botan (türk. Cizre) beherrscht. Cizîra Botan entwickelte sich nicht nur für Mêrdîn, sondern für ganz Kurdistan zum wichtigen historischen Kulturzentrum. So stammen Dichter wie Feqiye Teyran, Meleyê Cizîrê höchstwahrscheinlich aus Cizîra Botan.
Es wird berichtet, dass die Geschichte, deren Inhalt die Erzählung “Mem û Zîn” (ein berühmtes Werk der kurdischen Literatur) hat, hier stattfand.
Die oben erwähnten kurdischen Fürstentümer bestanden bis zu der Zeit der Herrschaft von Abd ül-Kadir im Osmanischen Reich. In Mêrdîn selbst bestand das auf dem Stammeswesen basierende Feudalsystem bis in die 50er Jahre, sogar bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts fort.
Die Hamidiye-Regimenter, die in der Zeit von Sultan Abd ül-Hamid Ende des 19. Jh. zur Sicherung seiner Macht gebildet worden waren, gab es auch in Mêrdîn. Ibrahim Pasa, der in der Region von Mêrdîn eines dieser Regimenter führte, war das Adoptivkind von Sultan Abd ül-Hamid.
Diese zum Schutz der osmanischen Herrschaft gebildeten Regimenter führten die Massaker an der armenischen Bevölkerung durch. Auch kurdische Stammesmitglieder beteiligten sich an diesen Massakern. Der Großteil der überlebenden armenischen Bevölkerung wanderte nach Syrien, Libanon und Europa aus.
Die Deutschen versuchten vor dem Niedergang des Osmanischen Reiches mit dem Bau einer Eisenbahnlinie (Teil der Bagdad-Bahn, sie führte an der südlichen Grenze der Provinz Mêrdîn vorbei) ihre auf dieses Gebiet gerichteten ausbeuterischen und militärischen Ziele zu verwirklichen.
Nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg besetzten die Franzosen das Gebiet. Aber die schwachen französischen Kräfte konnten sich angesichts der sich entwickelnden Volksaufstände in Riha (Urfa, Edessa), Dîlok (Antep) und Girgûm (Maras) nicht halten und waren gezwungen, sich zurückzuziehen.
Die Bevölkerung von Mêrdîn hat in den Jahren 1918 bis 1940 an den Volksaufständen, die sich in ganz Kurdistan entwickelten, in verschiedenem Maße teilgenommen.
1918 erfolgte für Nord-Kurdistan sehr früh ein Aufstand in dieser Provinz gegen die türkische Herrschaft. Der bis 1919 andauernde Aufstand von Ali Kebate (Ali Bakti) richtete sich sowohl gegen die osmanische Herrschaft als auch gegen die französische. Sie begann nämlich zuerst in Qamislo auf der anderen Seite der Grenze (das Gebiet jenseits war französisch besetzt worden).
An dem Sex-Said-Aufstand von 1925 beteiligten sich auch die Menschen von Mêrdîn. In Mêrdîn wird er als der Haco-Aufstand bezeichnet, weil er nach dem Ende des Sex Said noch eine gewisse Zeit andauerte und vom einflussreichen Haco-Stamm angeführt wurde. Auch dieser endet ein Jahr später mit einer Niederlage. Nach tausenden Toten auf kurdischer Seite flüchten über 70 000 Menschen nach Syrien. 1927 wird für sie vom türkischen Staat eine Amnestie ausgerufen. Daraufhin kehren viele Frauen und Kinder zurück. Diese sammelt der Staat in einem Dorf und massakriert dort fast alle von ihnen. 5 000 Menschen werden kaltblütig ermordet, nur wenige können fliehen.
Wie in ganz Kurdistan spielte die Haltung der herrschenden Klasse, nämlich Verrat und Kapitulation, auch im Gebiet von Mêrdîn eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Volksaufstände.
Durch ihr niederträchtiges Vorgehen erleichterten die herrschenden kurdischen Klassen dem Kolonialismus der türkischen Republik, Fuß zu fassen und die ausbrechenden Aufstände niederzuschlagen. Das Gebiet Mêrdîn war und ist wegen seiner strategischen Lage ein Gebiet, das in der Vergangenheit und heute Ziel zahlreicher fremder Okkupationskräfte war und das heftig umkämpft wurde. Diese historischen Entwicklungen haben ihre Spuren hinterlassen, darunter reiche historische Bauten und Denkmäler.
In den folgenden Jahrzehnten legte sich auch über Mêrdîn eine schwere Last des Schweigens, so dass der Staat walten und schalten konnte, wie er wollte. Der Staat ging in den siebziger Jahren vor allem dazu über, die assyrische und jezidische Bevölkerung aus Mêrdîn zu vertreiben, wobei islamisch-kurdische Aghas mitwirkten. In den 70er Jahren flüchtete der größte Teil der Jeziden, die hauptsächlich in den Dörfern von Mîdyat und des Bagok-Gebirges lebten, nach Deutschland. Auch die Assyrer, die in der Stadt Mîdyat lebten, mussten teilweise fliehen. Zur Zeit leben in Mîdyat nur noch eine Handvoll Jeziden. Ihre Verwandten, von Deutschland kommend, um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen, werden auch heute noch von kurdischen Muslimen und Türken angefeindet.

Historische Bauten

Die wichtigsten dieser historischen Bauten und Denkmäler, die noch heute bestehen, sind folgende:
Die Ruinen von Dara: Die noch bestehenden Ruinen der ehemaligen berühmten Stadt Anastiaspapolis. Diese Ruinen beweisen, dass die Stadt ziemlich groß gewesen war. Sie befinden sich an der Straße von Mêrdîn nach Nisebîn.
Die Moschee von Babassur: Sie liegt im Zentrum von Mêrdîn und zählt zu den schönsten Moscheen mit der interessantesten Architektur. Gebaut wurde sie im 14. Jahrhundert.
Dêrzaferan: Das ehemalige Kloster liegt 8 km vom Zentrum Mêrdîns entfernt. Seine Geschichte reicht 1 500 Jahre zurück. Es war und ist auch heute noch das religiöse Zentrum des Assyrertums. Gebaut wurde es aus Steinblöcken mit einer Länge von 3 und einer Höhe von 1 Meter, die ohne Mörtel aufeinander gesetzt wurden. Außerdem gibt es hier Gräber assyrischer Priester.
Meran-Burg: Gebaut in der Epoche der römischen Besatzung und benannt nach Maria, der Tochter eines römischen Imperators. In der heute noch erhaltenen Burg befinden sich die Ruinen einer Moschee und eines Palastes. Die Burg liegt 800 m hoch.
Nisêbîn: In Nisêbîn befinden sich das Mausoleum von Zeynel Abidin und Süleyman Pak, ein Triumphbogen aus der Zeit der Römer, sowie Kirchenruinen, von denen man nicht weiß, aus welchem Jahrhundert sie stammen.
Die Kirche Mar Yakup: In dieser noch stehenden Kirche in Nisêbîn wurde seit der Ausbreitung der Assyrer im 3. Jh. n. u. Z. Religion gelehrt. Sie hatte die Funktion einer Universität inne. Daher kann sie als der älteste auf der Welt noch stehende Ort der systematischen (universitären) Bildung und Lehre genannt werden.
Dera Topa: In dieser Kirche in Mîdyat wird heute noch gelehrt. Die wenigen Assyrer in Mêrdîn leben in Orten wie in dieser Kirche. Solche historisch bedeutungsvollen Bauten halten diese Assyrer davon ab, dass sie auch ihr Heimatland verlassen.

Die Bedeutung von Mêrdîn in Kurdistan

Das Gebiet von Mêrdîn umfasst etwa 9 000 qkm und ist somit ein ausgedehntes Gebiet Kurdistans. Der Tigris-Fluss, der das Gebiet von Mêrdîn von einem bis zum anderen Ende umgibt, bildet die Grenzlinie zum Gebiet von Botan. Im Norden grenzt es an die Provinz Amed (Diyarbakir) und im Westen an Riha (Urfa). Im Nordosten liegt die Provinz Batman und Sêrt (türk. Siirt), im Osten hingegen die Anfang der neunziger Jahre neugeschaffene Provinz Sirnex (Sirnak). Im Süden grenzt Mêrdîn an Südwest-Kurdistan.
Hauptsächlich besteht das Gebiet von Mêrdîn aus Hoch- und Tiefebenen, im Norden, Nordosten und Nordwesten gibt es einige, aber nicht allzu hohe Berge (bis zu 1 450 m). Ein Berg, der mit seiner Unbegehbarkeit hervorragt, ist der nordöstlich von Nisêbîn gelegene Bagok mit seinen etwa 1 200 m. Die Berge von Mêrdîn sind begrenzt bewaldet. Im Süden liegen in den ausgedehnten Ebenen die Orte Nisêbîn, Qoser (Kiziltepe), Dirbesiyê (Senyurt), Dêrika Çiyayê Mazî (Mazidagi) und Serê Keniyê.
Mit der Ausnahme des Tigris befinden sich die Quellen der Flüsse Avares (Schwarzer Fluss) und Avaspi (Weißer Fluss) innerhalb der nördlichen Grenzen von Mêrdîn. Diese beiden Flüsse vereinen sich zum Dagdagi-Wasser, der in Richtung Syrien fließt. Außerdem gibt es die Sikestun- und Avazer(Gelber Fluss)-Bäche, die bekannt wurden durch die dort stattgefundenen Kämpfe der Guerilla, deren Namen in vielen Liedern auftauchen. Viele dieser Flüsse und Bäche münden außerhalb des Gebietes von Mêrdîn in den Euphrat und Tigris. Etliche nach Süden fließende Flüsse trocknen in der Hitze des Sommers im südlichen Mêrdîn oder in Syrien aus.
Trotz der eigentlich ausreichenden Wassermengen kann die Bevölkerung diese aufgrund der bestehenden kolonialistischen Strukturen nicht im benötigten Maß für die Bewässerung und Energiegewinnung nutzen. Auch das GAP-Projekt [geplantes und teilweise verwirklichtes riesiges staatliches System von Staudämmen in Kurdistan] konnte in dieser Sache bisher nicht viel bewegen.
Aus archäologischer Sicht hat die Provinz Mêrdîn eine große unverzichtbare Bedeutung. Die archäologische Erforschung dieser Gegend könnte die Geschichtsforschung einen riesigen Schritt voranbringen. Denn Mêrdîn liegt in einem strategisch und historisch wichtigen Gebiet. In Tell Girnewas bei Nisêbîn entdeckte vor vielen Jahren eine deutsch-türkische Forschergruppe bedeutsame Funde, die sie allerdings wegen tätlicher Angriffe von Unbekannten nicht ausgraben konnte.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur

Das Gebiet von Mêrdîn besaß bis zu den Jahren 1940-50 eine in jeder Hinsicht geschlossene, sich selbst genügende feudalistische Wirtschaftsstruktur. Obwohl der größte Teil des Gebietes zur landwirtschaftlichen Nutzung geeignet ist, blieb unter diesen ökonomischen Bedingungen (kapitalistische Produktionsmittel waren noch nicht in die Landwirtschaft eingeführt) ein Großteil dieser Flächen ungenutzt und diente als Weiden. Nur ein sehr begrenzter Teil des Landes, hauptsächlich in der Nähe von Gewässern, wurde bearbeitet. In diesen Zeiten wurde nur eine begrenzte Produktion erreicht. Das Volk versuchte, seinen Lebensunterhalt durch Viehzucht, Wein- und Obstanbau zu sichern. Der Grenzhandel, der als Schmuggelhandel dargestellt wird, stellt eine weitere wichtige Quelle für den Lebensunterhalt dar.
Die enge, geschlossene Wirtschaftsstruktur der Vergangenheit prägte auch die soziale Struktur. Der größte Teil der Bevölkerung hatte sich in den Bergregionen angesiedelt. Die gesellschaftliche Struktur stützte sich auf die Stämme und Stammeskonföderationen. Weil diese rückständigen stammesmäßig-feudalen Strukturen eine herrschende Rolle in der Gesellschaft spielten, wurde dadurch die Kontrolle und Herrschaft der stammesmäßig-feudalen herrschenden Schichten über die Gesellschaft gefestigt. Fast die gesamte Bevölkerung bestand aus Bauern.
Die existierenden Städte ähnelten eher Dörfern. Das nur in begrenzter Form bestehende Handwerk und der Handel befanden sich in den Händen der arabischen und christlichen Minderheiten. Ab 1950 entwickelte sich der kolonialistische Kapitalismus auch im Gebiet von Mêrdîn. Um die unter- und überirdischen Bodenschätze besser ausbeuten zu können, bauten die Kolonialisten eine entsprechende Infrastruktur auf, durch die auch die kleinen Städte durch ein Straßennetz miteinander verbunden wurden. Um den Grenzhandel zu verhindern, begann die türkische Republik, die Grenze zu Syrien zu verminen. Sie stationierte außerdem einen beträchtlichen Teil ihrer Armee an der Grenze.
Der kapitalistische türkische Kolonialismus bereitete in den 60er Jahren mit der Entwicklung des Straßennetzes und der Schließung der Grenze im Süden den Markt von Kurdistan für den Absatz seiner Waren vor. Mit dem Einsatz neuer Produktionsmittel wie Traktoren, Mähdrescher usw. in der Landwirtschaft veränderte sich die sozio-ökonomische Struktur des Gebietes.
Da der größte Teil des Gebietes aus fruchtbarem Land besteht, konnte durch die Bearbeitung dieser Böden mit modernen Produktionsmitteln die Getreideproduktion gewaltig gesteigert werden. Der Bau von Staudämmen, Teichen und artesischen Brunnen durch die türkischen Kolonialisten ermöglichte die Bewässerung der Ebenen, in denen Nisêbîn, Qoser und Dêrika Çiyayê Mazî liegen. In den letzten Jahren wurde auf diesen Böden verstärkt Baumwolle angepflanzt. Nach der Ebene von Çukurova ist es die Gegend mit der höchsten Baumwollproduktion. Weiterhin wurde verstärkt der Anbau von Getreide, Linden, Tabak (Xurs-Tabak, ein bekannter Tabak aus Mêrdîn), Oliven und Wein vorangetrieben, ebenso der Gemüseanbau.
Der Großteil dieser bewässerten Ländereien gehörte dem kolonialistischen Staat und der feudalen Kompradoren-Schicht, der übrig bleibende Teil befand sich im Besitz der Mittelbauern.
Neben der Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und der Viehzucht hat der türkische Kolonialismus an verschiedenen Stellen des Gebietes von Mêrdîn Bergwerke aufgebaut, um die unterirdischen Mineralien unter Ausnutzung der billigen Arbeitskräfte abzubauen. In Nisêbîn wurden die staatliche monopolistische Tabakverarbeitungsfabrik (Tekel) sowie eine Raffinerie gebaut. In Mêrdîn gibt es Zement-, Kalk-, Futter- und Plastikfabriken. In Semreq existiert eine Phosphatverarbeitungs- und eine Milchfabrik. Alle diese Betriebe, errichtet vom türkischen Staat, beruhen auf der Ausplünderung der über- und unterirdischen Rohstoffe.
Das Gebiet Mêrdîn ist reich an Bodenschätzen. Aber es ist der türkische Staat, der die Phosphatvorkommen in Semreq und die Erdölvorkommen in Nisêbîn (noch in geringen Mengen) ausbeutet, und der weitere Forschungen betreibt, um weitere Bodenschätze perspektivisch abbauen zu können.

Innen- und Außenhandel werden vom türkischen Staat kontrolliert

Im Zusammenhang mit der Entwicklung im ökonomischen Bereich traten auch im sozialen Bereich Veränderungen ein. Die Einführung von Maschinen in der Landwirtschaft und die Entwicklung der Bewässerung in den Ebenen hatte zur Folge, dass die Mehrzahl der feudalen Stammesführer in die Städte zog und sich zu Kompradoren entwickelten. Ihre bisherige, auf der geschlossenen Gesellschaftsstruktur beruhende absolute Kontrolle wurde dadurch geschwächt. Auf der anderen Seite entwickelte sich ein Teil der Mittelbauern zu reichen Bauern. Der andere Teil verarmte und verließ ähnlich wie die armen Bauern das Land und flüchtete in die Zentren der Städte und Metropolen. Mit diesem Zustrom wuchs die Zahl der Bevölkerung in den Städten an, in der noch mehr kolonialistische Verwaltungseinrichtungen angesiedelt wurden. Dies führte zu einer immer deutlicheren sozialen Formierung.
In den Städten und Provinzstädten entstand neben den Verwaltungsangestellten der kolonialistischen Einrichtungen und den Kompradoren eine dem Kolonialismus dienende Schicht von Kleinhändlern und Handwerkern, aber auch eine SchülerInnen- und StudentInnenschaft, die sich in den kolonialistischen Erziehungseinrichtungen konzentrierte.

Bevölkerungsverteilung und Ansiedlungsgebiete in Mêrdîn

Vor den 60er Jahren konzentrierte sich die Bevölkerung in dem Gebiet von Mêrdîn mehr in den ländlichen Bereichen aufgrund der geschlossenen feudalen Ökonomie.
Bis zu dieser Zeit unterschieden sich die Stadtbereiche nicht von Dörfern. Aber ab den 60er Jahren erfuhren die vorhandenen Ansiedlungsgebiete und die Bevölkerungsdichte eine Umwandlung durch die Verbreitung des türkischen Kapitalismus in Kurdistan.
Nach den Verbreitungsjahren des Kapitalismus in Kurdistan, und durch die Loslösung eines großen Teils der Bevölkerung vom Dorf, entstand eine künstliche Flucht in die Städte. Und so stieg die Zahl der Bevölkerung in den Provinz- und Distriktstädten.
90 % der Bevölkerung lebten zuvor auf dem Lande, davon betrieben 70 % in Berggebieten Viehzucht und nur 10 % waren in den Städten angesiedelt.
Heute ist der Bevölkerungsanteil auf dem Lande auf 75 % gesunken (die infolge der zerstörten Dörfer in die Städte geflohenen Menschen sind in dieser Zahl nicht inbegriffen). Davon betreiben 45 % Landwirtschaft und 20 % in den Bergregionen Viehzucht.

Zentrum

Die Stadt Mêrdîn: Die Stadt hat 55 000 EinwohnerInnen (vor dem Flüchtlingstrom der 90er Jahre, jetzt dürfte sich die Zahl verdoppelt haben). Das Zentrum hat die größte Bevölkerungsdichte. Es ist ein Gebiet, das seine Bedeutung seit den Sumerern in der Geschichte Mesopotamiens bewahrt hat. An der Burg, um die herum das Zentrum angesiedelt ist, befindet sich ein Luftwaffen-Radarstützpunkt der USA, um die Russländische Föderation und andere GUS-Staaten und den Persischen Golf beobachten zu können. (Im Jahre 1986 haben die PKK-Partisanen diesen Radarstützpunkt angegriffen und erheblich beschädigt.)
Die Fläche dieses Gebietes umfasst 1 016 qkm.

Distriktstädte

Dêrika Çiyayê Mazî (Mazidagi): Diese Distriktstadt besitzt eine über 600 Jahre alte Geschichte. Es ist ein Ansiedlungsgebiet, das von der Invasion der Byzantiner, Araber, Perser und der türkischen Nomadenstämme betroffen war. Die Stadt hat ca. 20 000 EinwohnerInnen.

Kercews (Gercüs): Diese Distriktstadt befindet sich in einer Mittelgebirgslandschaft. Sie wird auch die Schwelle von Mêrdîn-Mîdyat genannt. Sie grenzt im Norden an die Bezirksstädte Besiri und Kurtalan von Batman bzw. Sêrt, im Nordosten an Eruh, im Süden an Mîdyat, Mahsert, im Westen an Stewr und den Distrikt Bismil von Amed (Diyarbakir) an. Die Stadt Kercews, die keine lange Geschichte besitzt, war vorher ein Dorf von Mîdyat. Sie wurde 1926 unter dem Kolonialismus von den türkischen Kolonialisten zur Distriktstadt erklärt. Ihre EinwohnerInnenzahl mit den im Distrikt befindlichen Dörfern beträgt rund 45 000 und ihre Fläche 1 378 qkm. Es gibt 87 Dörfer und 2 Kreise, die an Kercews angebunden sind.

Qoser (Kiziltepe): Die Gründung dieser Distriktstadt geht in die Jahre v. u. Z. zurück. Die Funde von verschiedenen Ausgrabungen, die in diesem Gebiet gemacht wurden, bestätigen diese Annahme. Durch diese Ausgrabungen sind die Hasen-Hügel im Südwesten der Distriktstadt, Kefertut im Nordwesten und die Reste einer Moschee freigelegt worden. Die Stadt hat 52 000 EinwohnerInnen.

Semreq: Diese Distriktstadt war bis 1914, dem Jahr des I. Imperialistischen Aufteilungskrieges, ein Dorf. Am 23. Juni 1937 wurde es von den Kolonialisten zur Distriktstadt erklärt.

Nisêbîn (Nusaybin): Dessen Geschichte geht bis weit v. u. Z. zurück. Nach den Historikern ist diese Distriktstadt durch den König Sulgi (Sargon I.) der Sumerer im Jahre 2 270 v. u. Z. vergrößert worden. Danach nahm sie an Bedeutung zu. Die Stadt ist durch die Burgen Suma, Sercehan, Kelköcek, Ali Garzan, Sirvan, Aznavur und Hatem wie ein Kreis umzingelt, die man bauen ließ, um das Gebiet zu schützen, das in vielen Abschnitten der Geschichte der Schauplatz vieler Überfälle war. Diese Stadt hatte in ihrer Geschichte abwechselnd eine ethnisch verschieden zusammengesetzte Bevölkerung. Die Mehrheit wurde zu verschiedenen Zeiten von den Assyrern, Kurden und Juden gestellt. Bis 1910 lebten in Nisêbîn überwiegend Juden. Nach Naturkatastrophen, Kriegen und der Gründung des Staates Israel sind sie heute nicht mehr vertreten.
Die Stadt Nisêbîn ist mit ihren 63 000 EinwohnerInnen (dies 1990, heute mindestens das Doppelte) die bevölkerungsreichste Stadt in Mêrdîn.

Mîdyat: Diese Stadt hat historisch gesehen eine besonders große Bedeutung. Mit der Verbreitung der Assyrer im 3. Jh. war sie seitdem praktisch ausschließlich assyrisch. In den letzten 30 Jahren hat sich die Bevölkerungsstruktur zugunsten der sunnitischen Kurden deutlich verändert. Hier ist das Handwerkergewerbe nach wie vor verbreitet. Hier wird Silber, daneben auch Gold verarbeitet. In Anatolien und Mesopotamien ist es heutzutage der entwickelteste Ort der Silberverarbeitung.
Die Steinverarbeitung in Mîdyat hat auch eine lange Tradition. So ist die gesamte Stadt Mîdyat aus Steinhäusern gebaut. Diese Baukunst hat einen großen Stellenwert in der ganzen Region Mêrdîn.

Mahsert: Die Gründungszeit dieser Distriktstadt ist nicht bekannt. Nach den Funden der verschiedenen Ausgrabungen sind auch Elemente der sumerischen und assyrischen Stadtkultur in ihr zu finden.

Stewr: Diese Distriktstadt ist in ihrer Geschichte Zeugin fast aller Zivilisationen der Völker, die Mesopotamien beherrschten, geworden. Sie war auch von der Besetzung der türkischen Nomadenstämme betroffen.

Mêrdîns Platz im nationalen Befreiungskampf Kurdistans

Mêrdîn liegt an der Spitze der Gebiete, in denen der Freiheitskampf starke Unterstützung findet.
Die Stadt Mêrdîn ist in der Geschichte Kurdistans selbst Zeugin vieler Aufstände geworden. Die Bevölkerung, bei der der Patriotismus fest verwurzelt ist, hat den Kolonialismus nicht akzeptiert. Sie hat die künstlichen Grenzen, die die Kolonialisten gezogen haben, nie anerkannt und bei jeder Gelegenheit mit ihren Landsleuten im Süden Kurdistans Beziehungen entwickelt. Die Menschen haben durch Stacheldraht und Minen an der Grenze die Qualen des Kolonialismus hautnah erlebt.
So lindert der Freiheitskampf, der sich in dem Gebiet entwickelt, auch in dieser Hinsicht die Leiden unseres Volkes und eröffnet ihm den Weg in die Freiheit. Eines der Gebiete, in denen sich der nationale Befreiungsgedanke zuerst verankerte, ist Mêrdîn.
Die Freiheitsbewegung hatte schon in ihrem Gruppenstadium [vor 1978] sowohl unter den Intellektuellen als auch bei der Menge der armen Landbevölkerung von Mêrdîn eine breite Basis gefunden. Die unter der Leitung der Genossen Mazlum Dogan, M. Hayri Durmus, Ferhat Kurtay und später von Ahmet Kurt geführten Arbeiten haben die feudalbürgerlichen, kleinbürgerlichen, nationalistischen Einflüsse der Jugend in bedeutendem Maße zurückgedrängt. Dadurch wurde die Jugend immer stärker für den Freiheitskampf gewonnen. In den Jahren 1978 und 1979 erfasste die revolutionäre Bewegung die Mehrheit der Bauern und wurde so zur Massenbewegung. Die in dieser Zeit erlebten Entwicklungen im ganzen Land erreichten auch in Mêrdîn eine große Dimension. Gegenüber diesen Entwicklungen brachten die Kolonialisten ihre militärischen Kräfte und ihre Agenten der Feudalklasse mit ins Spiel.
In den Jahren von 1979 bis 1980 haben durch die Angriffe der Kolonialisten, Feudalen und der Provokationsorganisation KUK [Kurdistan Ulusal Kurtuluscilari – Nationale Befreier Kurdistans] an die 40 RevolutionärInnen und PatriotInnen den Tod gefunden. Die ausgebeuteten patriotischen Bauern von Mêrdîn schlossen sich durch diese Angriffe noch enger an die Partei der PKK an.
Nachdem am 12. September 1980 das Militär in der Türkei geputscht hatte, wurden von den Kolonialisten massenhaft Verhaftungen durchgeführt, die Menschen wurden gefoltert und täglich stieg die Zahl der Ermordeten. Aber trotz allem war die Bevölkerung von Mêrdîn durch die verheerenden Angriffe, den Verrat, die Resignationswelle der plötzlich verschwundenen kleinbürgerlichen Organisationen nicht eingeschüchtert. Für die kolonialistische Barbarei war der Widerstand von Gap am 25. September 1980 und Bloka am 29. Oktober 1980 ein heftiger Schlag ins Gesicht.
Trotz der Resignation, Unentschlossenheit und der starken Unterdrückung in den Jahren zwischen 1980 und 1982, einem Abschnitt, in dem die revolutionäre Kraft etwas nachließ, existierte die PKK in den Gebieten von Mêrdîn weiter. Aber der Widerstand der Kader und des patriotischen Volkes konnte damit nicht beendet werden. Ferhat Kurtay hat in den Kerkern von Diyarbakir durch seinen Widerstand ein besonderes Signal gesetzt.
Das Bewusstsein der patriotischen RevolutionärInnen der PKK vereinte sich bei dem Widerstand unserer GenossInnen mit dem internationalistischen Kern. Die Kraft, die von der Proklamation des bewaffneten Kampfes am 15. August 1984 in Eruh ausging, beeinflusste die Bevölkerung von Mêrdîn besonders. Die Kolonialisten, erschreckt von der Stärke des bewaffneten Widerstandes, zogen in bestimmten Provinzstädten militärische Einheiten zusammen, um die Aktionen der Führungseinheiten zu verhindern und die Weiterentwicklung der Freiheitsbewegung aufzuhalten.
Die Bauernschaft von Mêrdîn, die ein tiefes patriotisches Bewusstsein hat, blieb unter der Wirkung des 15. August 1984 und schloss sich massenhaft der Freiheitsbewegung an.
Durch die Einführung des Reuegesetzes und des Dorfschützergesetzes 1985 versuchten die Kolonialisten, insbesondere in Mêrdîn, einen neuen Elan des nationalen Befreiungskampfes zu verhindern. Das Dorfschützersystem breitete sich in den folgenden Jahren vor allem in Mîdyat, aber auch etwas in den Dörfern nahe bei Mêrdîn aus.
Die Freiheitsbewegung, die im Jahre 1987 wichtige politische Entwicklungen durchlief, verzeichnete in diesem Jahr auch in dem Gebiet von Mêrdîn bedeutende Fortschritte.
Mêrdîn besitzt aus der Sicht des Freiheitskampfes eine wichtige Stellung und erlangte mit den Entwicklungen der Jahre 1987-88 relativ früh gegenüber anderen Regionen Nord-Kurdistans sichere Positionen.
Die ersten Volksaufstände (Serhildans) im kurdischen Befreiungskampf fanden im Frühjahr 1990 in Nisêbîn statt, als sieben durch Giftgasangriffe in Savur ermordete Guerillas hier begraben werden sollten. Dies weitete sich in den gleichen Tagen und Wochen auf Cizîra Botan aus. Diese Entwicklung erreichte 1992 ihren Höhepunkt, als die Auseinandersetzungen auch in die Städte getragen wurden. In Nisêbîn war Anfang der neunziger Jahre die Situation so, dass sich die Polizei in gewisse Viertel nachts und teilweise auch tagsüber nicht mehr hineintraute. Die staatliche Kontrolle war hier praktisch überhaupt nicht mehr existent. Die Guerilla konnte in den Bergen und auf dem Land weite Gebiete kontrollieren. Die Volksaufstände erreichten auch hier 1991/92 einen Höhepunkt. Beim volksaufstandähnlichen Newroz 1992 wurden vor allem in Nisêbîn Hunderte Menschen vom Staat ermordet.
Die Lage begann sich zu ändern, als ab 1992 der türkische Staat in ganz Nordkurdistan zu einem intensiven Spezialkrieg nach dem Vorbild der USA in Vietnam überging. Mit noch mehr Soldaten, Polizei, Dorfschützern, Spezialeinheiten und Technik in Mêrdîn versuchte der Staat, die Kontrolle an sich zu reißen, was ihm vor allem in den Städten gelang. Mit großer Brutalität, massenhaften Verhaftungen und Folter, Militäroperationen, Dorfzerstörungen und Massakern wurde der Bevölkerung viel Leid angetan. Die Dörfer leerten sich zur Hälfte. Infolgedessen sank die offene Sympathie zur Guerilla. Der Staatsterror nahm bis zur relativ entspannten Situation durch den einseitigen Waffenstillstand der PKK nach 1998 bisher ungeahnte Dimensionen an.