Kontrollgesellschaft online!

Online ist das Zauberwort der 90er Jahre. Kaum eine Technologie hat ohne daß wir es noch recht merken unseren Alltag so verändert wie die neuen HighTech Kommunikationsmittel. Regionale, landesweite und intemationale Netzwerke tauschen in Sekunden Daten aus und machen so das Leben leichter, aber auch gefährlicher. Das gilt fiir intemationale Fahndungs- und Kontrollsysteme wie das »Schengen Informationssystem« (SIS) und Europol, aber auch für inlandische Dienstleistungs-, Verwaltungs- und Polizeinetzwerke.

Die neuen Kommunikationstechniken verbinden Menschen über Grenzen und Kontinente hinweg, aber sie grenzt auch aus, und sie eröffnet Möglichkeiten der Kontrolle, wie sie bis dato noch unvorstellbar waren. Wo immer wir uns in der Welt der elektronischen Kommunikation bewegen, hinterlassen wir unsere Spuren. Auf diese Schattenseiten der Informationsgesellschaft weist der Schweizer Publizist und Jurist Beat Leuthardt in seinem Buch: »Leben online« hin. Er redet dabei keineswegs einer grundsätzlichen Technikfeindlichkeit das Wort, sondern setzt sich für einen kritischen Umgang mit den neuen Möglichkeiten ein.

Wenn wir ein kaufhaus oder einen Supermarkt betreten, sind Videokameras auf uns gerichtet, schließlich sind wir ja eine potentielle Diebin bzw. Dieb. Natürlich iüberwachen die Kameras auch das Personal. Aber daran haben wir uns wohl schon gewöhnt. Ständig werden unsere Daten gesammelt, oft ohne daß wir davon wissen. Dies muß nicht aus Gründen der Überwachung geschehen. Doch die Übergänge sind fließend. Etwa bei der Autobahnmaut, die ökologisch gesehen ja durchaus sinnvoll erscheint. Aber was ist mit dem Datenschutz?

Die Autobahnmaut gibt es in Österreich seit Anfang dieses Jahr. Fürs erste wurde die in Bezug auf Datenschutz unbedenkliche Vignettenlösung gewählt. Doch die Rufe nach einem elektronischen Road Pricinp werden immer lauter. Dies bedeutet: Im dichten Verkehrsfluß muß jedes einzelne Motorfahrzeug individuell erfaßt und seiner Große nach unterschiedlich taxiert werden können. Das Fahrzeug muß im Kontrollbereich der Autobahn identifizierbar sein, die bei der Vorbeifahrt er-faßten Autodaten müssen zur Gebührenberechnung geeignet sein, die Gebühren müssen in einer Online Verbindung zwischen ortsfestem Erfassungsgerät und Fahrzeug sofort abbuchbar sein, und eine zusätzliche Kontrolle muß der Beweissicherung im Streitfall dienen können. Niemand, der ein Bewegungsprofil der Autobahnbenützerlnnen zeichnen wollte, würde bessere Voraussetzungen fiir sein Vorhaben finden. Ein gefundenes Fressen fur Rasterfahnder.

Aber auch fürdie Benutzrlnnen van Öffis hält die High-Tech Branche etwas bereit: In Deutschland läuft ein Versuch, Fahrscheine durch Chipkarten zu ersetzen. Beim Ein-und Ausgehe checkt sich Mensch ein bzw. aus. Am Monatsende wird dann der günstigste Tarif, höchstens aber die Kosten einer Monatskarte verrechnet. Dies erscheint einerseits durchaus kundinnenfreundlich, aber auch hier entstehen wieder präzise Bewegungsprofile.

Wer beispielsweise im Intemet surft, dies gilt natiirlich auch fiir andere Datennetzwerke, erhält nicht nur Informationen, sondern gibt auch selbst einiges preis. Meist ohne sich dessen bewußt zu sein. So können Anbieter z.B. feststellen, wer sich auf welcher Seite wie lange aufgehalten und ob er oder sie diese kopiert hat. Untemehmen haben damit begonnen, Datensammlungen über Personen anzulegen, die sich ins Internet einklinken. 30 bis 40 Millionen Datensätze sollen weltweit beteits gespeichert sein, ohne daß die Nutzerlnnen davon wissen. Zahlreiche Server lassen die Intemetnutzerlnnen auf einem elek1ronischen Formular die Personalien eingeben Name, Alter, Geschlecht, Beruf. Von da an wird, was der Kunde oder die Kundin kaum je weiß, jeder weitere Schritt im Internet minutios aufgezeichnet. In kurzer Zeit entstehen so Persönlichkeitsprofile, die kaum umfassender sein könnten.

Überwachung am Arbeitsplatz

In der Arbeitswelt wird so ziemlich alles angewendet, was die High-Tech-Branche an Kontrollmöglichkeiten zu bieten hat: Von den allseits bekanntcn Videokameras iiber allerlei Online-Überwachung bis zu Chipharten. Wer an einem vemetzten Computer arbeitet, muß jederzeit damit rechnen, daß der Chef nicht nur in seinen Dateien stöbert, sondern, auch genau kontrollieren kann wie lange er oder sie fur eine bestimmte Arbeit benötigt hat. Dies kann vom Chefsessel aus, von zu Hause oder auch über einige Tausend Kilometer hinweg geschehen. Österreichische Gewerkschafter berichten, dalß Angestellte mit einer smart card, eine Art Speicherkarte, nicht nur die Wechsel von einem Arbeitsplatz innerhalb der Gebäude zum nächsten registrieren lassen müssen, sondem auch den Gang zu den Waschräumen und den WC´s. Der Arbeitgeber läßt hinterher die Zahl der persönlichen Gänge durch den Bürotrakt auswerten.

Ein neuer Typ von Überwachungsstaat entsteht

Was den Einsatz van Hightech-Anwendungen und online Systemen betrifft, sind die westlichen Behörden den privaten Anwendern um Nasenlängen voraus. Schon ein Jahrzehnt vor Intemet begannen sie, online verbundene Datennetzverke aufzubauen. Die Multis der Informatik-und Kommunikalionsbranche haben in den Staatschutzbehörden sowie Justiz-, Innen- und Sozialministerien inzwischen schon die dritte Generation intelligenter Großcomputer installiert. Siemens-Nixdorf und Bull hahen den europäischen Polizeiverbund Schengen zum 26. März 1995 eingerichtet, was getrost als das größte Überwachungssystem Europas bezeichnet werden kann, der Multi DEC baute der Schweizer Bundespolizei den modernsten Staatschutzcomputer, und dank Toshiba sollen deutsche Polizeidienste von jedem Einsatzort aus Fahndungen abrufen und Papiere zur Zentrale übermitteln können.

Deutschland exportiert erfolgeich

Treibende Kraft dessen, was in ganz Europa an neuer Technik im polizeilichen Sicherheitsbereich forciert wird, sind seit Jahren das deutsche Innen- und Außenministerium. Von dort wurden Konzepte in andere westliche Staaten vermittelt, während „allgemeine Ausstattungshilfe“ für Polizeien gezielt an Staaten Mittelost- und Osteuropas geliefert wurden. Während zum Beispiel Großbritannien sein Informationssystem PNC (Police National Computer, Nationaler Polizeicomputer) bei Siemens-Nixdorf selber kaufen mußte, konnte Ungarn etwa für ähnliche Systeme auf Bonner Finanzhilfe zählen. Die Schweiz und Österreich orientierten sich im Polizeibereich ohnehin schon sehr stark an ihrem „großen Bruder“ und machten ohne Druck aus Bonn frühzeitig Anstalten, bei den Technologiesprüngen mitzuhalten.

Schon Ende der 80er richteten die Schweiz und Österreich ihre Fahndungsysteme, obwohl beide nicht Mitglied der damaligen EG waren, gezielt auf das von Bonn gepuschte Schengen. Informationssystem und andere neue Systeme aus. Dies erlaubte es regierungsnahen österreichischen Kreisen, noch vor der entscheidenden Abstimmung über den Beitritt zur EU eilfärtig zu betonen, daß man für die Prestige „Gruppe Schengen“ der Innen- und Justizminister, die polizeiliche „Pressure-group“ innerhalb der EU, gerüstet sei.

Unter ständigem Verdacht

Nicht nur an den EU-Außengrenzen wird zunehmend hemmungsloser kontrolliert. Bei den neuen europäischen Sicherheitssystemen – wie auch im jeweiligen nationalen Bereich ist offenkundig, daß der Charakter der Kontrolle über den eines reinen Fahndungscomputes hinausgeht. Exemplarisch gilt dafür das Schengener InInformationssystem. Das SIS soll den Wegfal1 der Grenzkontrollen für Personen kompensieren. Doch gerade hier besteht die Gefahr einer kollektiven Verdauung und ihrer Folgen, die dank Online-Verbindung und Großrechnem üher das eigentliche Ziel der Kriminalitätsbekämpfung hinausgeht. Verglichen mit den bisherigen nationalen Polizei Inforniationssystemen werden im SIS viel größere Datenmengen innerhalb Europas gesammelt und unter erleichterten Vorgaben in andere Staaten transferiert. Die Gefahr, daß Persönlichkeitsbilder von Unschuldigen und Unverdächtigen gezeichnet werden, ist wohl bei keinem anderen der derzeit in Betrieb befindlichen Systeme größer.

Anfang Mai 1995 waren 2,5 Millionen Datensätze im SIS-Computer eingelesen, sieben bis acht Millionen soll die (vorläufige) Gesamtkapazität des SIS ausmachen. Diese Millionen von Datenpaketen dürften – genaue Zah- len sind nicht zugänglich – ein Vielfaches der Zahl aller wegen schwerer Delikte dringend Tatverdächtigen in granz Europa ausmachen. Dies überrascht nicht, denn der Fahndungsraster des SIS wird engmaschiger ge- knüpft als bestehende INTERPOL-Dateien und auch eng- maschiger als die bekannten nationalen Kriminalcompu- ter. Eingespeist werden im Schengen-Informationssy- stem nur in den wenigsten Fällen Personendaten von dringend Tatverdächtigen. Viele Daten sollen „Personen mit Vorgängen“ betreffen, also Verdachtsdaten. Es genü- gen also persönliche Merkmale, die aus Polizeisicht „auf- fällig“ sind, ohne direkt auf strafürdiges Verhalten schließen zu lassen. Rechtsstaatliche Kontrollmechanis- men, die bei INTERPOL-Ausschreibungen enthalten sind, werden hier ausgeschaltet. Ermittlungen im Zusam- menhang mit politischen Delikten genügen ebenfalls als Merkmal zur Datenspeicherung im SIS. Und hierbei han- delt es sich in den seltensten Fällen um Schwerkriminali- tät Wie Heiner Busch in seinem Buch „Grenzenlose Poli- zei“ anschaulich darstellt, geht es in den allermeisten Fällen um Meinungsdelikte wie das Sprühen von Paro- len, Verteilen van Flugblättern, etc...

Daß es bei einem solchen Datenwust, bei den eben doch nicht perfekten Computersystemen, zu Fehlern und Verwechslungen mit weitreichenden Folgen kommen wird, liegt auf der Hand. Wenn wir uns dieser Gefahren nicht bewußt werden, laufen wir Gefahr, auf der Datenau- tobahn überrollt zu werden.

T. Baum

aus: akin – aktuele Informationen

Beat Leuthardt: Leben online, Von der Chipkarte bis zum Europol-Netz: Der Mensch unter ständigem Verdacht. rororo Aktuell, Reinbek bei Hamburg 1996


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