Editorial
Erinnerungsarbeit
Antifa Infoblatt #79 Editorial Liebe Antifas, Freundinnen und Genossinnen, liebe LeserInnen! Den Umstand, dass sich das Gedächtnis einer Gesellschaft entlang ihrer kulturellen und mentalen Traditionen entwickelt, hatte der französische Soziologe Maurice Halbwachs in seinem Werk beschrieben, das heute als grundlegend für die Periodisierung der Erinnerung der NS-Vergangenheit gilt. Halbwachs verwies in seinem Werk auf jene Mechanismen, die kollektive Erinnerung oder kollektives Vergessen bedingen. Halbwachs’ hellsichtige Analysen waren in der Debatte um Schuld-und Erinnerungsabwehr jahrzehntelang selbst Gegenstand des Vergessens gewesen. Der im April 1945 im KZ Buchenwald ums Leben gekommene Philosoph und Sozialist war skeptisch, was das Empathievermögen der Nachgeborenen für das Schicksal seiner Leidensgenossen anging. Die Debatte um Jonathans Littells Roman »Die Wohlgesinnten« scheint dies zu bestätigen. Denn der in Deutschland zum Bestseller aufgestiegene Roman wählt die Täterperspektive, aus der betrachtet die Opfer auch literarisch zu Statisten der dargestellten Gewaltphantasien und des wahnhaften Antisemitismus verkommen. Littells Roman brachte eine erneute Debatte um die Grenzen der literarischen Darstellbarkeit des Holocausts mit sich. Der Schwerpunkt dieses Heftes widmet sich der literarischen Arbeit an der Erinnerung.
 
Zum einen ist dies eine Kritik an Littells Ästhetik der Kälte der Täter. Zum anderen eine Einführung in das Werk des österreichischen Schriftstellers Fred Wander, dessen literarischer Versuch über seine Auschwitz- und Buchenwalderfahrung zu Unrecht vergessen ist. Dass und wie Schuldabwehr alle gesellschaftlichen Sphären der unmittelbaren deutschen Nachkriegsgesellschaft durchzog, zeigt das Interview mit der Theologin Kellenbach, die in einem Sammelband die theologische Entlastung von NS- Tätern durch beide großen Kirchen erschloß.
 
Eine erfreuliche Meldung ist die Fertigstellung der zweiten Ausgabe der SchülerInnenzeitung Kein Bock auf Nazis, die vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum (Apabiz) und dem AIB produziert wird. Die Zeitung wurde in einer Auflage von 250.000 Stück gedruckt und kann gegen Portokosten beim Apabiz bestellt werden. Alle Infos und eine pdf-Version der Zeitung finden sich auf www.keinbockaufnazis.de.
 
Wir trauern um neue Opfer von Neonazigewalt in Russland und Italien. Allein im April gab es in Russland nach Angaben des russischen SOVA-Center (www.sova-center.ru) sechs Todesopfer von Übergriffen gegen Linke und MigrantInnen.
 
Im italienischen Verona wurde in der Nacht zum ersten Mai der 29jährige Nicola Tommasoli von fünf Neonazis brutal zusammengeschlagen. Nicola lag mehrere Tage im Koma, bis die Ärzte seinen Hirntod bekannt gaben. Die Täter wurden inzwischen alle gefasst oder haben sich gestellt. Einer der Täter stand bereits 2007 mit 16 anderen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung vor Gericht. Sie hatten immer wieder gewalttätige Übergriffe auf MigrantInnen, Linke und SkaterInnen verübt. Auch die vier übrigen Täter sollen zum Umfeld der Neonazi-Bande um die extrem rechten Ultrá des Fussballclubs Hellas Verona stammen.
 
Berichtigungen: In der letzten AIB Ausgabe (Nr. 78) haben sich mehrere Rechtschreibfehler eingeschlichen. Auf Seite 11 muss es richtig »Nationaldemokratischer Hochschulbund« statt »Nationaler Hochschulbund« heißen. Auf Seite 39 muss es im letzen Satz des Abschnitts »Das lange Ende« richtig heißen: »Resultat war die Umbenennung der JLO in Junge Landesgemeinschaft Ostdeutschland e.V.« Walter Sack
Wir trauern um den Antifaschisten Walter Sack. Mit dem am 29. April 2008 im Alter von 92 Jahren in Berlin verstorbenen Walter Sack hat die antifaschistische Bewegung einen wichtigen Zeitzeugen verloren. In einer jüdischen Familie aufgewachsen, prägte das sozialdemokratisch gesinnte Elternhaus den Heranwachsenden. Im Gymnasium mußte er in der letzten Reihe sitzen – auf der »Judenbank«. 15jährig wurde er Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und im Ring-Bund Deutsch-Jüdischer Jugend, wo er Herbert Baum vom Kommunistischen Jugendverband kennenlernte. In dessen jüdischer Widerstandsgruppe wirkte er bis 1939, bis zur Emigration nach Schweden mit. Versuche, die Eltern nachzuholen, mißlangen; sie wurden in Auschwitz ermordet. 1988 übernahm er die Leitung der »Arbeitsgruppe Herbert Baum« beim Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR. Seinen antifaschistischen Kampf führte er später – bis zu seinem Tod – im Rahmen der VVN-BdA fort.