PRESSEERKLÄRUNG

Bezirksamt Reinickendorf will behinderte Frau ein Leben lang im Heim festhalten

Behinderte besetzen am Donnerstag, den 19. Juni 1997, um 14.00 Uhr das Bezirksamt Reinickendorf von Berlin. Sie wollen damit gegen einen Bescheid an Annemarie Stickel protestieren.

Sie ist 35 Jahre alt, spastisch gelähmt und braucht umfassende Assistenz. Seit ihrem 3. Lebensjahr lebt sie in der Fürst-Donnersmarck-Stiftung. Hier ist sie Einschränkungen und Entwürdigungen ausgesetzt, weil es innerhalb des Heimbetriebes nicht möglich ist, den speziellen Erfordemissen ihrer Pflege und ihren persönlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen.

So entschloß sie sich, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Bereits im September 1996 stellte sie beim Bezirksamt Reinickendorf den Antrag auf Kostenübemahme für ihre ambulante Pflege. Das Amt lehnte ab, obwohl es nach dem Bundessozialhilfegesetz und den Richtlinien der Senatsverwaltung für Soziales dem Antrag hätte stattgeben können. Sie legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Doch auch diesem wurde nicht stattgegeben.

In ihrer Widerspruchsbegründung vom 19. Februar 1997 an das Bezirksamt Reinickendorf schreibt sie:

"Aufgrund meiner Behinderung kann ich die Klingelanlage nicht bedienen und die Tür nicht öffnen. Daher muß die Tür fast immer offen sein, damit ich jemanden rufen kann, wenn ich Hilfe brauche. Ich bin dadurch ständig dem Krach und den Blicken der Menschen auf dem Flur ausgesetzt. Mir fehlt hier jegliche Intimsphäre. Nachts, wenn die Tür einmal zu ist, kommt es vor, daß mich niemand hört, wenn ich rufe...

Ich will mich dabei gar nicht über die Betreuer beschweren. Sie sind nur zu zweit und müssen außer mir noch fünf weitere schwerbehinderte Menschen betreuen. Da bleibt eben wenig Zeit für den einzelnen. Menschen. Aber ich bin nicht mehr bereit, es zu ertragen, daß ich, um ein weiteres Beispiel zu nennen, eine halbe Stunde mit Schmerzen im Liffer auf der Toilette sitzen muß, weil der Betreuer gerade jemand anderen ins Bett bringt. Das ist entwürdigend und unmenschlich."

Da sie auch unterwegs Assistenz benötigt, muß sie 14 Tage vorplanen, wenn sie Freunde besuchen oder an einer Veranstaltung teilnehmen möchte. Nur dann kann das Heim eine Unterwegsbegleitung stellen; und auch das nicht immer. Spontane Kinobesuche oder eine regelmäßige Teilnahme an Aktivitäten, wie z.B. an einem Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurs, den sie belegt, werden so fast unmöglich.

Der Bezirksstadtrat Rainer Lembcke bezeichnet diese Wohnform in der Ablehnung von Annemarie Stickels Widerspruchs als eine für sie "notwendige und optimale Betreuung mit einem relativ hohen Maß an Selbstbestimmung..."

Abschließend betont er, daß dem Amt ihr "Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in einer eigenen Wohnung absolut verständlich ist." Bittet aber um Verständnis dafür, "daß der Selbstverwirklichungsanspruch dort seine Grenzen finden muß, wo die Gemeinschaft durch unverhältnismäfäige Mehrkosten über Gebühr in Anspruch genommen würde..."

Über den Einzelfall von Annemarie Stickel hinaus ängstigt und sorgt das Vorgehen des Bezirksamtes Reinickendorf viele Menschen in Berlin, die umfangreiche Assistenz zu Hause benötigen. Zeigt es doch, dal3 Kostenerwägungen über die Würde des Menschen und die Freiheit des Einzelnen gestellt werden. Zudem wird behinderten Menschen die Fähigkeit abgesprochen, über sich selbst zu verfügen und jenseits eine,'s Heimes selbstbestimmt zu leben.

Wir fordern deshalb die sofortige Bewilligung des Antrags von Annemarie Stickel auf Übernahme der Kosten ihres Lebens außerhalb des Heims. Niemand darf aus Kostengründen zu einem Leben im Heim gezwungen werden. Behinderten darf nicht verwehrt werden, was für nichtbehinderte Menschen selbstverständlich ist: in einer eigenen Wohnung zu leben. Assistenzabhängige Menschen müssen selbst darüber verfügen können, von wem, wie, wann und wo sie die Hilfen erhalten.

Bündnis für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen

TEL 455 40 45 // FAX 456 80 63

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