Rechtsstaatlichkeit siegt - Beschuldigung bleibt

einige Gedanken zum Freispruch in Lübeck

"Unabhängig davon, oh Safwan Eid freigelassen wird, hat der ideologische Schub in Richtung, Schluß mit dem abrutschen Schuldkomplex" seine Wirkung getan. Die erwünschten Folgen sind eingetreten. Insofern ist der Fall Lübeck im Großen und Ganzen abgeschlossen. Die Konsequenzen, die das "Volk" gezogen hat: Nie wieder Selbstbezichtigung nie wieder Nazi-Vorwurf, "nur" weil "Ausländer" brennen. Deutschland hat genug von seinen Opfern." (zit. aus "Mörderland Deuschland" antinationales Büro)

Mit dem Freispruch endete in Lübeck ein Prozeß, der für sich genommen den Vergleich mit anderen politischen Prozessen nie zu scheuen brauchte. Allerdings ging es in Lübeck nicht gegen Staatsfeinde" links-radikaler Provenienz, die kriminalisiert wurden, sondern gegen Flüchtlinge und Migrantlnnen, die ihrerseitts Opfer eines Brandanschlags gewesen waren. Dennoch gilt es retroperspektiv festzustellen, daß das Interesse linker, antirassisascher und antinationaler Initiativen erschreckend dürftig ausfiel. Neben der Tatsache, daß auch viele Linke dem rassistischen Konstrukt aufsaßen, mag ein anderer Grund hierfür die Überzeugung gewesen sein, der Fall Lübeck" sei bereits nach einigen Wochen politisch abgeschlossen und "verloren" gewesen. Dies mag von einer analytischen Warte aus betrachtet sich so dargestellt haben, es wurde jedoch völlig ausgeblendet, daß für die Opfer des Anschlages "der Fall" keineswegs beendet war, sahen sie sich doch in ckr Folgezeit noch verstärkt rassisaschen Anwürfen und der Gefahr einer drohenden Abschiebung ausgenutzt. Zum Andren wurde das Bild eines bereits vollständig abgeschlossenen Formierungsprozesses gezeichnet Dabei wurde nicht wahrgenommen, daß (nach wie vor) in den herrschenden rassistischen und nationalistischen Konstruktionen Widersprüche bestehen, die, (zugegebenermaßen kleine) Ansatzpunkte für Interventionen hätten bieten können. So richtig also die Einschätzung im Eingangszitat bereits im Februar 1996 war, so bedarf sie nach dem Freispruch Safwan Eids am 30. Juni, nach 61 Verhandlungstagen, doch noch einiger Ergänzungen, denn es ist nicht in Lage zu beschreiben. was sich insbesondere mit Beginn der Hauptverhandlung am l6. September l996 an weiteren Entwicklungen vollzogen hat. Wenn auch der im Eingangszitat erwähnte ideologische Schub" seine Wirkung freilich getan hat, so waren Staatsanwaltschaft. und Medien damit beschädigt (und sind es immer noch), das Konstrukt durch frei erfundene und erlogene Anschuldigungen der Hausbewohnerlnnen abzusichern und die vorhandenen Widersprüche zu verdrängen. Auch wurde verkannt, daß die Hausbewohnerlnnen zwar bereits in der Anfangsphase als "Täterlnnenkollektiv" dargestellt wurden und sich bereits am l 9. Januar stundenlangen, qualvollen Vernehmung gegen sie durch die Eröffnung und insbesondere in der Hauptverhandlung potenziert wurde. Vieles von dem, was im folgenden noch einmal erwähnt werden soll, dürfte den meisten bereits bekannt sein. Zumindest werden diejenigen enttäuscht werden, die etwas gänzlich .,Neues" oder "die Sensation" erwarten. Vielmehr geht es darum, nochmals einige Sachen ins Gedächtnis zu rufen und einmal mehr auf die Bedeutung, die das "Modell Lübeck" für die weitere Verschärfung des rassistischen Klimas hat bzw. haben wird, hinzuweisen.

Die Beschuldigung bleibt

Der am 30. Juni verkündete Freispruch kam alles andere als überraschend. Sogar das Gericht war in einer Zwischenbilanz im April zu dem Ergebnis gekommen, daß selbst, wenn in Zweifelsfällen die für Safwan Eid ungünstigere Variante herangezogen werden würde, die Beweisaufnahme nichts belastendes ergeben hat. Doch, und auch das war bereits frühzeitig klar, um eine Verurteilung Safwan Eids ging es in diesem Procedere auch gar nicht. Zu offenkundig war, daß sich das staatliche Konstrukt nicht halten lassen würde und daß eine Verurteilung auch nicht nötig ist, um die Hausbewohnerlnnen zu stigmatisieren.

Bereits vor der Hauptverhandlung hatte Staatsanwalt Michael Böckenhauer darauf hingewiesen: Ein Freispruch stelle für ihn keine Niederlage dar. Denn mit der Eröffnung einer Hauptverhandlung war ein weiteres Ziel erreicht, die Anschuldigung Safwan Eids und weiterer Hausbewohnerlnnen aufrecht halten zu können und die Grevesmühlener Nazis, gegen die sich seinerzeit neuerlich Hinweise ergeben hatten, weiterhin zu schützen. So wurde mit dem Prozeß die bereits mit der Verhaftung Eids am 20. Januar eingeschlagene Linie, haltlose fortgesetzt Immerfort mit Dreck zu schmeißen in der Gewißheit, das etwas hängen bliebt. Waren doch die Pressevertreterlnnen zu begierig darauf, neue Spekulationen zu vermelden, die ihren eigenen rassistischen Vorstellungen und denen der Leserlnnenschaft entsprechen. Insbesondere die Hausbewohnerlnnen, die nicht bereit waren, das Konstrukt der Staatsanwaltschaft mit ihren Aussagen zu unterstützen, bzw. die ihrerseits das Vorgehen der Staatsanwaltschaft angriffen, sahen sich immer wieder Verdächtigungen der Staatsanwaltschaft ausgesetn. Dies ist nicht ailein mit dem Ziel zu erklären, die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen, die mit Vehemenz die Version der Staatsanwaltschaft bestritten, das Feuer sei im l. Ober-geschoß ausgebrochen, zu erschüttern. Ein zweites, dem Verfahren immanentes Motiv war es, in der Öffentlichkeit den Verdacht zu streuen und zu verstärken, unter den Hausbewohnerlnnen seien chr oder die angeblichen Mittäterlnnen zu finden. Dabei wurde jedes nicht sofort verständige Detail, bzw. jedes Detail, was die Staatsanwälte nicht sofort verstehen wollten zum Verdachtsmoment und zum möglichen Tatmoav erklärt. Weit davon entfernt, sich mit unterschiedlichen Lebenssituationen vertraut zu machen, wurde gesucht nach dem aus der deutschen Sicht Untypischen, nach Abwei-chendem. Quintessenz: Die Abweichung von der deutschen Norm kann und soll nicht geduldet werden, sie macht der (Hit-)Täterschaft verdächtig. Schließlich, so wurde suggeriert, ist "den Ausländern" alles zuzutrauen, auch sich das eigene Haus anzuzünden. Das man es keiner/keinem von ihnen, auch nicht Safwan Eid, nachweisen konnte sei, so die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer, letztendlich der Rechtsstaatlichkeit geschuldet. Das Gericht habe mit der Ablehnung von illegalen Abhörprotokollen aus der Untersuchungshaft Safwan Eids die Möglichkeit einer Verurteilung verbaue Aber, so Staatsanwalt Böckenhauer in der taz: "Lieber bleibt ein Schuldiger frei, als einen Unschuldigen zu verurteilen". So bestätigt sich die "Rechtsstaatlichkeit" nach 61 Verhandlungstagen eines rassistischen Prozesses selbst. Der Rechtsstaat hat gesiegt, die Beschuldigung der Opfer, insbesondere Safwan Eids, bleibt aufrechterhalten.

Staatlicher Täterschutz

Das Ermittlungskonstrukt: dem das Verfahren bzw.. der Prozeß zu Grunde lag, diente von Anfang an dem Ziel, zu verhindern, daß 1Stutsche als Täter trotz erdrückender Hinweise zur Verantwortung gezogen werden könnten: Ob nun die frischen Sengspruren an den Haaren, (die Haarproben sind inzwischen sicherheitshalber "verloren" gegangen) und den hierfür abgegebenen "Erklärungen", bei denen einem das Lachen im halse stecken bleibt, oder de selbstbewußte Aussage eines Grevesmühleners (Maik Wotenow), nachdem er in Güstrow bei einem Ladendiebstahl erwischt, wurde, die Polizei könne ihm gar nichts, schließlich sei er ja auch bei dem Brandanschlag auf das Lübecker Asylbewerberheim dabeigewesen: Im Fall Lübeck noch von Vertuschung zu reden ist fast schon absurd, meint das Wort doch, daß es etwas zu verheimlichen gibt Die Tatsachen, die für einen rassistischen Brandanschlag sprechen sind ebenso offenkundig wie die die Tatsache, daß das Verfahren gegen Safwan Eid, der Erlaß von Haftbefehlen zur Begründung einer sechsmonatigen Untersuchungshaft und die Eröffnung einer Hauptverhandlung auf haltlosen zusammenphantasietrten und erlogenen Behauptungen beruhte. Ein gesellschaftlicher Konsens forderte im Januar letzten Jahres, daß deutsche Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Zu den Noaven und Hintergründen ist an anderer Stelle bereits genug gesagt worden. Doch stellt dies nur die strukturelle Ebene dar, in dem das "Modell Lübeck" - die Opfer-Täter-Verkehrung - statt finden konnte und die Ziele, die damit verfolgt wurden. Zu fragen ist daneben auch nach den Entscheidungsträgern, die diesem kollektiven Wunsch Ausdruck verliehen und konkrete Taten folgen ließen. Dabei geht es nicht um die Entlastung der schweigenden bzw. zustimmenden Mehrheit durch Focussierung auf ein oder zwei rassistische, gar schlampige" Staatsanwälte, die dann als Sündenböcke suspendiert werden, um den Ruf des Justizapparates wieder herzustellen. Aber wenn es stimmt, daß die staatliche Vertuschung rassistischer Morde auch der Legitimierung zukünftiger Gewalttaten dient, dann müssen neben den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ein chrarti-ges Verhalten ermöglichen und fordern auch die hierfür verantwortlichen Handlungsträger aufgezeigt und angegriffen werden. Wer, wann, wo alles die politischen Entscheidungen getroffen har. liegt nach wie vor im Dunklen. Lediglich aus der FAZ, der wohl ein guter Draht zu staatlichen Stellen nachzusagen ist, ließ sich Ende März entnehmen, daß die schnelle Entlassung der tatverdächtigen Jugendlichen (auch) auf Drängen des damaligen Generalstaatsanwalts Heribert Ostendorf zustande kam.

Drohende Abschiebungen

Nachdem die ehemaligen Bewohnerlnnen der Unterkunft in der Hafenstraße als Projektionsfläche für Rassismen von Staatsanwaltschaft und der Medien ausgedient haben, will der deutschen Staat sich ihrer nun endedigen. Ihre "Duldungen" waren stets mit dem Prozeß verknüpft und werden in der nächsten Zeit auslaufen. Zwar hatte Lübecks Bürgermeister Bouceiller (SPD) nach dem Brand zugesichert, alle Opfer des Brandanschlages würden ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten, doch hat er bisher keinerlei Anstalten gemacht, die Zusage in die Praxis umzusetzen. Im Gegenteil: Obwohl er letztendlich auch als Leiter der Ausländerbehörde der Stadt Lübeck fungiert, sieht er sich für die Erteilung von Aufenthaltsrechten nicht (mehr) zuständig und verweist auf den Innenminister Schleswig-Holsteins, Ekkehard Wienholu. Doch auch die (rot-grüne) Landesregierung schiebt die Verantwortung von sich. Zwar sprach sich der Landtag für ein Bleiberecht der Opfer des Brandanschlages aus, es wurde aber gleichzeitig konstatiert, dieses könne nur von Bundesinnenminister Kanther erteilt werden. Bei Manfred "Neben mir ist rechts kein Platz" Kanther liegt der Antrag nun auf dem Schreibtisch. Einer Kurzmeldung der taz vom 24. Juni war zu entnehmen, Kanther habe sich gegen ein Gruppenbleiberecht ausgesprochen, was jedoch niemanden wirklich überraschen wird.

Last but not least

Die Aufarbeitung des Lübecker Brandanschlages bedeutet einen weiteren qualitativen Sprung in Sachen rassistischer Gewalt, dies nicht nur weil in Lübeck 10 Menschen ermordet wurden. Zwar wurde immer wieder versucht, deutlich zu machen, daß das Vorgehen in Lübeck keinen Einzelfall darstellt. Oh in Lanbertheim, in Stuttgart oder in Hattingen: Auch dort wurde versucht nach Brandanschlägen die Opfer zu Täterlnnen zu machen und den rassistischen Hintergrund und eine deutsche Täterschaft zu negieren. im Gegensatz zu diesen Fällen rassistischer Ermittlungen aber stand Lübeck von Anfang an im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Hier wurde (und wird immer noch) in einem Zusammenspiel von Justiz, Medien und Bevölkerung öffentlich vorexerziert, daß deutsche Täter in punkto rassistischer Gewalt nichts zu befürchten haben, daß eine breite Mehrheit gegebenenfalls bereit ist, die Mörder zu schützen. Durch diesen Schulterschluß versichert sich das deutsche Kollektiv einmal mehr seiner selbst und macht deutlich, wer aus dieser Sicht die ,Anderen", die "Fremden" darstellen, die gegebenenfalls auch zur Ermordung freigegeben sind. Hiergegen gilt es mehr denn je zu opponieren.

Karlson

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